Rudolf Spielmann: Lebensgeschichte als Zeitgeschichte
Von Johannes Fischer
Er war klein, dick, Zeit seines Lebens
Junggeselle, trank gern Bier, kam aus Wien und gehörte mehrere Jahrzehnte zu
den besten Schachspielern der Welt. Er fiel weder durch Eskapaden noch
Verrücktheit auf, spielte weit über hundert Turniere und mehr als fünfzig
Wettkämpfe, aber nie um die Weltmeisterschaft. Rudolf Spielmann war ein ganz
normaler Spitzenspieler. Am 5. Mai feiert er Geburtstag. Eine gute Gelegenheit,
einen Blick in Michael Ehns Rudolf Spielmann: Porträt eines Schachmeisters
in Texten und Partien (Koblenz: H.-W. Fink, 1996) zu werfen. Der Band
enthält Aufsätze und Partien von Spielmann sowie einen ausführlichen
biographischen Teil mit Erinnerungen an den österreichischen Großmeister. Sie
zeigen, wie die Lebensgeschichte des Schachspielers Spielmann die Geschichte
seiner Zeit widerspiegelt.
Die Familie
Geboren wurde Rudolf Spielmann 1883 in Wien
als zweites von sechs Kindern von Moriz Spielmann und Cäcilie Neustädtl. Moriz
Spielmann stammte aus Nikolsburg, dem heutigen Mikulov, und war in den
siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Wien gekommen. Denn, so Ehn, "das
Verfassungsgesetz von 1867 (Schaffung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn)
und der interkonfessionelle Ausgleich 1868 brachten die völlige
Gleichberechtigung der Juden zumindest de jure. Aus allen Teilen der
weitläufigen Monarchie, in denen sie nach wie vor benachteiligt waren ...
strömten nun Juden in das Zentrum des Reiches, in der Hoffnung auf eine bessere
Zukunft und um der Not und dem Elend zu entkommen" (Ehn, S.79).
Sollte Moriz Spielmann hochfliegende Träume
von einem Leben in der Hauptstadt gehabt haben, so erfüllten sie sich nicht. Er
verdiente als Literaturkritiker, Journalist und Redakteur gerade genug, um
seine Familie zu ernähren. Dennoch förderten Moriz und Cäcilie die
künstlerischen Talente ihrer Kinder nach Kräften. Der Älteste, Leopold
Spielmann, war ein musikalisches Wunderkind und durfte als Kind einmal sogar
vor der kaiserlichen Familie auftreten. Rudolfs Schwestern Melanie, Jenny und
Irma wurden Schauspielerinnen. Tragisch war das Schicksal Edgar Spielmanns, des
jüngeren Bruders von Rudolf, der unter dem frühen Tod der Mutter litt und sich
1917 das Leben nahm. Auch Melanie starb bereits früh, 1927, mit 42 Jahren, an
einer schweren Krankheit.
Schachkarriere
Schach lernte Rudolf mit vier oder fünf
Jahren von seinem Vater. Nach der Schule entschied er sich gegen ein Studium
der Mathematik und für ein Leben als Schachspieler. In der Weltspitze
etablierte sich er beim Turnier in St. Petersburg 1909 durch einen mit Duras
geteilten dritten Platz hinter Lasker und Rubinstein. 1912 gewann er in Abbazio
ein Thematurnier, in dem das angenommene Königsgambit Pflicht war. Diese
Eröffnung lag Spielmann, der sich in offenen, taktisch komplizierten,
Stellungen besonders wohl fühlte, und der Sieg in diesem Turnier trug ihm den
Beinamen "der letzte Ritter des Königsgambits" ein.
Während des Ersten Weltkrieges diente
Spielmann in der k.u.k. Armee und nach dem Krieg nahm er sein Leben als
Berufsschachspieler wieder auf. Allerdings stellte er seinen Stil um, und
versuchte sein Positionsspiel zu verbessern, denn obwohl er mit seinem
riskanten Angriffsspiel jeden schlagen konnte, führte seine Liebe zum Risiko
doch immer wieder zu schlechten Turnierergebnissen. Diese Arbeit zahlte sich
bald aus und zwischen 1925 und 1930 feierte Spielmann seine größten Erfolge:
Bei dem Turnier auf dem Semmering 1926 wurde er Erster vor Aljechin, Vidmar und
Nimzowitsch, in Berlin 1928 Dritter hinter Capablanca und Nimzowitsch und in
Karlsbad 1929 geteilter Zweiter zusammen mit Capablanca, hinter Nimzowitsch,
aber vor Rubinstein, Euwe, Vidmar und Bogoljubow.
In den dreißiger Jahren wurde deutlich,
dass Spielmann den Zenit seiner Laufbahn überschritten hatte. Seine Ergebnisse
wurden schlechter und er verlor etliche Aufsehen erregende Partien gegen die
nachkommende jüngere Generation. Besonders fatal war dabei eine nur 12-zügige
Niederlage gegen Botwinnik beim Moskauer Turnier 1935, in der Spielmann einer
fehlerhaften theoretischen Empfehlung folgte, früh mit seiner Dame auf
Bauernraub ging und nach nur 12 Zügen aufgeben musste. Die Kürze der Partie und
der Umstand, dass sich Schwarz gleich zwei elementare Eröffnungssünden zu
Schulden kommen ließ, nämlich auf Bauernraub zu spielen und einer theoretischen
Empfehlung blind zu folgen, sorgten dafür, dass zahlreiche Lehrbücher und
Anthologien diese Partie wieder und wieder abdruckten. Für viele Schachspieler
war dies wahrscheinlich die erste Begegnung mit Spielmann.
1935
erschien allerdings auch Spielmanns Buch Richtig Opfern!, die erste
systematische Abhandlung der unterschiedlichen Arten von Opfern im Schach und
zugleich Spielmanns Darlegung seines Credos als Angriffsspieler.
Verfolgung durch die Nazis
Ein ruhiger Lebensabend als Schachautor und
Spieler aber war Spielmann nicht vergönnt. Die Machtergreifung der
Nationalsozialisten 1933 machte ihn zum Flüchtling. Nachdem er zuerst in
Holland Schutz gesucht hatte, ging er von dort aus in die Tschechoslowakei,
wohin auch seine Familie geflohen war. Er lebte als Staatenloser ohne gültigen
Pass "in einer schäbigen ... Pension (eine Art Obdachlosenheim)" (Ehn, S.84) in
Prag. Mittellos und den drohenden Einmarsch der Nationalsozialisten vor Augen,
richtete er am 10. Dezember 1938 einen verzweifelten Appell an Ludwig Collijn,
einen schwedischen Schachfan und Mäzen:
Lieber Herr Collijn,
ich
habe schon lange nichts mehr von Ihnen gehört, hoffe aber, dass Sie sich des
besten Wohlbefindens erfreuen. – Ich hoffe auch, dass Sie für mich so viel
Interesse bewahrt haben, um einen kurzen Bericht über meine Lage
entgegenzunehmen. Dieselbe ist mehr als traurig, denn ich wurde nicht nur aus
Österreich, meiner geliebten Heimat, für immer vertrieben, sondern es wurde mir
obendrein meine Reisefreiheit genommen. Fast alle Schachländer der Welt haben
sich hermetisch gegen Emigranten und Flüchtlinge abgeschlossen, niemand lässt
mich mehr mit meinem wertlos gewordenen Österreichischen Pass hinein. ... Nur
die Hoffnung, dass ich schliesslich doch wieder ein Schachengagement und ein
Asyl finden werde, hält mich aufrecht. Wäre es nicht möglich dass Sie sich
meiner ebenso wie seinerzeit im Jahre 1919 annehmen und mir irgend ein
Schachengagement in Stockholm oder sonstwo in Schweden verschaffen? ... Ich
möchte Schweden nur als Übergangsland benützen, um mich moralisch und
schachlich aufzurichten .... Vielleicht könnte ich dann nach England oder
Amerika auswandern. Ich bitte Sie vielmals, lassen Sie mich nicht im Stich und
verhelfen Sie mir zu einem menschenwürdigen Dasein. Ich wäre mit den denkbar
bescheidensten Bedingungen einverstanden, wenn ich mich nur irgendwie betätigen
könnte. ... Die Hauptsache bleibt, dass ich aus dieser Hölle von Mitteleuropa
endlich herauskomme. Der Antisemitismus macht sich auch schon in Prag breit und
raubt mir jede Lebensmöglichkeit. Nochmals flehe ich Sie bei unserer
30-jährigen Bekanntschaft an, sich meiner anzunehmen und mir möglichst gleich
zu antworten, damit ich weiss, ob ich noch hoffen darf. ...
Herzliche Grüsse von Ihrem stets dankbaren und ergebenen
Rudolf Spielmann
(Ehn, S. 71-72)
Collijn erwies sich als großzügiger Helfer
und verhalf Spielmann zur Ausreise nach Schweden. Spielmanns Bruder und seine
Schwestern hatten weniger Glück. Leopold war zwar eine Stelle am Konservatorium
in Toronto angeboten worden, aber für den Zwischenstopp in England brauchte er
jemanden, der mit einer Summe von 100 Pfund für ihn bürgte. Doch niemand war
dazu bereit. Nachdem seine Frau Gertrud ihn ein Jahr in ihrer Wohnung versteckt
gehalten hatte, wurde Leopold 1939 von der SS verhaftet und ins
Konzentrationslager Theresienstadt gebracht, wo er 1941 starb. Nur den beiden
Töchtern von Leopold und Gertrud Spielmann, Lily und Ilse, gelang mit Hilfe
einer Quäkerfamilie unter abenteuerlichen Umständen die Flucht aus der
Tschechoslowakei. Bis Kriegsende lebten sie in England bei einem "Guardian",
der sich bereit erklärt hatte, die elternlosen Kinder aufzunehmen.
Aber Rudolfs Schwestern Jenny und Irma
fielen den Nationalsozialisten zum Opfer. Sie waren 1934 nach Holland geflohen,
wurden jedoch nach dem Einmarsch der Deutschen verhaftet und ins
Konzentrationslager gebracht. Irma wurde dort ermordet, während Jenny das Lager
überlebte, aber nach ihrer Befreiung an schweren Depressionen litt und 1964
Selbstmord beging.
Ein verlorenes Manuskript
Rudolf Spielmann war zwar Anfang 1939 die
Flucht nach Schweden gelungen, doch willkommen war er nicht. Schweden bereitete
sich zu dieser Zeit auf eine Invasion der Deutschen vor und viele Schweden
suchten bereits im Voraus die möglichen Wünsche der Deutschen zu erfüllen.
Spielmanns schwere Lage spitzte sich weiter zu, als sein Förderer Ludvig
Collijn kurz nach Spielmanns Ankunft starb. So versuchte Spielmann alles, um
Geld für seine geplante Weiterfahrt nach England oder Amerika aufzutreiben.
Besondere Hoffnungen setzte er dabei auf die Veröffentlichung seiner
Biographie, deren Manuskript jedoch verschollen ist. Und um dieses Manuskript
ranken sich zahlreiche Verdächtigungen und Mutmaßungen. Ehn schreibt dazu:
Nun
folgte jenes dunkle Kapitel, das sich aus der Sicht seiner [Spielmanns]
nächsten Verwandten Gertrud und Helmuth, die unmittelbar nach dem Krieg nach
Stockholm kamen, um Nachforschungen anzustellen und dort zu leben, anders
anhörte, als aus den Schilderungen seiner schwedischen Gastgeber. Diese
Autobiographie soll ein Auftragswerk gewesen sein. Rudolf Spielmann wurde
versprochen, daß er für seine Manuskripte und sein Lebenswerk die Mittel
bekommen sollte, die er benötigte, um nach Amerika auswandern zu können. ...
Spielmann schrieb unermüdlich, gab all seine Notizen und das Manuskript seinen
bis heute unbekannten Auftraggebern und wurde von ihnen vertröstet bzw. hörte
schließlich nichts mehr von ihnen. Bis heute bleibt es ein Rätsel, was mit
seinem Nachlaß passiert ist, an wen und wohin er verkauft wurde, obwohl viele
Spuren in die USA zu führen scheinen. (S.86)
Dass das Manuskript in die USA gekommen
ist, deutet u.a. ein Austausch auf der Webseite www.chesshistory.com an. Dort
fragte Gerald Braunberger am 15. Juni 2002:
According to the well-known book by Fink/Ehn, Rudolf Spielmann
wrote his memoirs during his final stay in Sweden (1939-1942). The manuscript
was not published then, but it seems that the manuscript found its way to the
US during or after the Second World War. My questions are: What happened to the
manuscript, who owns it nowadays, and are there any plans for a publication?
und erhielt von
Werner Berger drei Tage später, am 18. Juni 2002
folgende Antwort:
"My foremost present project is to publish a chess diary of
Rudolf Spielmann's from his early years, translated into English, with 69 of
his games from the period 1900-1905 with the brief introductions he had written
for them. The final manuscript for this book is now being typed, and I hope
that within a year it will be available as the third volume in my Caissa
Limited Editions series."
Source: Dale A. Brandreth: "Some Reminiscences of a Chess Book
Collection" in: BONUS SOCIUS.
Jubileumuitgave voor Meindert Niemeijer ter gelegenheid van zijn 75ste
verjaardag. Koninklijke Bibliotheek, ´s-Gravenhage 1977, pp. 47-53.
Dieser Ankündigung von Dale Brandreth zum
Trotz wurde das "chess diary" jedoch nie veröffentlicht und das Rätsel um das
Manuskript der Spielmann-Autobiographie blieb ungelöst. Tatsächlich scheint
Spielmann um die Früchte seiner Arbeit betrogen worden zu sein, was, so Ehn,
"sein Ende sehr beschleunigt haben dürfte. Die vermeintliche Okkupation der
Deutschen vor Augen, seines einzigen Besitzes und damit all seiner
Fluchtmöglichkeiten beraubt, soll sich der Wiener Großmeister nach Angaben
seiner nächsten Verwandten in dieser aussichtslosen Lage in sein Zimmer
eingeschlossen haben und nach einiger Zeit buchstäblich verhungert aufgefunden
worden sein" (S.86). In einer Fußnote ergänzt Ehn jedoch: "Nach der
schwedischen Version litt Rudolf Spielmann an einer Art Parkinsonscher
Krankheit, die sich zuletzt stark verschlimmerte. ... Die offizielle
Todesursache lautete auf 'Hypertonie und Cardiosclerosis'" (S.91).
Der vergessene Vorläufer Tals
Die Nachwelt vergaß Spielmann bald. Die
nachrückenden Meister wie z.B. Botwinnik oder Keres veröffentlichten in ihren
Partiesammlungen ihre Siege gegen Spielmann und dessen Liebe zum Angriff galt,
anders als die kühn vorgetragenen Thesen der Erneuerer wie Nimzowitsch, Réti
und Tartakower, bald als altmodisch und wurde belächelt. So schreibt Réti in
Die Meister des Schachbretts:
[Spielmann] sucht das Heil des Schachspiels in der Rückkehr zum
Stil der alten Meister ... . Spielmann ist der letzte Barde des Gambitspiels
und wollte insbesondere das Königsgambit zu neuem Leben erwecken. Heute kann
man Spielmanns Wollen und Wirken bereits vom historischen Standpunkt aus
betrachten. Er hat zu seinem Unternehmen alle Gaben mitgebracht: Nicht nur
größtes Kombinationstalent und Phantasie, sondern auch ein Sichauskennen, ein
Zuhausesein in komplizierten Stellungen .... Daher ist es selbstverständlich,
daß er große Erfolge erzielen konnte. In seinem eigentlichen Wollen aber hat er
Schiffbruch gelitten. Seine besten Resultate erzielte er gegen schwächere
Gegner, welche in komplizierten Stellungen den Kopf verloren. Seine
Gewinnpartien alten Stils sind sehr interessant, aber nicht überzeugend und
deshalb konnte er auch nicht Schule machen. (Richard Réti, Die Meister des
Schachbretts, Zürich: Edition Olms 1983, Nachdruck der Ausgabe von 1930,
1931, S. 236-237.).
Ein
herablassendes Urteil und wie so vieles, was Réti über seine Kollegen schreibt,
falsch. Das zeigen schon die Zahlen. Spielmann erzielte im Laufe seiner
Karriere gegen die besten Spieler der damaligen Zeit durchaus achtbare
Ergebnisse: Gegen Capablanca z.B. +2,=8,-2, gegen Aljechin, +2,=10,-4, gegen
Rubinstein +12,=8,-15, gegen Lasker +0,=3,-1 und gegen seinen Kritiker Réti
immerhin +12,=14,-14. Nur gegen Nimzowitsch gelang Spielmann selten etwas; hier
lautet die Bilanz +4,=12,-12.
Und was Spielmanns "Gewinnpartien alten
Stils" angeht, so wurde Spielmanns Tradition mutiger, intuitiver Opfer, die
nicht immer analytisch korrekt waren, aber den Gegner vor praktische Probleme
stellten, bald fortgesetzt. Und zwar von niemand anderem als Mikhail Tal und
später von Alexei Shirov. Leider führt hier der Titel von Spielmanns Buch
Richtig Opfern ein wenig in die Irre. Hatte Tal denn nicht gezeigt, dass
die schönsten Opfer nicht "richtig", sondern intuitiv waren und sich einer
klaren Einschätzung entzogen? Dass, wie er es formulierte, im Schach 2+2 auch
einmal 5 sein kann? Aber es waren genau diese intuitiven Opfer, die Spielmann
am Herzen lagen, und die er "wirkliche Opfer" nannte. Und wenn er schreibt "im
höheren Sinne [sind] auch viele Opfer als korrekt zu bezeichnen, die einer
nachträglichen Untersuchung nicht standhalten können" (Rudolf Spielmann,
Richtig Opfern!, S. 26.), so meint man Tal sprechen zu hören.
Aber Spielmann predigte nicht nur, er
praktizierte auch. Und wären die nachfolgenden Partien nicht bereits gespielt
worden, als Tal noch gar nicht auf der Welt war, so würde man sie vielleicht
als typische Tal-Partien bezeichnen. Sie alle belegen Spielmanns geniales
Gespür für den Angriff.
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