Schach: Flow und mathematisches Modell

von ChessBase
15.11.2008 – Was macht Schach so faszinierend? Von außen gesehen passiert meist wenig und wirkliche Zuschauersportarten sehen anders aus. Doch die Spieler erleben das anders. Die starke Konzentration auf das Spiel kann zu einer Art Trance führen, in der man alles um sich herum vergisst. Spielt man auch noch gut, erlebt man einzigartige Glücksgefühle und kommt man in einen Zustand, den der ungarische Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi als "Flow" bezeichnet. Was das mit Mathematik, Réti und der Sängerin und Schauspielerin Vaile zu tun hat, erklärte Mathematikprofessor und Schachfan Dr. Christian Hesse Dagobert Kohlmeyer in einem Interview. Zum Interview...

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Interview mit Professor Christian Hesse
Von Dagobert Kohlmeyer

Christian Hesse hat an der Harvard Universität promoviert und war bis 1991 Fakultätsmitglied der University of California in Berkeley. Seitdem ist er Professor für Mathematik an der Universität Stuttgart. Der 48-jährige Wissenschaftler unterrichtete an Hochschulen in der ganzen Welt, von Australien bis Chile. Vor zwei Jahren veröffentlichte Hesse das Buch "Expeditionen in die Schachwelt", das von der Presse als eines der geistreichsten und lesenswertesten Bücher gefeiert wurde, die je über das Spiel geschrieben wurden. Als Botschafter der Schacholympiade hält Christian Hesse beim Workshop "Schach und Mathematik" im Rahmenprogramm in Dresden am 21. November den Eröffnungsvortrag. Dagobert Kohlmeyer sprach mit dem Wissenschaftler.


Prof. Dr. Christian Hesse

Herr Hesse, wann fiel Ihr Talent für das Fach Mathematik zum ersten Mal auf? Waren Sie Ihren Mitschülern turmhoch überlegen?

Meine Mathematik-Fähigkeiten traten schon sehr früh zutage. Aber eine Klasse übersprungen habe ich deshalb nicht. Vielleicht, weil ich als Junge relativ scheu und zurückhaltend war. Da wurden manche Sachen nicht so sichtbar. Doch mathematisch war ich schon in jungen Jahren recht gut.

Wie eng ist der Zusammenhang von Mathematik und Schach?

Zwischen ihnen gibt es sehr viele Beziehungen. In beiden Disziplinen geht es um logisches Denken, Strukturen und Muster. Mathematik wird ja häufig als die Wissenschaft von den Mustern bezeichnet. In der Wahrscheinlichkeitstheorie geht es zum Beispiel um Muster in Zufallsprozessen.

Liegt nicht jedem Zufall auch eine Gesetzmäßigkeit zugrunde?

Ja, auch Zufallsprozesse sind nicht chaotisch und regellos. Auch der Zufall hat seine mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Das Gesetz der großen Zahlen ist im Grunde so ein mathematisches Theorem, das schon Eingang in die Alltagssprache gefunden hat.

Mathematik ist für viele Normalbürger sehr trocken. Sie wollen diesem Vorurteil mit einem neuen Buch abhelfen?

Das Buch heißt "Das kleine Einmaleins des klaren Denkens" und wird in Kürze erscheinen. Es hat die erklärte Absicht, den Leser mindestens zweifach zu ermuntern: Eine Einladung zum Abenteuer des Klügerwerdens anzunehmen und die Schönheit des Denkens beim Lösen von Problemen auszukosten. Es geht mir darum, Denkwerkzeuge herauszuarbeiten, quasi als Intelligenzverstärker. Zum Beispiel das Widerspruchsprinzip. Daneben enthält das Buch mathematische Paradoxien, Geschichten, Aphorismen, Zaubertricks und eine gute Dosis Humor.


Mathematik: Eine Welt zum Wohlfühlen

Wie funktioniert das Werkzeug des Widerspruchsprinzips?

Wenn man eine Aussage beweisen will, dann kann man einmal das genaue Gegenteil dieser Aussage als wahr annehmen und von da aus versuchen, folgerichtig weiter zu schließen. Mit korrekten logischen Schlüssen. Bis man in einen Widerspruch hineinläuft. Dies bedeutet dann, dass das Gegenteil der Aussage eben nicht richtig sein kann, sondern die Aussage selbst richtig sein muss.

Kann auch die Negation als Methode helfen wie beim TV-Quiz mit Günther Jauch, wo vier Antworten möglich und drei davon auszuschließen sind?

Das Ausschlussprinzip ist auch eine Art mathematisches Modell. Wenn ich etwas ausgeschlossen habe, muss das Gegenteil davon richtig sein.

Wie sind Sie darauf gekommen, Mathematiker zu werden? Was hat Sie an dieser Wissenschaft gereizt?

Ich hatte immer eine große Begeisterung für Zahlen und für Denkprozesse. Als Mathematiker muss man sich übrigens nicht sehr viel merken können. Man muss Strukturen zusammenknüpfen und Beziehungen zwischen ganz verschiedenen Dingen herstellen. Viel lesen und sich viele Dinge einprägen muss man dabei merkwürdigerweise nicht.

Es gibt Leute, die große Zahlen wie 4 687 x 528 blitzschnell multiplizieren können. Sie auch?

Nein, das ist aber streng genommen keine Mathematik, sondern Arithmetik. Es gibt Menschen, die eine ganz extreme, enge Hochbegabung haben. Zum Beispiel auf Anhieb sagen können, auf welchen Tag der 17. Februar 2034 fallen wird.

Sie meinen das Phänomen der Kalenderidioten.

Ja. Ihr Gehirn hat eine phänomenale Fähigkeit, Zahlen und Daten zu speichern, aber sie wissen nichts damit anzufangen. Also, sie können vier- oder fünfstellige Zahlen schnell multiplizieren, doch das Verhältnis zwischen 50 Cent und einem Euro begreifen sie nicht.

Sind solche Menschen im Gehirn anders verdrahtet als wir? Großmeister Wassili Iwantschuk schaut zum Beispiel während der Partie mehr an die Decke als aufs Brett. Er braucht nicht hinzusehen, weil er alle Stellungen im Kopf hat.



Das ist sicher eine hoch spezialisierte Form von Begabung, die natürlich wunderbar ist, wenn sie noch mit anderen Begabungen einhergeht. Es gibt jedoch häufig den Fall, dass Leute nur auf eine Sache fixiert sind und nebenan für sie nichts mehr existiert.

Wie der zerstreute Professor, der nicht über die Straße findet…

Er ist nicht zerstreut, sondern im Grunde nur auf sein Fach fixiert. Der Mann ist ganz tief in seinen Geist versunken und vergisst alles drum herum. Ein Zustand, den der ungarische Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi als Flow-Erlebnis bezeichnet. Also eine Art Trance, in der man alles vergisst. Und er hat auch gesagt, dass Schach zum Beispiel eine Möglichkeit ist, in diesen Rausch zu kommen. Das merkte er im Krieg, als er nur beim Schach alles Bedrohliche vergessen konnte.

Für Schachspieler kann der ständige Aufenthalt in ihrem Mikrokosmos aber auch zu einer Droge werden, von der sie nie mehr loskommen.

Ich glaube auch, wenn man die Fähigkeit hat, dass die Analysiermaschine stets im Kopf mitläuft, dann kann Erholung manchmal ein wirkliches Problem sein.

Weil der Schachspieler selten oder niemals abschaltet.

So ist es. Ich hatte mit Wladimir Kramnik vor einigen Jahren in Moskau ein sehr interessantes Gespräch. Der damalige Weltmeister sagte mir genau das: Ganz egal, was er tut, ob beim Telefonieren oder bei anderen Tätigkeiten, er kann diese Analysiermaschine im Kopf mitlaufen lassen und behält beim Reden die Stellungen im Kopf. Das ist natürlich auf der einen Seite eine wunderbare Fähigkeit, kann jedoch andererseits auch zum Durchbrennen der Sicherungen führen.

Sie sind Gastredner bei der Schacholympiade in Dresden. Was bieten Sie in Ihrem Hauptvortrag am Rande des Turniers?

In dem Eröffnungsvortrag zum Workshop, den Professor Roos von der TU Dresden organisiert hat, spreche ich zum Thema Schach und Mathematik. Dort werde ich unter anderem etwas über die Geometrie des Schachbretts sagen. Auch darüber, wie man Schachprobleme mit mathematischen Methoden lösen kann. Es gibt da eine ganz ausgefeilte Theorie. Sie läuft unter dem Begriff kombinatorische Spieltheorie.

Was für eine Methode liegt denn Retis berühmter Studie zugrunde, wo der schwarze Freibauer vom weißen König noch auf wundersame Weise eingeholt wird?

Das ist ein Beispiel für Triangulierung. Es hat damit zu tun, dass auf dem Schachbrett der Weg entlang zweier Schrägen genauso lang sein kann wie die Weglänge entlang einer Geraden. So erfordert etwa der Weg eines Königs von h8 über e5 nach h2 genau wie der gerade Weg auf der h-Linie herunter nur sechs Schritte.


Weiß zieht und hält Remis

Müssen Schachspieler gute Mathematiker sein oder umgekehrt?

Nicht unbedingt. Ich habe zum Beispiel gar keine ELO-Zahl, weil ich keine Turniere spiele. Meine Schachspiel-Aktivitäten beschränken sich auf ein paar Fernpartien mit Freunden. Wir setzen dabei keine Computer ein und haben auch keine Zeitbegrenzung. Manchmal kann die Antwort auf einen Zug mehrere Wochen dauern, je nachdem, wie ich beruflich eingespannt bin. Wir kämpfen sehr hart und sind mit Leidenschaft bei der Sache, aber unsere Schachfähigkeiten halten sich eher in Grenzen.

Sie sind also ein Schachfreund mit viel Passion, aber wenig Praxis.

Ich habe eine große Leidenschaft für das Spiel, so wie ich sie auch für die Mathematik habe. Meine Mathematik-Fähigkeit ist jedoch größer entwickelt als die im Schach. Insofern fiel mir die Wahl zwischen beiden Betätigungen als berufliche Perspektive leicht.

Planen Sie außer Ihrem Vortrag in Dresden noch weitere Auftritte als Schachbotschafter?

Ja, ich bin noch in anderer Weise am Rahmenprogramm der Schacholympiade beteiligt, und zwar mit der Schauspielerin und Sängerin Vaile. Am 16. November gestalten wir beiden Olympiade-Botschafter im Dresdner Rathaus eine Matinee mit dem Titel "Beauty & Brain". Der Ablauf ist etwa folgender: Vaile und ich trinken eine Flasche Wein, spielen eine Partie Schach und unterhalten uns dabei über Schauspielerei, Musik, Mathematik, Wissenschaft, Kultur, uns selbst und andere. Danach erzähle ich etwas vom Besten aus dem Kontext Schach und Wissenschaft. Abschließend präsentiert Vaile etwas vom Besten aus ihrem Leben als Musikerin. Also eine verbale Jam Session mit Schach- und Musikanteil.


Sängerin, Schauspielerin, Schachfan: Vaile. Am Sonntag Jam Session mit Dr. Christian Hesse

Danke für das Gespräch!

Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

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