Robert Hübner: Unzusammenhängende Bemerkungen (II)

von ChessBase
25.10.2008 – Zum zweiten Mal begleitet Dr. Robert Hübner den Wettkampf um die Weltmeisterschaft zwischen Viswanathan Anand und Vladimir Kramnik mit einigen unzusammenhängenden und unwesentlichen Bemerkungen. In seiner Glosse, die er schon vor der gestrigen achten Partie verfasste, weist er u.a. darauf hin, dass schon mehrmals in der Geschichte der Weltmeisterschaften ein 0:3- oder sogar höherer Rückstand aufgeholt wurde. In allen Fällen verfügten jedoch die Spieler, die hinten lagen, über eine größere Anzahl von Partien für ihre Aufholarbeit als es gerade in Bonn der Fall ist. Die Begleitumstände der Weltmeisterschaft gefallen dem früheren WM-Kandidaten immer dann, wenn das Schach im Mittelpunkt steht und wenn die Kommentare sachbezogen sind. Unzusammenhängende Bemerkungen...

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Unzusammenhängende Bemerkungen (II)
Von Dr. Robert Hübner

Der Wettkampf Anand – Kramnik ist weiter fortgeschritten.

Die vierte Partie zeigte ein Konsolidierungsremis, wie es für derartige Wettkampfsituationen kennzeichnend ist. Anand war damit zufrieden, den erreichten Vorsprung festzuhalten, und legte das Spiel ruhig an; Kramnik brauchte Erholung von der dritten Partie und zeigte mit Schwarz keine übermäßigen Kampfgelüste.

Es scheint, daß Anand in diesem Wettkampf ganz auf den riskanten Vorstoß 1.e4 verzichten will. Jetzt wäre die ideale Gelegenheit gewesen, festzustellen, was Kramnik darauf zu antworten gedenkt.

In der fünften Partie wiederholte sich mit kleinen Modifikationen der Ablauf des dritten Wettkampfspiels. Kramnik ging einer Wiederholung des scharfen Abspiels nicht aus dem Wege, obwohl der Stellungstypus Anand liegt und von ihm offenbar gründlich durchforscht wurde. Anand wich mit 15…Tg8 als erster vom Verlauf der dritten Partie ab (15…Ld6). Kramnik verbrauchte Kraft und Zeit, setzte zunächst gut fort, brach aber dann recht bald zusammen. Diesmal bekam er einige Aussichten auf Initiative, und sein Irrtum war nicht darauf zurückzuführen, daß Anand Stellungsdruck entfaltete; er fiel einem ziemlich groben taktischen Übersehen zum Opfer.

In der sechsten Partie zeigte es sich, daß Kramnik die erlittenen Schläge nicht schnell genug verwinden konnte. Er brachte keine Energie auf und wurde zusammengeschoben, ohne ernsthaften Widerstand zu leisten; in dem Zug 18..c5 mag man Zeichen von unbeherrschter Mutlosigkeit erkennen.

In der siebten Partie hatte Anand nochmals Weiß. Eine derartige Regelung habe ich bisher nicht erlebt. Immer strebt der Mensch nach etwas Neuem, auch wenn es an den alten Gewohnheiten nichts auszusetzen gibt. Einen Wechsel bei der Zuweisung des Anzuges in der Mitte des Wettkampfes hielt man offenbar für interessant. Ob er aber auch sinnvoll ist? Jeder kann jetzt schon sehen, daß die sechste Partie vielleicht gar nicht die Mitte des Wettkampfes bilden wird!

Das siebte Spiel verlief ohne bemerkenswerte Ereignisse; die Ausführungen zur vierten Partie gelten auch für dieses Spiel. In der heutigen achten Partie dürfte Kramnik die letzte Gelegenheit haben, Zweifel am Endergebnis des Wettkampfes aufkommen zu lassen.

Zwei Mal wurde bisher in der Geschichte der Zweikämpfe um die Weltmeisterschaft bei einem Rückstand von drei Punkten noch der Sieg erzielt: im Jahre 1886 gewann Steinitz die erste Partie im Wettkampf gegen Zukertort, verlor jedoch dann vier Mal hintereinander. Das Ergebnis der restlichen entschiedenen Partien in diesem Ereignis lautete 9-1 für Steinitz.

Im Jahre 1935 lag Euwe im Kampf gegen Aljechin nach 9 Partien mit 3-6 im Rückstand. In der 25. Partie ging er erstmals mit 13-12 in Führung und gewann schließlich mit 15½ : 14½.

Ferner lag Smyslov gegen Botvinnik in dem Wettkampf des Jahres 1954 um drei Punkte zurück; er endete 12-12. Unvergessen ist natürlich der erste Wettkampf Karpov – Kasparov, in dem Karpov 5-0 führte und nur noch einen Gewinn für den Gesamtsieg benötigte; nach der 48. Partie wurde die Veranstaltung beim Stande von 5-3 abgebrochen. Schließlich sei auch an den Zweikampf zwischen Karpov und Kortschnoj von Baguio City 1978 erinnert, in dem Kortschnoj einen Rückstand von 5-2 aufholte, ehe er beim Stande von 5-5 die entscheidende Partie verlor. In allen diesen Fällen verfügten jedoch die Spieler, die hinten lagen, über eine größere Anzahl von Partien für ihre Aufholarbeit.

Die Besucher der Veranstaltung in Bonn brauchen sich jedoch nicht von der Sucht nach sportlicher Spannung leiten zu lassen. Im Kommentierungssaal wird der Inhalt der Partien auf kundige Weise erklärt. Zwei altmodische Demonstrationsbretter sind dort aufgebaut, auf denen mit Magneten ausgerüstete Figuren verschoben werden, ganz wie es vor fünfzig Jahren schon geschah. Auf dem einen Brett wird die jeweilige Partiestellung bewahrt, auf dem anderen werden mögliche Abspiele ausgeführt. Dies ist ein einfaches, aber wirksames Verfahren.

Auch die Rolle der kommentierenden Großmeister ist zwiegespalten. Einer (Klaus Bischoff oder Artur Jussupow) vertieft sich in den schachlichen Gehalt der Stellungen. Der zweite (Dr. Helmut Pfleger) sucht diese Darstellung zu vereinfachen und zu verallgemeinern. Außerdem gibt er Proben aus dem Fundus seines erstaunlichen kulturhistorischen Wissens, soweit es sich auf Schach bezieht.

Er macht diese Ausführungen in dem gönnerhaft-herablassenden Ton eines Onkels, der weiß, daß die zuhörenden Kinder die volle Tiefe und Komplexität der Dinge nicht ermessen können, aber bei mythologischen Vereinfachungen und Überhöhungen vor Begeisterung rote Backen bekommen; Anekdotisches wird nicht von Geschichtlichem geschieden.

Ich halte dies für eine Unterschätzung des Publikums. Die ganz überwiegende Anzahl der Zuhörer besteht aus Leuten, die sich ein Leben lang für das Schach interessiert haben; sie sind für möglichst sachgerechte Darstellungen durchaus dankbar. Es ist nicht angemessen, die Darstellung auf die wenigen gänzlich Uneingeweihten auszurichten; und auch, wenn man dies tun will, ist die Annahme, ernsthafte Belehrung stünde der Unterhaltung dieser Interessierten im Wege, durchaus nicht ohne weiteres richtig.

Es konnte sich allerdings, wer im Kommentarraum nicht genug Auskunft erhielt, auf der Pressekonferenz von den Spielern selbst belehren lassen. Sooft ich mich in die Veranstaltung hineindrängen konnte, war ich überrascht, wie sachbezogen die Fragen waren, wie sehr sie auf die schachlichen Inhalte der Partien abzielten. Das war sicher unter anderem das Verdienst des Leiters der Veranstaltungen, Klaus Bischoff, der als Dompteur die hechelnde Meute der Journalisten in Schach hielt. „Stellen Sie Ihre Fragen bitte in höflicher Form!“ mahnte er zu Beginn der ersten Sitzung – und nicht ohne Erfolg. Als jemand nach der fünften Partie Kramnik fragte, wie er seine Aussichten in dem Wettkampf sehe, wurde dies mit Gelächter begrüßt. Daraus schien mir nicht so sehr Hohn für den Fragenden als Mitleid mit dem Befragten zu sprechen. Es ist zu wünschen, daß dieses Verhalten wirklichen Verständnisses und echter Rücksichtsnahme im Geschäftsleben unserer Gesellschaft weiten Raum gewinnt.   


 

 

 


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