ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024
ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan
Evgeni ATAROV:
„Das Eintauchen in die Kindheit“
Der jetzige Weltmeister und der zukünftige (aber wer?)
... Dieser Artikel hat so lange auf seine Stunde gewartet, dass ich ihn nun unbedingt schreiben muss. Konnte ich Ihnen ihn jetzt schon schmackhaft machen? Na, also – dazu ist das Kinderschach fähig und genau darüber werden wir heute sprechen. Wie Ihnen wahrscheinlich bekannt ist, wird das Kinder-,das Frauen- und das Veteranenschach von der schreibenden Zunft verachtet, als etwas Minderwertiges, ihren Federn nicht Würdiges, angesehen. Von deren Existenz wissen wir nur Dank der Bemühungen der Enthusiasten und Trainer. Alle diese drei Arten des Schachs haben eines gemeinsam - sie sind absolut nicht vorhersagbar! Dies bringt uns, die Schreiberlinge, vermutlich in Verlegenheit...
Noch dazu verwirrt uns die Ungewissheit, die Notwendigkeit eine ganze Menge unbekannter Namen von jungen Talenten auswendig zu lernen, die, statt sich in ein paar Jahren in die neuen Kasparovs und Kramniks zu verwandeln, plötzlich mit dem Schach, zu Gunsten von Skateboardfahren oder einem anderen neuen populären Hobbys, aufhören. Überhaupt, wie kann man ernsthaft über Kinderturniere schreiben, wo du statt der ernsthaften Atmosphäre des erwachsenen Wettkampfs, in einem Bazar mit ewig schreienden Kindern und ihren hastigen Müttern, die ihren Kindern nicht einen Schritt von der Seite weichen, landest. Nach alle dem wollen Sie immer noch, dass wir das Kinderschach lieben?
Liebe hin oder hier, arbeiten muss man trotzdem. Heute berichte ich über zwei
Turniere, zwischen denen eine gewisse Zeit verging, d.h. Wijk aan Zee, das
Weltmeisterschaftsfinale und Linares lagen dazwischen. Ein Turnier sah ich mit
eigenen Augen und hielt mich in seinem Epizentrum auf (es fand im Moskauer
Petrosian Schachclub statt, wo ich auch arbeite). Über das anderen Turnier weiß
ich hauptsächlich aus den Erzählungen seiner Teilnehmer...
Das Erstere fand zum 17. mal in Folge, zu Ehren des Klubbegründers Tigran Vachtangovich, der im August 1984 von uns gegangen ist, statt. Seitdem hat sich einiges verändert - das Land, die Regierung und selbst die Menschen, aber das Memorial des „eisernen Tigran“ blieb unverändert. Nur seine Form änderte sich manchmal, um schließlich beim Scheveninger System zu landen, bei dem jeder gleichzeitig für sich selbst und für seine Mannschaft spielt...
Damit Sie sich ein Bild von diesem Turnier machen können, möchte ich nur kurz erwähnen, dass hier früher schon Topalov, Morosevitch, Asrian und die heutigen „Sterne“ – Kosteniuk und Grischuk gespielt haben. Der junge Karen hat hier schon 9 aus 9 gemacht, wenn er gut in Form war und der 12-jährige Morosevitch hat das beste Ergebnis am ersten Brett gemacht und seinen Preis aus den Händen von Alexander Roschal, der schon in den 60-iger Jahren zusammen mit Tigran Petrosian sein Schachmagazin „64“ gründete, erhalten. Die Letztgenannten haben hier nie besonders doll gespielt – Grischuk kam nie unter die ersten 10 und Kosteniuk, die sonst alles gewonnen hat, konnte hier nie Erste werden. Schicksal, anders kann man das nicht nennen!
Der jetzige Turniersieger kann es mit den vorherigen locker aufnehmen... Es kam
so, dass sich die beiden Moskoviter – der 15-jährige Boris Grachev und der
16-jährige Nikolai Kurenkov – ein Kopf an Kopf Rennen lieferten. Sie haben alle
ihre Gegner sowohl mit Schwarz, als auch mit Weiß besiegt, bis sie in der
direkten Partie aufeinander trafen! Grachev, der die schwarzen Steine führte,
hatte nichts gegen ein Remis, Kurenkov sehr wohl! Er bewies dann auch, dass der
Anzugsvorteil in seinen Händen eine sehr gefährliche Waffe ist... Als am
nächsten Tag diese Partie mit Kommentaren in die Hände von GM Sergey Shipov, dem
Hauptexperten von KasparovChess, gelangte, sagte er nur - „Die Jugend wächst!“.
Ja, die Jugend wächst, und zwar sehr schnell.
Apropos, Kurenkov, der sich nach diesem Sieg seiner Sache schon zu sicher war,
hatte Unrecht. Während er ein paar ruhige Remis machte, hörte Grachev nicht auf
zu gewinnen! Am Ende, vor der letzten Runde, konnte Nikolai keinen Einfluss mehr
nehmen - Boris gewann zum 8. Mal und wurde somit Erster... Vermutlich hat der
Silbermedaillengewinner all seine Kräfte bei der Analyse und Kommentierung
seiner Partie gegen Grachev gelassen. Kurenkov spielte nach dem Motto „kein Tag
ohne Meisterwerk“ – und all seine Partien landeten in einer Mappe mit
ausgewählten Meisterpartien. Man muss erwähnen, dass Grachev diese Mappe nicht
einmal zu Gesicht bekam. So standen auf der Schlusszeremonie beide vor Vladimir
Kramnik (schon seit Jahren ist es Tradition, dass die Sieger des Turniers vom
Weltmeister geehrt werden, häufig vom Amtierenden!): Kolia mit eine Menge
kleiner Pokale und Boria nur mit einem, aber dem Großen.
Vladimir Kramnik mit Boris Grachev
Kramnik gibt Autogramme
Wie mir die berühmte Ljudmila Belavenetz (die Tochter von Meister Belavenetz,
der im Krieg fiel und ein verdienter Trainer war, Weltmeisterin im Fernschach,
Autorin und Moderatorin der „Schachschule“, die sogar Michael Tal gesehen hat)
erzählte, ist Grachev der talentierteste junge Schachspieler seines Alters in
Moskau. In seinen jungen Jahren hat er es schon geschafft, mit vielen bekannten
Schachtrainern zusammenzuarbeiten – Lepioschkin, Bychovski und Wulfson. Sein
permanenter Trainer Bychovski meint, dass er sehr talentiert ist, aber häufig in
den letzten Runden verliert und manchmal in Zeitnot kommt, in der alles weitere
an Roulette erinnert. Im letzten Jahr ist aus dem kleinen Jungen, der kaum über
die Tischkante sehen konnte, ein 2 Meter großer Riese geworden... Merken Sie
sich dies - das ist ein deutliches Zeichen auf künftige Turniersieger. Alle
jungen russischen Talente sind dürr und lang wie eine Bohnenstange!
Keine Regel ohne Ausnahme. So ist der neue russische U20-Meister Ernesto
Inarkiev nicht besonders groß, obwohl auch dürr (sie werden denken, dass ihm nur
die Hälfte des schachlichen Schicksals gegeben wurde). Sein Turniersieg lässt
daran aber keine Zweifel aufkommen, dazu noch mit einem phänomenalem Ergebnis –
9,5 aus 11 – zwei Punkte Vorsprung auf den Zweitplatzierten! So etwas gab es in
den Turnieren der letzten Jahre lange nicht. Wenn Sie sich dazu noch die Partien
des schüchternen, netten 16-jährigen Jungen anschauen...
Wenn Sie in der ChessBase-Datenbank seinen Namen suchen, werden Sie überrascht
sein - statt „Russland“ steht dort „Kirgisien“. Wenn ich noch den Namen der
Stadt hinzufüge, in der das junge Talent schon seit 2 Jahren lebt, wird Ihnen
alles klar - Elista. Überspitzt könnte man sagen, dass Ernesto den Weg gegangen
ist, den vor ihm schon Ponomariov eingeschlagen hat, wobei Ruslan schon in
Kalmykien unter den Fittichen von Kirsan Illumzinov bleiben wollte, als er kaum
13 Jahre alt war...
Auch er hat in Elista zum ersten Mal von sich reden gemacht, obschon etwas
kurios. Inarkiev spielte in der letzten Runde gegen Sveschnikov und es sah so
aus, dass er einen Turm und somit die Partie gewinnen würde. Ewgeni Ellinovich
reichte seinem Gegner schon die Hand, um die Partie aufzugeben, woraufhin ihm
Ernesto plötzlich sagte, dass man den Turm nicht nehmen dürfe, da eine
Pattstellung entstünde! Der erfahrene GM musste sich erst sammeln und drückte
Inarkievs Hand als Zeichen... seines guten Spiels - und setzte die Partie fort!
Später, im tiefen Endspiel, vielleicht 50 Zuge später, als das Unentschieden
nicht mehr zu vermeiden war, unterschrieben die Kontrahenten ihre
Partieformulare. Sveschnikov notierte, um eine Last von seiner Seele zu nehmen,
für sich auf seinem Partieformular eine Null. Auf die Frage des Schiedsrichters:
„Welches Ergebnis sollen wir eintragen?“ – antwortete er ruhig: „Mein Gegner
soll es entscheiden!“ Inarkiev entschied sich für den Gewinn...
Das Stil des jungen Champions kann entweder Begeisterung oder Hass hervorrufen,
ähnlich wie beim jungen Kortschnoj. Genau wie Viktor Lvovich in jungen Jahren,
nimmt Ernesto zu Beginn das Feuer seines Gegners auf sich, um ihn dann nach und
nach unauffällig zu überspielen. Wenn man seine Partien so sieht, hat man das
Gefühl, dass unser Trapezkünstler jeden Augenblick die Balance verlieren wird,
aber jedes Mal passiert ihm nichts und er gewinnt die Partie. Er nimmt Bauern
und Figuren, die offensichtlich „vergiftet“ sind und spielt scheinbar „unsolide“
Eröffnungen, aber trotzdem kann ihm keiner etwas anhaben.
Er hat nicht irgendwelche kleinen Jungen nach Hause geschickt, nein alles gute
Spieler - Kokarev, Smirnov (der letztes Jahr für Furore sorgte), Grigorianz,
Bocharov... Im ganzen elfrundigen Turnier hat er nur eine einzige Partie
verloren – gegen den zweitplatzierten Alexander Riasanzev. Er gehört, genau wie
Alexandra Kosteniuk, zu den „jüngsten Meistern“, den „jüngsten GM“. Als
Alexander nach Moskau zurückkehrte, meinte er süffisant zu dieser Partie: „Ich
habe lange nicht gegen Kinder gespielt!“ Und wirklich, in dieser Partie
offenbarten sich alle negativen Seiten des Spiels von Inarkiev, eigentlich ist
er nie aus der Eröffnung herausgekommen...
Danach aber remisierte Riasanzev viermal in Folge, Inarkiev dagegen gewann alle seine vier Partien! Schlussendlich hatte alles wieder seine Richtigkeit. Ich möchte nicht, wie im Falle von Grachev, weit in die Zukunft schauen, aber wie die Erfahrung lehrt, wird man nicht zufällig mit einem Zwei Punkte-Vorsprung Champion!
Sie werden mich vermutlich fragen, was diese beiden Turniere gemeinsam haben?
Gar nichts, sie haben sich in meinem Kopf nur irgendwie mit einem unsichtbaren
Faden verbunden. Nur das Durchsetzungsvermögen der beiden Gewinner verbindet
diese Turniere irgendwie. Trotz der Niederlagen gegen ihre Konkurrenten, haben
Grachev und Inarkiev nicht die Köpfe hängen lassen, im Gegenteil, sie kämpften
mit doppelter Energie weiter und entrissen ihren Konkurrenten den Sieg
buchstäblich aus den Händen. Auf solch einen Glauben an die eigenen
Möglichkeiten können auch erwachsene Profis neidisch werden!