Vom Wesen und Wert des Fragegesprächs
Herr Hübner, Sie vollenden das 70. Lebensjahr. Da haben Sie sicher viele Anfragen für Interviews?
Hübner: Grrmpff.
Es scheint, daß Sie Fragegespräche nicht schätzen. Warum ist das so?
Hübner: Das darzulegen bedarf langer, umständlicher Erörterungen.
Ich habe Zeit. Beginnen Sie ruhig.
Hübner: Es gibt eine große Menge unterschiedlicher Situationen bei einem Fragegespräch, und sie alle müssen gesondert betrachtet werden. Grundsätzlich jedoch gilt: Der Fragende und der Befragte haben bei der Durchführung des Gesprächs verschiedene Zielsetzungen.
Der Befragte stimmt einem Interview vor allem aus persönlicher Eitelkeit zu (denn bezahlt wird er normalerweise nicht); er ist auf Selbstdarstellung erpicht, will in aller Munde sein und nach seinem Tode zwischen hohlen Zähnen weiterleben.
Der Fragende ist mit einem Geschäft befaßt. Er schielt nach einem – wenn auch nur in seiner Vorstellung vorhandenen – Durchschnittsleser und möchte dessen Gefühlsleben bedienen; je besser ihm dies gelingt, desto mehr verdient er.
Dies ist vielleicht die größte und wichtigste Gefahrenquelle des Journalismus überhaupt, und schon Platon hat dies erkannt, wie folgender Text aus dem „Staat“ zeigt (6. Buch, 493 a2-c9):
„Es scheint mir nicht anders zu sein, sprach er. (= Glaúkōn).
Dann soll dir außerdem noch dazu folgendes scheinen, sagte ich (= Sōkrátēs).
Was?
Daß jeder der um Lohn arbeitenden Privatleute, welche diese (= die Politiker) Volkserzieher (Sophisten – Journalisten) nennen und für rivalisierende Kollegen halten, den Leuten nichts anderes beibringt als diejenigen Ansichten der Masse, die diese hervorbringt, wenn sie sich zusammenschart, und das ‚Weisheit‘ nennt; gerade wie wenn jemand die Stimmungen und Wünsche eines großen Haustieres, das er hält, gründlich erforschen würde, ferner, wie man sich ihm nähern und es anfassen muß, weiterhin, wann und aus welchen Gründen es ganz störrisch oder recht folgsam wird, und die jeweiligen Laute, die es dabei auszustoßen pflegt; und bei welchen Tönen es sich wiederum beruhigt oder wild wird, wenn sie jemand anders produziert. Wenn er dies alles, nachdem er es im Laufe der Zeit durch enge Gemeinschaft im einzelnen kennengelernt, Weisheit nennen und sich, indem er ein systematisches Fach daraus schafft, dem Unterrichten zuwenden würde ohne jede wahrhafte Kenntnis, was von diesen Ansichten schön oder häßlich, gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht sei; sondern würde alle diese Bezeichnungen nach Maßgabe der Bewertungen durch das große Vieh festsetzen: indem er nämlich, worüber es erfreut ist, Gutes nennt, worüber es sich ärgert, Schlechtes, ohne einen anderen Gedanken über diese Dinge äußern zu können; das Notwendige würde er gerecht nennen und schön, weil er weder erfaßt hat noch einem anderen zu zeigen in der Lage ist, wie sehr das Wesen des Notwendigen und des Guten auseinanderklaffen – würde dir nicht jemand, der auf diese Weise vorgeht, bei Gott ein seltsamer Erzieher zu sein scheinen?
Mir auf jeden Fall, sprach er.“
Es kann in der Tat keine Rede davon sein, daß das Pressewesen in seiner Gesamtheit der Aufgabe gerecht wird, sachliche Information zu vermitteln, die dem Bürger Elemente zur eigenen Urteilsfindung an die Hand gibt; immer bleibt es das Hauptziel der Pressevertreter, die Emotionen des Lesers (Hörers) aufzurühren.
Aber ich komme auf den Spezialfall des Interviews zurück. Auch der fragende Journalist ist – ganz wie der Befragte – meist nicht von Eitelkeit frei. Er möchte sich vielleicht vor anderen Journalisten hervortun, ihnen Fehler nachweisen oder sie auf andere Weise in den Schatten stellen; er mag eine enge Vertrautheit mit dem Befragten vorspiegeln wollen, die nicht besteht, und Ähnliches mehr.
Es besteht also von vorneherein ein Spannungsverhältnis zwischen Frager und Befragtem; wenn zwei verschiedene Eitelkeiten aufeinanderprallen, ist das Ergebnis meist verheerend. Beide Seiten glauben, dem anderen einen großen Gefallen zu erweisen; ein Machtkampf kann nicht ausbleiben.
Hierbei hat der Fragesteller die überlegene Ausgangsposition. Durch seine Fragen kann er den Befragten in die Richtung drängen, die ihm vorschwebt. Er ist in dieser Technik geübt und versteht es, sein unerfahrenes Opfer beliebig zu manipulieren. Er gibt ihm keinen Raum, seine Gedanken oder seine Meinungen darzustellen. Aussagen, die ihm nicht passen, werden beiseitegeschoben oder kommentierend umgebogen.
Sie zeichnen ein düsteres Bild. Ist es denn wirklich immer so schlimm?
Hübner: Natürlich nicht, aber man erlebt doch die seltsamsten Überraschungen. Ich will ein Beispiel erzählen.
Einst hatte ich auf einer Zugreise als Nachbarn einen Holländer, der sich im Laufe des Gesprächs als Amateurherausgeber einer kleinen Dialektzeitung (Auflage fünfhundert Stück) vorstellte. Er bat mich um einen Beitrag für seine Zeitung. Der Mann war nicht mehr jung und machte einen soliden Eindruck; der Versuch, meinen Zugang zur niederländischen Literatur zu formulieren, schien mir nicht uninteressant zu sein, und daher sagte ich zu, schriftliche Fragen über dieses Thema zu beantworten.
Ich war begeistert darüber, daß die Fragen in handschriftlicher Form einliefen. Weniger begeistert war ich über ihren Inhalt. Die meisten betrafen entgegen der Absprache das Gebiet des Schachs, und ich sollte sogar Werturteile über holländische Schachspieler treffen. Ich handelte diese Fragen so kurz wie möglich ab und widmete meine ganze Kraft einer Besprechung meiner literarischen Lektüren in niederländischer Sprache.
Der Redakteur sandte mir das Blatt zu, in dem sein Artikel über mich erschienen war. Wie staunte ich, als ich den Inhalt zur Kenntnis nahm! Der Autor hatte meine Aussagen nicht wörtlich zitiert, sondern seine eigene Erzählung daraus gestaltet; das war verständlich, da er die Dialektform wahren wollte. Er gab jedoch als Lieblingsautor von mir einen Schriftsteller an, der damals in Deutschland viel verkauft wurde, den ich aber aus gutem Grund überhaupt nicht erwähnt hatte, obwohl ich ihn kannte. Dagegen unterschlug er völlig den Schriftsteller, den ich als für mich interessantesten bezeichnet hatte; und auch sonst hatte seine Darstellung nichts mit meinen Aussagen zu tun.
Als ich bei dem Mann nachfragte, warum er mich einige Tage habe arbeiten lassen, um dann doch etwas ganz Beliebiges zu schreiben, antwortete er, er habe meinen Brief bei der Abfassung seines Artikels auf der Redaktion nicht neben sich liegen gehabt, aber er habe ihn zu Hause zwei Mal gelesen und sei sicher gewesen, den Inhalt korrekt wiederzugeben. Ich könne aber eine Berichtigung verfassen, die er abdrucken werde.
Bis heute ist mir unklar geblieben, welches Interesse der Mann daran hatte, solche groben Entstellungen meiner Aussagen vorzunehmen. Hoffte er, mir weitere sinnlose Arbeit überstülpen zu können? Falls dies seine Hoffnung war, wurde sie enttäuscht.
Das war ein Einzelfall.
Hübner: Sicher, sicher, jeder Fall ist ein Einzelfall. Aber üblicherweise kennt man den Gesprächspartner nicht oder nur sehr flüchtig; und weil die Ausgangssituation, wie oben dargelegt, konfliktgeladen ist, kann man selten mit einem harmonischen Ablauf der Begegnung rechnen.
Ich habe Journalisten erlebt, die von Anfang an das Ziel hatten, mich lächerlich zu machen. Aber das ist eine Ausnahme; die meisten sind voller Wohlwollen. Dennoch stellt sich meist keine fruchtbare Zusammenarbeit ein. Dafür gibt es verschiedene Ursachen.
Welche?
Hübner: In krassen Fällen ist dies völlige Unkenntnis der Materie, über die gesprochen wird. Einmal gelang es einem mir unbekannten Journalisten, meine Telefonnummer aufzuspüren, und er wollte von mir alles über Skat wissen. Ich erklärte ihm, daß ich davon nichts verstünde; nach einigem hin und her versuchte er mich erfolglos davon zu überzeugen, daß Schach und Skat dasselbe Spiel seien. Ein andermal hatte ein solcher Eindringling Fragen über Computerschach. Im Laufe des kurzen Gesprächs verwendete ich den mathematischen Begriff „Spieltheorie“. Der Journalist kannte ihn nicht und verwechselte ihn mit den Sammlungen aus der Praxis des Schachs, die man „Eröffnungstheorie“ nennt, so daß keinerlei Verständigung möglich war.
Diese Leute sind schlecht vorbereitet; aber es gibt doch sicherlich auch Leute, die sorgfältiger verfahren?
Hübner: Das hilft meist wenig. Jede Berufsausübung prägt den Menschen in nachhaltiger Weise; er nimmt, ohne es zu merken, Gewohnheiten an, die er nicht mehr ablegen kann. Da das Bestreben der Journalisten nicht auf das Erringen eigener Erkenntnis, sondern auf das Bestätigen von Fremdmeinungen gerichtet ist (wie im oben zitierten Text von Platon dargelegt ist), sind sie nicht an der Erfassung der Wirklichkeit interessiert, und ihre Auffassung der Menschennatur ist verzerrt.
Daraus entsteht eine große Schablonenhaftigkeit; immer werden die gleichen langweiligen Fragen gestellt. Ein Ausfluß dieser Unfähigkeit, einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit und zum anderen Menschen zu gewinnen, sind die berühmten Fragekataloge.
„Essen Sie gerne Käse? Haben Sie Kafka gelesen? Was ist Ihre Lieblingsfarbe? Was halten Sie vom Papst?“ Als ob man aus solchen Fetzen das Wesen einer Persönlichkeit erkennen und zusammensetzen könnte!
Kann man es besser machen?
Hübner: Es ist schwer. In jedem Gespräch welcher Art auch immer wird auf beiden Seiten eine Vielzahl unausgesprochener Voraussetzungen gemacht; das schafft unaufhörlich Stolpersteine. Oft werden in den Fragen falsche Annahmen vorausgesetzt.
„Warum sind Sie vom Schach so begeistert?“ Ich bin vom Schachspielen überhaupt nicht begeistert, sondern irgendwie unversehens in diese Tätigkeit hineingeschlittert.
„Was war ihr größter Erfolg?“ Sofort ist deutlich, daß der Frager der Tendenz unserer Gesellschaft folgt, Leistung mit Rekorden zu verwechseln.
„Sie haben die finnische Sprache in drei Wochen erlernt. Wie haben Sie das gemacht?“ Jedermann weiß, daß es völlig unmöglich ist, die finnische Sprache in drei Wochen zu erlernen. Dazu gehört es schließlich nicht nur, sich grammatische Regeln, Wörter und Wendungen einzuprägen und sie richtig anzuwenden, sondern auch, sich einige Kenntnis der Geschichte, Literatur und anderer Besonderheiten des Landes anzueignen, in der die Sprache gesprochen wird. Jemand, der so eine Frage stellt, verbindet offenbar mit den Wörtern „Erlernen“ und „Sprache“ einen ganz anderen Inhalt als ich. Allerdings folgt er wohl noch einem anderen Bedürfnis, dem der Legendenbildung.
Worauf beruht dieses Bedürfnis?
Hübner: Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Ich weiß es nicht genau; ich kann nur einige Vermutungen anstellen. Vielleicht hat man eine Abneigung dagegen, das Besondere einer Persönlichkeit herauszuarbeiten. Der Mensch zählt heute nur noch als Gruppenwesen, als ein Element in der Statistik. Also entrückt man Menschen, die sich herauszuheben drohen, der Wirklichkeit. Der oben angesprochene Rekordwahn leistet dabei Vorschub.
Außer dem Fragenden ist natürlich auch der Befragte an Legendenbildung interessiert; aber er strebt vielleicht die Errichtung einer ganz anderen Fassade an als der Frager.
Man kann aber doch nicht leugnen, daß das Fragegespräch einen großen Vorteil aufweist.
Hübner: Tatsächlich? Da bin ich aber neugierig.
Man erreicht mit ihm große Authentizität.
Hübner: Haha, gestatten Sie, daß ich ein wenig lache. Authentisch bedeutet „quellenecht“, wenn ich mich nicht irre.
Ja.
Hübner: Im Fragegespräch nimmt diese Authentizität folgende Form an. Der Pressevertreter fragt: „Also, eines wollte ich schon immer wissen, und das wird sicher auch unsere Leser (Hörer) interessieren. An welchem Tage sind Sie eigentlich geboren?“ Die Antwort lautet: „Ja, warten Sie mal, welcher Tag war das auch schon wieder? Ich glaube, es war ein Donnerstag.“ – „Das ist interessant. Ich meine aber nicht den Wochentag, sondern den Geburtstag... (usw.)“ Ist dies wirklich glaubwürdiger und zuverlässiger als die nüchterne Feststellung „Geboren am 1. April 2000?“
In Wirklichkeit wurde Nebensächliches sinnlos aufgebläht und dem Leser (Hörer) das Aufnehmen der Information erschwert. Die Form des Gesprächs verführt dazu. Es bedeutet auch eine schöne Arbeitsersparnis für den Verfasser; er braucht sich nicht um die Struktur des Artikels und die Ausfeilung der Formulierungen zu kümmern. Ich bin der Meinung, daß ein kompakter, sorgfältig bedachter Text zu einem Thema wertvoller ist als ein durch Fragen zerhacktes, hingeworfenes Sammelsurium.
Im übrigen ist das Gerede von der Authentizität ohnehin Augenwischerei. Als ich das erste Mal zur hehren Sphäre des Fernsehens zugelassen wurde (1970 nach dem Interzonenturnier in Palma de Mallorca) geriet ich an einen sympathischen Gesprächspartner; das ist ohne jede Ironie gesagt. Er bereitete die Sendung vor, und er hatte Mitleid mit dem unsicheren, schüchternen, hilflosen jungen Mann. Er machte mich also im Vorwege mit den sieben Fragen bekannt, die er stellen würde – und schlug mir auch gleich die angemessenen Antworten vor.
Später erlebte ich das Umgekehrte. Man wollte ein Radiogespräch mit mir durchführen, das zunächst auf Band aufgenommen werden sollte. Der Bearbeiter teilte mir mit: „Wenn Sie zu flüssig sprechen, werden wir einige Ähs und Öhs einspielen, damit die Rede authentischer klingt.“ Der ganze Plan wurde jedoch fallengelassen.
Aber können Sie denn über keinerlei angenehme Erfahrungen auf dem Gebiet des Interviews berichten?
Hübner: Doch...
Bitte.
Hübner: Einmal las ich ein mehrseitiges Interview mit mir von einem Mann, den ich nie gesehen, geschweige denn gesprochen hatte. Dies wäre ein vollkommener Schriftsatz gewesen, wenn der Autor vermeldet hätte, daß nicht nur die Fragen, sondern auch die Antworten seinem eigenen Kopf entsprungen waren. Da er dies nicht tat und eine parodistische Absicht in dem Stück auf keine Weise zu erkennen war, blieb es allerdings letzten Endes eine Irreführung des Lesers.
Mit Vergnügen erinnere ich mich an eine Radioplauderei mit meinem guten Freund Herman Hofhuizen (1917-1996) in Tilburg. Er kannte mich durch und durch und führte mich im Gespräch umsichtig und behutsam auf ein Feld außerhalb des Schachs, das mich ansprach. Als ich jedoch voller Behagen darangehen wollte, mich zu entfalten, war die Sendezeit von fünf Minuten um.
Das angenehmste Arbeiten erlebte ich mit zwei Oberprimanern. Sie hatten als Hausarbeit die Aufgabe bekommen, ein Interview zu führen und niederzuschreiben. Da sie nicht einem Publikum gefallen wollten oder einem Redakteur, sondern nur ihrem Lehrer, gingen sie ohne Vorurteil an die Sache heran, stellten Fragen aus echter Neugier heraus, nahmen die Antworten auf, ohne sie Modeauffassungen anpassen zu wollen, und folgten willig dem neuen Pfad, wenn das Gespräch eine unerwartete Wendung nahm. Leider habe ich nie erfahren, welche Note die beiden für ihre Bemühungen erhielten.
Zweifellos gibt es noch viel zum Thema „Interview“ zu sagen, aber unsere Zeit ist um. Ich hoffe, daß dieses Gespräch Ihren Vorstellungen entsprochen hat.
Hübner: In der Tat weist es kennzeichnende Züge eines Interviews auf, vor allem Strukturmängel. Man hätte bei der Behandlung des Themas von einzelnen Beispielen ausgehend auf das Allgemeine hinarbeiten müssen, nicht umgekehrt. Jetzt werden viele Leser die Lektüre bei dem Zitat aus dem „Staat“ beenden.
Um so besser, um so besser. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Hübner: Grrmpff.