Robert Hübner: Unzusammenhängende Betrachtungen (III)

von ChessBase
30.10.2008 – In seiner dritten und letzten Glosse über die Schachweltmeisterschaft beschäftigt sich Dr. Robert Hübner mit den psychologischen Bedingungen und dem schachlichen Gehalt des zweiten Teils des Wettkampfes. Anands Spiel war von Nervosität geprägt und führte zu einem Widerspruch zwischen seiner scharfen Eröffnungswahl und der weiteren Spielführung in seinen Partien: "In der zweiten Hälfte des Wettkampfs (ab Partie 7) sah man wenig begeisterndes Schach." Der Wettkampf war zudem sehr kurz. Nur selten in der Geschichte des Schachs gab es kürzere Weltmeisterschaftsmatches. Die Ruhetage waren eingeschränkt. "Dies ist kennzeichnend für unsere Zeit," meint Robert Hübner. Immerhin sei von den im Schach um sich greifenden sachfremden Forderungen in Bonn wenig zu spüren gewesen, ebenso von bürokratischen Sinnlosigkeiten, wo "jede Zerstreutheit, jede harmlose persönliche Eigenart in härtester Weise gestraft wird. Beispiele für solche willkürlichen Sinnlosigkeiten sind die Dopingkontrollen und die Regelungen bei Lautäußerungen von Reisetelephonen. Doch soll diesem Druck dem Vernehmen nach bei der anstehenden Mannschaftsweltmeisterschaft in Dresden zu neuen Höhenflügen verholfen werden." Unzusammenhängende Betrachtungen ...

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Unzusammenhängende Betrachtungen (III)

Schluß

Der Wettkampf um die Weltmeisterschaft im Schach zwischen Anand und Kramnik, der vom 14. bis zum 29. Oktober in Bonn stattfand, ist abgeschlossen. Das Endergebnis ist bekannt: Anand gewann 6½ : 4½. Ich beglückwünsche den Sieger und zolle dem Unterlegenen meine Achtung.

In der zweiten Hälfte des Wettkampfs (ab Partie 7) sah man wenig begeisterndes Schach. Beide Teilnehmer schienen ohne Energie zu spielen, wenn auch sicher aus verschiedenen Gründen.

Der übliche Gang der Dinge sieht so aus. Der Führende wird von einer gewissen Nervosität ergriffen; Ungeduld erfaßt ihn. Er möchte die Ernte schon in der trockenen Scheune aufgespeichert sehen, denn er fürchtet, daß ein unvorhergesehenes Unwetter die Früchte vernichtet. Seine Spielführung verkrampft sich; er beginnt, übermäßiges Augenmerk auf die Vermeidung von Unwägsamkeiten zu lenken und Spannungen aus dem Wege zu gehen. Ich glaube, in Anands Spiel deutliche Anzeichen dieser Tendenz beobachten zu können. Es entstand ein Widerspruch zwischen seiner scharfen Eröffnungswahl und der weiteren Spielführung in seinen Partien.

Dagegen wird der Spieler, der die Niederlage im Wettkampf vor Augen hat, von Niedergeschlagenheit erfaßt. Auch er möchte die Sache möglichst schnell hinter sich bringen, allen gegenteiligen Versicherungen zum Trotz. Der Verstand sagt ihm: „Das bisherige Ergebnis ist unerheblich. Es hindert nicht daran, aus der nächsten Partie ein anständiges Werkstück zu machen – und nur darum ist es jetzt zu tun.“ Das Gefühl ist jedoch durch die vorangegangenen Schläge zu sehr von der eigenen Machtlosigkeit überzeugt, um Kräfte bereitstellen zu können. Vielleicht gelang es einzig M. Tal bei seinem Rückkampf gegen M. Botvinnik im Jahre 1961, unabhängig von seiner Form, seinem Gesundheitszustand und dem Stand des Wettkampfs sich auf die für ihn übliche Weise ins Spiel zu vertiefen.

Schnell ging das Ereignis in Bonn vorbei, wenn man es mit früheren Wettkämpfen um die Weltmeisterschaft vergleicht; nur die beiden Wettkämpfe Lasker - Schlechter und Lasker – Janowski aus dem Jahre 1910 umfaßten weniger Partien. Im Vergleich zu früheren Weltmeisterschaftskämpfen war die Zahl der Ruhetage stark eingeschränkt.

Dies ist kennzeichnend für unsere Zeit. Der äußere Druck auf die Spieler, der durch die Wettkampfbedingungen entsteht, wird laufend verschärft. Doch soll man diese Erscheinung nicht zu einseitig betrachten und beurteilen. Zwar ist der momentane Druck stärker als früher, aber dafür sind die Phasen des Drucks viel kürzer. In einem Wettkampf über 24 Partien wäre dem Ausgang der dritten Partie nicht so viel Bedeutung zugekommen wie in dem abgelaufenen Kräftemessen; aber dafür müßten beide jetzt noch wochenlang schwitzen. Ruhetage geben nur scheinbar Erholung; die Spannung des Kampfes, Ungewißheit und Sorge über das Zukünftige weichen nicht aus dem Körper. Sehr beliebt sind zur Zeit Blitzpartien mit einer Minute Bedenkzeit pro Spieler. Die Anspannung ist dabei groß, geht aber rasch vorüber. Man findet also heutzutage gleichsam dicht nebeneinanderstehende spitzige Höhepunkte des Drucks, während früher mächtige Wellenrücken mit weiten, flachen Tälern dazwischen angelegt wurden. Was man für werthaltiger erachtet, ist Geschmackssache; doch trägt die Raschheit des Druckwechsels sicher zur Unruhe in der heutigen Lebensgestaltung bei.

Im allgemeinen erwächst der Hauptdruck auf den denkenden und schaffenden Spieler jedoch nicht aus seiner eigenen Einstellung zur Kampfsituation und aus den Regelungen des Turnierschachs, sondern aus den stets zunehmenden sachfremden Forderungen und bürokratischen Maßnahmen in der Schachwelt. Er wird rein als Objekt behandelt, das in völlig beliebiger Weise gebraucht und genutzt werden kann. Es ist folgerichtig, daß jede Zerstreutheit, jede harmlose persönliche Eigenart in härtester Weise gestraft wird. Beispiele für solche willkürlichen Sinnlosigkeiten sind die Dopingkontrollen und die Regelungen bei Lautäußerungen von Reisetelephonen.

Während der soeben zu Ende gegangenen Weltmeisterschaft war von der zuletzt besprochenen Art von Druck wenig zu merken. Doch soll ihm dem Vernehmen nach bei der anstehenden Mannschaftsweltmeisterschaft in Dresden zu neuen Höhenflügen verholfen werden.

 

 

 


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