Interview mit Professor Christian Hesse
Von Dagobert Kohlmeyer
Christian Hesse hat an der Harvard Universität promoviert und war bis 1991 Fakultätsmitglied
der University of California in Berkeley. Seitdem ist er Professor für Mathematik
an der Universität Stuttgart. Der 48-jährige Wissenschaftler unterrichtete an
Hochschulen in der ganzen Welt, von Australien bis Chile. Vor zwei Jahren veröffentlichte
Hesse das Buch "Expeditionen in die Schachwelt", das von der Presse als eines
der geistreichsten und lesenswertesten Bücher gefeiert wurde, die je über das
Spiel geschrieben wurden. Als Botschafter der Schacholympiade hält Christian
Hesse beim Workshop "Schach und Mathematik" im Rahmenprogramm in Dresden am
21. November den Eröffnungsvortrag. Dagobert Kohlmeyer sprach mit dem Wissenschaftler.
Prof. Dr. Christian Hesse
Herr Hesse, wann fiel Ihr Talent für das Fach Mathematik zum ersten Mal
auf? Waren Sie Ihren Mitschülern turmhoch überlegen?
Meine Mathematik-Fähigkeiten traten schon sehr früh zutage. Aber eine Klasse
übersprungen habe ich deshalb nicht. Vielleicht, weil ich als Junge relativ
scheu und zurückhaltend war. Da wurden manche Sachen nicht so sichtbar. Doch
mathematisch war ich schon in jungen Jahren recht gut.
Wie eng ist der Zusammenhang von Mathematik und Schach?
Zwischen ihnen gibt es sehr viele Beziehungen. In beiden Disziplinen geht es
um logisches Denken, Strukturen und Muster. Mathematik wird ja häufig als die
Wissenschaft von den Mustern bezeichnet. In der Wahrscheinlichkeitstheorie geht
es zum Beispiel um Muster in Zufallsprozessen.
Liegt nicht jedem Zufall auch eine Gesetzmäßigkeit zugrunde?
Ja, auch Zufallsprozesse sind nicht chaotisch und regellos. Auch der Zufall
hat seine mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Das Gesetz der großen Zahlen ist
im Grunde so ein mathematisches Theorem, das schon Eingang in die Alltagssprache
gefunden hat.
Mathematik ist für viele Normalbürger sehr trocken. Sie wollen diesem
Vorurteil mit einem neuen Buch abhelfen?
Das Buch heißt "Das kleine Einmaleins des klaren Denkens" und wird in Kürze
erscheinen. Es hat die erklärte Absicht, den Leser mindestens zweifach zu ermuntern:
Eine Einladung zum Abenteuer des Klügerwerdens anzunehmen und die Schönheit
des Denkens beim Lösen von Problemen auszukosten. Es geht mir darum, Denkwerkzeuge
herauszuarbeiten, quasi als Intelligenzverstärker. Zum Beispiel das Widerspruchsprinzip.
Daneben enthält das Buch mathematische Paradoxien, Geschichten, Aphorismen,
Zaubertricks und eine gute Dosis Humor.
Mathematik: Eine Welt zum Wohlfühlen
Wie funktioniert das Werkzeug des Widerspruchsprinzips?
Wenn man eine Aussage beweisen will, dann kann man einmal das genaue Gegenteil
dieser Aussage als wahr annehmen und von da aus versuchen, folgerichtig weiter
zu schließen. Mit korrekten logischen Schlüssen. Bis man in einen Widerspruch
hineinläuft. Dies bedeutet dann, dass das Gegenteil der Aussage eben nicht richtig
sein kann, sondern die Aussage selbst richtig sein muss.
Kann auch die Negation als Methode helfen wie beim TV-Quiz mit Günther
Jauch, wo vier Antworten möglich und drei davon auszuschließen sind?
Das Ausschlussprinzip ist auch eine Art mathematisches Modell. Wenn ich etwas
ausgeschlossen habe, muss das Gegenteil davon richtig sein.
Wie sind Sie darauf gekommen, Mathematiker zu werden? Was hat Sie an dieser
Wissenschaft gereizt?
Ich hatte immer eine große Begeisterung für Zahlen und für Denkprozesse. Als
Mathematiker muss man sich übrigens nicht sehr viel merken können. Man muss
Strukturen zusammenknüpfen und Beziehungen zwischen ganz verschiedenen Dingen
herstellen. Viel lesen und sich viele Dinge einprägen muss man dabei merkwürdigerweise
nicht.
Es gibt Leute, die große Zahlen wie 4 687 x 528 blitzschnell multiplizieren
können. Sie auch?
Nein, das ist aber streng genommen keine Mathematik, sondern Arithmetik. Es
gibt Menschen, die eine ganz extreme, enge Hochbegabung haben. Zum Beispiel
auf Anhieb sagen können, auf welchen Tag der 17. Februar 2034 fallen wird.
Sie meinen das Phänomen der Kalenderidioten.
Ja. Ihr Gehirn hat eine phänomenale Fähigkeit, Zahlen und Daten zu speichern,
aber sie wissen nichts damit anzufangen. Also, sie können vier- oder fünfstellige
Zahlen schnell multiplizieren, doch das Verhältnis zwischen 50 Cent und einem
Euro begreifen sie nicht.
Sind solche Menschen im Gehirn anders verdrahtet als wir? Großmeister
Wassili Iwantschuk schaut zum Beispiel während der Partie mehr an die Decke
als aufs Brett. Er braucht nicht hinzusehen, weil er alle Stellungen im Kopf
hat.
Das ist sicher eine hoch spezialisierte Form von Begabung, die natürlich wunderbar
ist, wenn sie noch mit anderen Begabungen einhergeht. Es gibt jedoch häufig
den Fall, dass Leute nur auf eine Sache fixiert sind und nebenan für sie nichts
mehr existiert.
Wie der zerstreute Professor, der nicht über die Straße findet…
Er ist nicht zerstreut, sondern im Grunde nur auf sein Fach fixiert. Der Mann
ist ganz tief in seinen Geist versunken und vergisst alles drum herum. Ein Zustand,
den der ungarische Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi als Flow-Erlebnis
bezeichnet. Also eine Art Trance, in der man alles vergisst. Und er hat auch
gesagt, dass Schach zum Beispiel eine Möglichkeit ist, in diesen Rausch zu kommen.
Das merkte er im Krieg, als er nur beim Schach alles Bedrohliche vergessen konnte.
Für Schachspieler kann der ständige Aufenthalt in ihrem Mikrokosmos aber
auch zu einer Droge werden, von der sie nie mehr loskommen.
Ich glaube auch, wenn man die Fähigkeit hat, dass die Analysiermaschine stets
im Kopf mitläuft, dann kann Erholung manchmal ein wirkliches Problem sein.
Weil der Schachspieler selten oder niemals abschaltet.
So ist es. Ich hatte mit Wladimir Kramnik vor einigen Jahren in Moskau ein sehr
interessantes Gespräch. Der damalige Weltmeister sagte mir genau das: Ganz egal,
was er tut, ob beim Telefonieren oder bei anderen Tätigkeiten, er kann diese
Analysiermaschine im Kopf mitlaufen lassen und behält beim Reden die Stellungen
im Kopf. Das ist natürlich auf der einen Seite eine wunderbare Fähigkeit, kann
jedoch andererseits auch zum Durchbrennen der Sicherungen führen.
Sie sind Gastredner bei der Schacholympiade in Dresden. Was bieten Sie
in Ihrem Hauptvortrag am Rande des Turniers?
In dem Eröffnungsvortrag zum Workshop, den Professor Roos von der TU Dresden
organisiert hat, spreche ich zum Thema Schach und Mathematik. Dort werde ich
unter anderem etwas über die Geometrie des Schachbretts sagen. Auch darüber,
wie man Schachprobleme mit mathematischen Methoden lösen kann. Es gibt da eine
ganz ausgefeilte Theorie. Sie läuft unter dem Begriff kombinatorische Spieltheorie.
Was für eine Methode liegt denn Retis berühmter Studie zugrunde, wo der
schwarze Freibauer vom weißen König noch auf wundersame Weise eingeholt wird?
Das ist ein Beispiel für Triangulierung. Es hat damit zu tun, dass auf dem Schachbrett
der Weg entlang zweier Schrägen genauso lang sein kann wie die Weglänge entlang
einer Geraden. So erfordert etwa der Weg eines Königs von h8 über e5 nach h2
genau wie der gerade Weg auf der h-Linie herunter nur sechs Schritte.
Weiß zieht und hält Remis
Müssen Schachspieler gute Mathematiker sein oder umgekehrt?
Nicht unbedingt. Ich habe zum Beispiel gar keine ELO-Zahl, weil ich keine Turniere
spiele. Meine Schachspiel-Aktivitäten beschränken sich auf ein paar Fernpartien
mit Freunden. Wir setzen dabei keine Computer ein und haben auch keine Zeitbegrenzung.
Manchmal kann die Antwort auf einen Zug mehrere Wochen dauern, je nachdem, wie
ich beruflich eingespannt bin. Wir kämpfen sehr hart und sind mit Leidenschaft
bei der Sache, aber unsere Schachfähigkeiten halten sich eher in Grenzen.
Sie sind also ein Schachfreund mit viel Passion, aber wenig Praxis.
Ich habe eine große Leidenschaft für das Spiel, so wie ich sie auch für die
Mathematik habe. Meine Mathematik-Fähigkeit ist jedoch größer entwickelt als
die im Schach. Insofern fiel mir die Wahl zwischen beiden Betätigungen als berufliche
Perspektive leicht.
Planen Sie außer Ihrem Vortrag in Dresden noch weitere Auftritte als Schachbotschafter?
Ja, ich bin noch in anderer Weise am Rahmenprogramm der Schacholympiade beteiligt,
und zwar mit der Schauspielerin und Sängerin Vaile. Am 16. November gestalten
wir beiden Olympiade-Botschafter im Dresdner Rathaus eine Matinee mit dem Titel
"Beauty & Brain". Der Ablauf ist etwa folgender: Vaile und ich trinken eine
Flasche Wein, spielen eine Partie Schach und unterhalten uns dabei über Schauspielerei,
Musik, Mathematik, Wissenschaft, Kultur, uns selbst und andere. Danach erzähle
ich etwas vom Besten aus dem Kontext Schach und Wissenschaft. Abschließend präsentiert
Vaile etwas vom Besten aus ihrem Leben als Musikerin. Also eine verbale Jam
Session mit Schach- und Musikanteil.
Sängerin, Schauspielerin, Schachfan: Vaile. Am Sonntag Jam Session mit
Dr. Christian Hesse
Danke für das Gespräch!