Unzusammenhängende Bemerkungen (II)
Von Dr. Robert Hübner
Der Wettkampf Anand – Kramnik
ist weiter fortgeschritten.
Die vierte Partie zeigte ein
Konsolidierungsremis, wie es für derartige Wettkampfsituationen kennzeichnend
ist. Anand war damit zufrieden, den erreichten Vorsprung festzuhalten, und legte
das Spiel ruhig an; Kramnik brauchte Erholung von der dritten Partie und zeigte
mit Schwarz keine übermäßigen Kampfgelüste.
Es scheint, daß Anand in diesem
Wettkampf ganz auf den riskanten Vorstoß 1.e4 verzichten will. Jetzt wäre die
ideale Gelegenheit gewesen, festzustellen, was Kramnik darauf zu antworten
gedenkt.
In der fünften Partie
wiederholte sich mit kleinen Modifikationen der Ablauf des dritten
Wettkampfspiels. Kramnik ging einer Wiederholung des scharfen Abspiels nicht aus
dem Wege, obwohl der Stellungstypus Anand liegt und von ihm offenbar gründlich
durchforscht wurde. Anand wich mit 15…Tg8 als erster vom Verlauf der dritten
Partie ab (15…Ld6). Kramnik verbrauchte Kraft und Zeit, setzte zunächst gut
fort, brach aber dann recht bald zusammen. Diesmal bekam er einige Aussichten
auf Initiative, und sein Irrtum war nicht darauf zurückzuführen, daß Anand
Stellungsdruck entfaltete; er fiel einem ziemlich groben taktischen Übersehen
zum Opfer.
In der sechsten Partie zeigte
es sich, daß Kramnik die erlittenen Schläge nicht schnell genug verwinden
konnte. Er brachte keine Energie auf und wurde zusammengeschoben, ohne
ernsthaften Widerstand zu leisten; in dem Zug 18..c5 mag man Zeichen von
unbeherrschter Mutlosigkeit erkennen.
In der siebten Partie hatte
Anand nochmals Weiß. Eine derartige Regelung habe ich bisher nicht erlebt. Immer
strebt der Mensch nach etwas Neuem, auch wenn es an den alten Gewohnheiten
nichts auszusetzen gibt. Einen Wechsel bei der Zuweisung des Anzuges in der
Mitte des Wettkampfes hielt man offenbar für interessant. Ob er aber auch
sinnvoll ist? Jeder kann jetzt schon sehen, daß die sechste Partie vielleicht
gar nicht die Mitte des Wettkampfes bilden wird!
Das siebte Spiel verlief ohne
bemerkenswerte Ereignisse; die Ausführungen zur vierten Partie gelten auch für
dieses Spiel. In der heutigen achten Partie dürfte Kramnik die letzte
Gelegenheit haben, Zweifel am Endergebnis des Wettkampfes aufkommen zu lassen.
Zwei Mal wurde bisher in der
Geschichte der Zweikämpfe um die Weltmeisterschaft bei einem Rückstand von drei
Punkten noch der Sieg erzielt: im Jahre 1886 gewann Steinitz die erste Partie im
Wettkampf gegen Zukertort, verlor jedoch dann vier Mal hintereinander. Das
Ergebnis der restlichen entschiedenen Partien in diesem Ereignis lautete 9-1 für
Steinitz.
Im Jahre 1935 lag Euwe im Kampf
gegen Aljechin nach 9 Partien mit 3-6 im Rückstand. In der 25. Partie ging er
erstmals mit 13-12 in Führung und gewann schließlich mit 15½ : 14½.
Ferner lag Smyslov gegen
Botvinnik in dem Wettkampf des Jahres 1954 um drei Punkte zurück; er endete
12-12. Unvergessen ist natürlich der erste Wettkampf Karpov – Kasparov, in dem
Karpov 5-0 führte und nur noch einen Gewinn für den Gesamtsieg benötigte; nach
der 48. Partie wurde die Veranstaltung beim Stande von 5-3 abgebrochen.
Schließlich sei auch an den Zweikampf zwischen Karpov und Kortschnoj von Baguio
City 1978 erinnert, in dem Kortschnoj einen Rückstand von 5-2 aufholte, ehe er
beim Stande von 5-5 die entscheidende Partie verlor. In allen diesen Fällen
verfügten jedoch die Spieler, die hinten lagen, über eine größere Anzahl von
Partien für ihre Aufholarbeit.
Die Besucher der Veranstaltung
in Bonn brauchen sich jedoch nicht von der Sucht nach sportlicher Spannung
leiten zu lassen. Im Kommentierungssaal wird der Inhalt der Partien auf kundige
Weise erklärt. Zwei altmodische Demonstrationsbretter sind dort aufgebaut, auf
denen mit Magneten ausgerüstete Figuren verschoben werden, ganz wie es vor
fünfzig Jahren schon geschah. Auf dem einen Brett wird die jeweilige
Partiestellung bewahrt, auf dem anderen werden mögliche Abspiele ausgeführt.
Dies ist ein einfaches, aber wirksames Verfahren.
Auch die Rolle der
kommentierenden Großmeister ist zwiegespalten. Einer (Klaus Bischoff oder Artur
Jussupow) vertieft sich in den schachlichen Gehalt der Stellungen. Der zweite
(Dr. Helmut Pfleger) sucht diese Darstellung zu vereinfachen und zu
verallgemeinern. Außerdem gibt er Proben aus dem Fundus seines erstaunlichen
kulturhistorischen Wissens, soweit es sich auf Schach bezieht.
Er macht diese Ausführungen in
dem gönnerhaft-herablassenden Ton eines Onkels, der weiß, daß die zuhörenden
Kinder die volle Tiefe und Komplexität der Dinge nicht ermessen können, aber bei
mythologischen Vereinfachungen und Überhöhungen vor Begeisterung rote Backen
bekommen; Anekdotisches wird nicht von Geschichtlichem geschieden.
Ich halte dies für eine
Unterschätzung des Publikums. Die ganz überwiegende Anzahl der Zuhörer besteht
aus Leuten, die sich ein Leben lang für das Schach interessiert haben; sie sind
für möglichst sachgerechte Darstellungen durchaus dankbar. Es ist nicht
angemessen, die Darstellung auf die wenigen gänzlich Uneingeweihten
auszurichten; und auch, wenn man dies tun will, ist die Annahme, ernsthafte
Belehrung stünde der Unterhaltung dieser Interessierten im Wege, durchaus nicht
ohne weiteres richtig.
Es konnte sich allerdings, wer
im Kommentarraum nicht genug Auskunft erhielt, auf der Pressekonferenz von den
Spielern selbst belehren lassen. Sooft ich mich in die Veranstaltung
hineindrängen konnte, war ich überrascht, wie sachbezogen die Fragen waren, wie
sehr sie auf die schachlichen Inhalte der Partien abzielten. Das war sicher
unter anderem das Verdienst des Leiters der Veranstaltungen, Klaus Bischoff, der
als Dompteur die hechelnde Meute der Journalisten in Schach hielt. „Stellen Sie
Ihre Fragen bitte in höflicher Form!“ mahnte er zu Beginn der ersten Sitzung –
und nicht ohne Erfolg. Als jemand nach der fünften Partie Kramnik fragte, wie er
seine Aussichten in dem Wettkampf sehe, wurde dies mit Gelächter begrüßt. Daraus
schien mir nicht so sehr Hohn für den Fragenden als Mitleid mit dem Befragten zu
sprechen. Es ist zu wünschen, daß dieses Verhalten wirklichen Verständnisses und
echter Rücksichtsnahme im Geschäftsleben unserer Gesellschaft weiten Raum
gewinnt.