Wie man Schach auf die Titelseite in New York bekommt
Von Misha Savinov
Silvio Danailov
Es ist sehr merkwürdig, dass ich, anstatt die Partien der
Schachweltmeisterschaft und die damit verknüpfte Spannung und Aufregung zu
schildern, gezwungen bin, eine Story zu schreiben, wie Schach es auf die
Titelseite der New York Times gebracht hat. Für dieses nebensächliche Ereignis
war eine wilde Mischung aus Ehrgeiz und Inkompetenz, Druck und
Unentschlossenheit, Diplomatie und Beleidigung erforderlich.
Danailovs paranoider (oder klug durchdachter) Zug provozierte
eine unkontrollierte Kettenreaktion, die die seit 1993 am stärksten herbei
gesehnte Schachshow beinahe zerstört hätte.
Beim Surfen im Web stellte ich fest, dass die Schachgemeinde keineswegs
gespalten ist. Jeder (Bulgaren ausgenommen) scheint auf Kramniks Seite zu sein.
Ich kann das verstehen. Kramnik bewies normales menschliches Verhalten.
Vladimir Kramnik
Er wurde beleidigt und fühlte sich angegriffen, was dazu
führte, dass er die nächste Partie ignorierte, sich über unfaire Entscheidungen
beklagte und Unterstützung suchte. Es gibt kein Grund, ihm etwas vorzuwerfen;
die meisten von uns wären empört, wenn unsere Gegner ein solch delikates Thema
an die Weltöffentlichkeit bringen würden.
Aber … und ich vermute, Sie wissen bereits, was ich sagen werde. Ja, das Appeals
Committee traf eine sehr unglückliche und wahrscheinlich technisch falsche
Entscheidung. (Nebenbei bemerkt sollte ich erwähnen, dass der Vorschlag, den
Bulgaren die Videoaufzeichnung zu übergeben, nicht einstimmig akzeptiert wurde.)
Aber wie sollte man mit einer solchen Situation umgehen? Einen offiziellen
Protest einreichen und den Wettkampf fortsetzen – das ist meine Antwort. Sich
überall außer bei den Offiziellen beklagen und eine kinderleichte Niederlage
erleiden – das ist, was tatsächlich geschah.
Ich stimme zu, dass Silvio Danailov den Prozess in Gang gesetzt hat und das AC (Makropoulos,
Azmaiparashvili und Vega) noch weiter Öl ins Feuer gegossen haben. Allerdings
trägt auch Carsten Hensel ein Teil der Verantwortung für die anschließenden
Probleme, die den Wettkampf beinahe zum Abbruch geführt hätten.
Carsten Hensel
Als Delegationsleiter musste er sich an die Wettkampfregeln
halten. Als Bürokrat, wenn man so will. Alle Trümpfe waren in seiner Hand. Die
öffentliche Meinung in der ganzen Welt war auf Kramniks Seite. Er musste nur ein
paar richtige Züge machen, aber irgendwie wurden sie übersehen.
Selbst später, als er schließlich einen offiziellen Protest
einreichte, musste ihn das neu gewählte Appeals Committee an die erforderliche
Kaution und andere Details erinnern … Um Gottes Willen, RTFM! (Abkürzung für „Read
the fucking manual“, etwa: „Lies das verdammte Handbuch“, Anm. des Übers.)
Carsten Hensel, li. Boris Kution (Mitglied des neuen Appeals Committee)
Hier zeigt sich, wozu Profis durch Wettbewerbe auf höchstem Niveau gebracht
werden – sie fangen an, grobe Fehler zu machen. Nicht nur Schachspieler,
sondern, wie wir sehen, auch Manager, Offiziellen und natürlich Journalisten –
nobody is perfect.
Als ich meinen letzten Bericht geschrieben habe, konnte ich mir nicht
vorstellen, dass die Toilettenkrise so ernst ist. Doch als ich ein paar Stunden
vor Beginn der fünften Partie ins Pressezentrum kam, stellte sich schnell
heraus, dass die Lage kritisch ist.
Gerüchte tauchten auf, dass Kramnik nicht spielen würde. Ein
beunruhigter Silvio Danailov redete mit Journalisten, Organisatoren und
FIDE-Leuten. Kirsan war nicht zu sehen, da er nach Sotschi zu einem Treffen mit
Putin gefahren war. Ohne den FIDE-Präsidenten schien niemand in der Lage zu
sein, entschlossene Entscheidungen zu treffen. Alles sah düster aus.
Topalov und Balgabaev, Ilyumshinovs rechte Hand
Die um 15 Uhr verkündete technische Pause bestätigte die
schlimmsten Befürchtungen. Kramnik war anwesend, in seinem Ruheraum, aber er
weigerte sich zu spielen. Miguel Illescas bestätigte dies im Pressezentrum –
Vladimir wird nicht spielen, wenn die Toilette nicht wieder aufgeschlossen wird.
Da niemand außer dem FIDE-Präsidenten die Entscheidung des ACs aufheben konnte,
und Kirsan gerade einen Brief geschickt hatte, in dem dessen Entscheidung
unterstützte, war klar, dass Topalov ausgezeichnete Chancen hatte, den Rückstand
zu verringern. Veselin untersuchte die neue Toilette, die vorher den Damen
vorbehalten war und kehrte in den Spielsaal zurück. Die Uhren wurden um 15:22 in
Gang gesetzt.
Topalov, allen am Brett
Mr. Makropoulos begann seine Pressekonferenz etwa 15 Minuten
später. Er legte die Position der FIDE recht eindeutig war, wenn auch mit vielen
Wiederholungen.
Pressekonferenz mit Makropoulos
Es ähnelte der berühmten Moskauer Pressekonferenz von
Campomanes, die den Wettkampf 1984-85 beendete – der Mann wiederholte einfach
die gleichen Dinge, entweder, um die Lage neu zu bewerten oder um neue
Entwicklungen abzuwarten. Kramnik brauchte nicht lange, um nach Zeit zu
verlieren und mit ein paar Schritten zur Pressekonferenz zu stoßen.
Ich habe Vladimir noch nie so aufgeregt gesehen. Anfangs sprach er Englisch und
stritt mit Makro, indem er ihn fragte, ob die FIDE glaube, er würde von der
Toilette aus betrügen. Die Spannung war beinah körperlich zu spüren – manchmal
hatte ich das Gefühl, Kramnik verspürte den Wunsch, ihm eine reinzudrücken …
Dann beruhigte sich Vladimir ein wenig, fiel ins Russische und gab eine
Erklärung ab, nach der die Journalisten zwei Anrufe machten bzw. zwei Emails
schrieben. Den ersten an ihre Auftraggeber, den zweiten an ihre Familien: ‘Es
sieht so aus, als ob wir nach Hause fahren.’
Ich war im Pressezentrum und arbeitete am Bulletin, das aus
offenen Briefen, Protesten, Interviews und Fotos bestand, als Kirsan Ilyumzhinov
gegen 22:40 zusammen mit anderen hochrangigen russischen Politikern den Raum
betrat. ‘Oh mein Gott, was für eine Situation! Was denken die Leute darüber? Was
würden Sie mir raten, zu tun?’ – wandte er sich mit seinem üblichen Lächeln an
die Journalisten. ‘Retten Sie den Wettkampf, Sie sind die einzige Person, die
das jetzt kann’ – antwortete ein junger Reporter. Aber zu diesem Zeitpunkt
schien das überhaupt nicht mehr machbar zu sein.
Kann Ilyumshinov das Match retten
Der nächste Tag begann für mich mit einem Besuch beim Kinderturnier, das vor
allem organisiert worden war, damit die jungen Schachfans die großen Spieler
sehen konnten. Der Wettkampfaufschub war wirklich niederschmetternd für sie …
Anschließend frühstückten wir im Hauptgebäude von Chess City.
Chess Palace
Frühstück ist eine großartige Gelegenheit, Neuigkeiten zu
erfahren, und tatsächlich gab es viele davon. Unter anderem erfuhren wir, dass
Zhukov, der Präsident des Russischen Schachverbands, Kramnik angerufen hatte, um
ihn seiner völligen Unterstützung zu versichern (Gerüchte, aber sehr plausible
Gerüchte). Neben der offensichtlich anfechtbaren Entscheidung, Topalov einen
kampflosen Punkt zu geben, führte das zu einer Blockade der Situation.
Die Verhandlungen zogen sich über den ganzen Tag hin, nur von
kleinen Imbisspausen unterbrochen. Irgendwann gingen die Parteien ins Freie,
wahrscheinlich, weil Hensel und Markopoulos schwere Raucher sind (aber
vielleicht auch der Publicity wegen; wie auch immer, ich glaube, das war eine
gute Idee).
Verhandlungen an der frischen Luft
Hensel, Balgabaev, Ilyumshinov, Makropoulos
Presseerklärungen
Nach dem Ende der Runde erzählte ich den FIDE-Leuten von dem Artikel auf der
Titelseite der New York Times, der der Wettkampfpause gewidmet war. Sie haben
ihn aufmerksam gelesen.
Balgabaev, Makropoulos, Ilyumshinov lesen die Nachrichten
Hensel und Bareev
Kann mir irgendjemand sagen, wann Schach das letzte Mal auf
der Titelseite der New York Times war? Fischer? Kasparov-Short? Karpov-Korchnoi?
Ich frage mich das nur einfach …
Auf dem Weg vom Verhandlungsort traf ich die Bulgaren, die um ihr Landhaus
herumliefen. Topalov, in grünem Hemd mit gelben Streifen, war sehr mitteilsam
und lebhaft.
Topalov gestikuliert lebhaft
Danailov redete in sein Handy und er redete viel.
Silvio Danailov
Doch Sport-Express Reporter Yury Vasiljev passte einen Moment
zwischen den Anrufen ab, und fragte ihn, wie es wäre, dem Druck nachzugeben und
ein Stand von 3-1 zu akzeptieren. Silvio war unnachgiebig: ‘Wenn wir das
akzeptieren, wird ganz Bulgarien denken, dass sie uns gekauft haben. Wir werden
uns dem Druck nicht beugen.’ Schlechte Neuigkeiten für den Wettkampf, dachte
ich. Kramnik ist keineswegs kompromissbereiter als Danailov.
Am nächsten Tag bestätigte eine Presseerklärung von Kirsan und den beiden
Managern, dass in Bezug auf das Ergebnis keine Fortschritte erzielt wurden.
‘Die Toilettenfrage wurde beinahe geklärt’ – wen interessierte
das wirklich?! Dennoch vergingen weitere sieben Stunden, bis aus ‘beinahe’
‘vollkommen’ wurde … Irgendwann schlugen die Organisatoren vor, dass Topalovs
Delegation die Toiletten Stein für Stein abtragen, untersuchen und mit von der
bulgarischen Seite ausgewähltem Material wieder aufbauen sollten. Solch
drastische Maßnahmen wurden abgelehnt, aber Danailovs Spezialisten untersuchten
jeden Zentimeter der Toilette, während Silvio eine schnelle Partie mit Kirsan
spielte und sich ein paar Webseiten, auf denen Laptops angeboten wurden,
anschaute.
Die Frist für die endgültige Entscheidung über den Stand des Wettkampfs lief um
Mitternacht ab, aber zu guter Letzt musste doch noch etwas früher als im
Zeitplan vorgesehen geschehen. Ilyumzhinovs Pressesekretär informierte die
Journalisten darüber, dass die Erklärung um 23 Uhr im Hauptgebäude von Chess
City abgegeben würde. Alle eilten dorthin, abgesehen von den hungrigsten
Zeitungsreportern, die keine Chance mehr hatten, ihre bereits geschriebenen
Artikel zu ergänzen.
Die endgültige Entscheidung wurde im 4. Stock gefällt. Niemand vom Kramnik-Team
war erschienen. Topalov ging mit Danailov nach oben, aber Letzterer kehrte sehr
schnell zurück und überließ seinen Spieler einem Gespräch unter vier Augen mit
Ilyumzhinov. Doch selbst in einer solchen Situation gelang es Kirsan nicht,
Veselin davon zu überzeugen, zum Helden zu werden. Der Stand von 3-2 blieb
unverändert.
Warum 3-2? Es gab starken öffentlichen Druck, alles zu Gunsten Kramniks zu
regeln, und es gab starken politischen Druck, der in die gleiche Richtung ging.
Doch die Sache war ein juristisches Problem und etliche Sportanwälte, darunter
einer vom IOC, berichteten, dass Topalovs Position hier stärker wäre.
Verschiedene andere Quellen, darunter Chessbase, zitierten andere Anwälte, die
das Gegenteil behaupteten. Nun gut, in einem Rechtsstreit gibt es kein Richtig
oder Falsch, bis der Richter das Urteil verkündet, weshalb jede strittige Frage
in Hinblick auf Wahrscheinlichkeiten eingeschätzt werden sollte. Die FIDE
ergriff nicht Partei für Topalov – die FIDE fällte lediglich eine Entscheidung,
die ihr weniger riskant erschien.
Der nächste Morgen war niederschmetternd. Ich hatte meine Sachen nur deshalb
nicht gepackt, weil ich nicht sicher war, ob das Match sofort zugunsten von
Topalov entschieden würde oder ein bisschen später, nachdem Kramnik drei Partien
in Folge kampflos verloren hätte. Doch genau in diesem Moment schwang irgendwo
in Chess City das Pendel in die andere Richtung. In einem Telefongespräch mit
einem bekannten Insider erhielt ich einen Hinweis, dass der Wettkampf weiter
gehen könnte.
Peter Svidler: "Nur Gott kennt die Antwort."
(Nein, es war nicht Peter Svidler, der vor zwei Tagen in
Elista angekommen ist. Ich habe nachgefragt, aber Peter hat gesagt, dass nur
Gott die Antwort kennt.)
Die Leute im Pressezentrum waren fast alle ziemlich niedergeschlagen. Doch um
14:50 folgten alle dem Ritual und gingen zur Bühne, wo sie sahen, wie Carsten
Hensel aus Kramniks Ruheraum auftauchte. Carsten, wie gewöhnlich untadelig
gekleidet (was das betrifft, kann ihm hier nur Makropoulos Konkurrenz machen),
eilte über die Bühne und landete im Saal. Dann erschien Topalov, voll
konzentriert und mit einem Glas Wasser in der Hand. Und dann, nach ein paar
Sekunden, trat eine groß gewachsene Gestalt hinter dem Vorhang hervor … Kramnik.
Topalov sah ihn, lächelte und streckte seine Hand aus. Alles geschah schnell,
der Händedruck war kurz, aber die Spieler zeigten eindeutig keine Feindschaft
gegeneinander und dies ist vielleicht der wichtigste Teil der Geschichte. Nichts
Persönliches; einfach nur Business.
Über die Partie kann man nicht viel sagen. Der Wettkampf
befand sich in einem hoffnungslosen Koma, aber wachte plötzlich auf. Wen kümmert
es, wenn die ersten Bewegungen noch ein wenig zittrig sind? Topalov sicherte
sich einen kleinen Vorteil in der Eröffnung, wobei er dafür die Damen tauschen
musste. Kramnik verliert solche Stellungen nicht. Punkt.
Obwohl die Situation nicht vollkommen geklärt ist (Proteste treffen weiterhin
ein), lächelte Vladimir während der Pressekonferenz sehr oft.
Manchmal ist es gut, sich wie ein Held zu fühlen.
Hensel, Illescas zeigt vier Finger, Svidler