Rezension Breutigam "1. e4-Repertoire"
Ziemlich groß war meine Begeisterung als ich vernahm, dass der internationale Meister Martin Breutigam in einem zweibändigen Videokurs ein Kompett-Repertoire für Weiß nach 1. e4 vorstellen würde!
IM Breutigam ist und bliebt einfach einer meiner liebsten Chessbase-Autoren! Mir gefällt seine ruhige, sachliche und dabei stets sympathisch-bodenständige Art, Wissen zu vermitteln. Wenn ich darüber nachdenke, befürchte ich, er könnte mir aufgrund dessen vermutlich sogar ein Repertoire nach 1. f3 nebst 2. Kf2 verkaufen.... aber diesen Gedanken schiebe ich lieber schnell wieder beiseite ;-)
Was sich bei einem solch ambitionierten Vorhaben wie ein roter Faden durch das 1. e4-Repertoire von Breutigam zieht, sind sorgfältig aufeinander abgestimmte, zuverlässige und zugleich giftige Varianten, die im Kern den Sinn verfolgen
- den Schwarzspieler frühzeitig vor ungewohnte Probleme zu stellen
- den zu lernenden Theorieaufwand für den Anziehenden nicht ausufern zu lassen – man erinnere sich nur an Khalifmans 14 Bände (!) zu einem 1. e4-Repertoire nach dem Vorbild Anands
Dafür war es Martin Breutigam besonders wichtig, Varianten zu empfehlen, mit denen Weiß schon recht frühzeitig die Richtung vorgibt. So ließ sich der Autor bei seiner Auswahl ebendieser Spezialsysteme von (Ex-) Weltmeistern Carlsen, Anand und anderen Top-Großmeistern inspirieren ließ. Das führte im Ergebnis zu einem spannenden Mix aus Neben- als auch Hauptvarianten, wie sich unter anderem schon dem Inhaltsverzeichnis entnehmen ließ:
Im ersten Band seiner Neuerscheinung „1.e4! - Ein modernes Repertoire“ erläutert Breutigam seine folgenden Konzepte:
gegen die Sizilianische Verteidigung fiel seine Wahl auf die Alapin-Variante 1.e4 c5 2.c3,
gegen Französisch gibt es – wie auch gegen Caro Kann - jeweils die Vorstoß-Variante 1.e4 e6 2.d4 d5 3.e5 bzw. 1.e4 c6 2.d4 d5 3.e5
und gegen den Komplex der offenen Spiele fiel die Empfehlung auf einen „Wiener-Läuferspiel-Hybriden“ 1.e4 e5 2.Lc4 ggf. nebst 3.d3 und 4.Sc3.
Der zweite Band befasst sich dann ausführlich mit Spezialkonzepten gegen alle übrigen sinnvollen Verteidigungen wie
1.e4 d5 2.exd5 Dxd5 3.Sf3 gegen Skandinavisch,
1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.Sc3 g6 4.f4 gegen Pirc, analog 1.e4 g6 2.d4 Lg7 3.Sc3 und ggf. 4.f4 gegen die moderne Verteidigung,
1.e4 g6 2.d4 Lg7 3.Sc3 c6 4.f4 d5 5.e5 gegen das Gurgenidze-System,
den Vierbauern-Angriff 1.e4 Sf6 2.e5 Sd5 3.d4 d6 4.c4 Sb6 5.f4 gegen die Aljechin-Verteidigung,
1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.Sc3 Sbd7 4.f4 gegen den „Löwen“ bzw. 3...e5 4.dxe5 gegen Philidor
sowie Konzepte gegen verschiedene seltene Eröffnungen, u.a. Nimzowitsch-Verteidigung (1...Sc6 2.d4).
Als Zielgruppe für dieses 1. e4-Repertoire kommen sowohl Spieler und Spielerinnen in Betracht, die schon immer einmal mit 1.e4 eröffnen wollten, sich aber wegen der scheinbar unvermeidlichen Theoriemassen bislang nicht getraut haben, als auch 1.e4-Fans, die ihr Repertoire auffrischen möchten.
Mir persönlich haben folgende Empfehlungen am besten gefallen, die ich auch schon in Blitz- und Schnellschach-Partien erfolgreich ausprobiert habe:
Caro Kann analog Carlsen-Firouzja 2021 mit 3. e5 Lf5 4.c4!? sowie 3. e5 c5 4.Sf3!?, womit sich tatsächlich nicht selten ein Königsangriff einleiten lässt, wenn sich der Nachziehende nicht gut auskennt. Ähnlich sieht es beim Skandinavier mit 2...Dxd5 3.Sf3!? und dem Vierbauern-Angriff gegen die Aljechin-Verteidigung nach 1.e4 Sf6 2.e5 Sd5 3.d4 d6 4.c4 Sb6 5.f4!? aus, der eine wohlverdiente Renaissance zu erleben scheint.
Aber auch Breutigams Wahl 1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.Sc3 e5, 4. dxe5!? hat durchaus einigen Biss und ist längst nicht so harmlos, wie in vielen Philidor-Monographien gern suggeriert wird. Insbesondere betrifft dies die Figurenkonstellation, die Breutigam im folgenden für den Anziehenden empfiehlt und die ich vermeintlich zuvor auch schon einmal bei Dworetzky gesehen hatte.
Insgesamt beläuft sich die Videolaufzeit beider Kurse zusammen auf fast elf (!) Stunden. Abgerundet wird dies durch die bei Chessbase zum Standard gewordenen Modellpartien, den Chessbase-Apps, interaktiven Tests und einem Tool zum Ausspielen des Repertoires bzw. kritischer Stellungen.
Fazit: Für mich das mit Abstand beste Chessbase-Eröffnungsrepertoire, das ich seit langem gesehen habe! Martin Breutigam sei Dank! Wie wäre es nun mit einem Weiß-Repertoire nach 1. d4 nebst 2. c4? ;-)