Die schachgeschichtliche Forschung hat bisher meist Indien, Persien
und Arabien, neuerdings häufiger auch China im Fokus gehabt, je nachdem, wo
und wann die Entstehung des königlichen Spiels räumlich und zeitlich
verortet worden ist. Afrika hingegen kommt in den einschlägigen
wissenschaftlichen Publikationen kaum vor.
Dabei hat gerade der Schwarze Kontinent einen außergewöhnlich kreativen
Beitrag zur Schachkultur geleistet. Das ist das "Senterej", eine spannende
und unterhaltsame Variante des Denksports, die sich in Äthiopien parallel zu
den bisher bekannten Entwicklungslinien herausgebildet hat.
Dem britischen Historiker Dr. Richard Pankhurst gebührt das Verdienst, in
einem kurzen Essay, den er unter dem Link
http://tezeta.net/25/a-note-on-ethiopian-chess
ins Netz gestellt hat, das bisher weitgehend unbekannte Senterej der Web
Community vorgestellt zu haben.
Neueinsteiger finden sich dabei ohne Schwierigkeit im Szenario des
Äthiopienschachs zurecht. Denn es wird wie die hierzulande übliche Version
auf einem 64-Felder-Plan ausgetragen, und die Zugmöglichkeiten, die den
Figuren des Senterej zur Verfügung stehen, entsprechen grundsätzlich dem
einschlägigen Kanon der FIDE. Das gilt für Turm (äthiopisch: "Der"), Pferd
("Derese"), König ("Negus") und im Prinzip auch für den Bauern ("Medeq"),
abgesehen davon, dass der Fußsoldat zu einem einleitenden Doppelschritt
nicht befähigt ist und folglich die Anwendung der En-passant-Klausel
ebenfalls ausscheidet.
Höchstens kurzfristig irritiert die unterschiedliche Farbgebung im Senterej.
Statt Weiß gegen Schwarz tritt "Grün" gegen "Gold" an. Außerdem ist das
Brett einheitlich rot koloriert, und ein blaues Gitternetz markiert die 8x8
Quadrate der Miniarena. Überdies laufen die Könige ein auf Startpositionen,
die sich gerade nicht direkt gegenüberliegen: Den grünen Herrscher sehen wir
noch auf dem gewohnten Punkt e1, den goldenen Negus indes auf dem seitlich
verschobenen d8.
Ansonsten muss der Anfänger beachten, dass Ostafrikas Senterej wie das
klassische arabische Shatranj statt raumgreifender Dame und fernwirkender
Läufer einen gemütlich schlendernden Wesir - Bezeichnung in der
Landessprache: "Fers" - und wuchtige Elefanten einsetzt. Die Dickhäuter,
alternativ "Fil" oder "Saba" genannt, erreichen auf ihrer jeweiligen
Diagonalen das übernächste Feld, können dazwischenliegende Punkte immerhin
nach Bedarf auch erstaunlich behend im Sprung nehmen. Deutlich ruhiger als
die Rüsseltiere lässt es der "Fers" angehen: Der Berater kommt auf der
konkreten Schräge, die ihm zugewiesen ist, pro Schlagwechsel gerade mal
einen Schritt vorwärts.
Was jedoch das Senterej über alle übrigen Schachvarianten hinaushebt, das
ist das originelle Konzept seiner Eröffnungsphase. Nach den Regeln des "Werera",
wie das Intro einer Partie heißt, dürfen die Kombattanten zunächst nach
eigenem Gutdünken und in selbstgewähltem Tempo die Figuren schieben, ohne
auf eine Antwort des Spielpartners warten zu müssen. Die Gegner bringen
rasend schnell ihre Einheiten in Position, gruppieren die Truppen nach
Bedarf um und müssen sich dabei nicht sklavisch an einen fieseligen
Eröffnungskatalog halten, den in der Parallelwelt der FIDE eine emsige
westliche Theorie inzwischen bis ins Detail ausgetüftelt hat.
Beobachten Nichteingeweihte das "Werera", drängt sich den Laien leicht der
Eindruck auf, das totale Chaos sei ausgebrochen. In Wahrheit jedoch wissen
die Spieler sehr genau, was sie tun: Argwöhnisch verfolgen sie aus den
Augenwinkeln das Lavieren ihres Konkurrenten und kontern dessen Vorstöße
aus. Gleichzeitig gibt das dynamische "Werera" dem Cleveren die Chance,
seinem König eine Burg zu bauen, obwohl das Senterej ansonsten die Mechanik
einer Rochade nicht kennt.
Das "Werera" endet, sobald der erste Stein abgeräumt beziehungsweise ein
Abtausch eingeleitet worden ist. Nun folgt das Treffen dem üblichen Rhythmus
Grün-Gold-Grün-Gold undsofort, bis zur Aufgabe oder dem Mattschluss. Wird
der feindliche Negus gefangen genommen, greift in Äthiopien allerdings ein
unerbittlicher Ehrenkodex ein. Matt ist nämlich nicht gleich Matt, die
Bewertung des Finales folgt einer strengen Hierarchie.
Als gewöhnlich bis peinlich wird von Connaisseuren abgetan, falls Turm oder
Pferd den König ausknocken. Deutlich bessere Reputation genießt der
tödliche Schlag, den ein Elefant exekutiert. Und lassen zwei Elefanten die
Falle zuschnappen, heimst der Sieger heftigen Applaus ein. Zu einer
möglichen Sonderwertung für einen Wesir, dem der Goldene Schuss gelingt,
schweigen die Quellen. Wahrscheinlich dürfte es einfach wohl zu selten
vorkommen, dass dieser unsportliche "Fers" im Kriechgang einen feindlichen
Kommandeur überhaupt zu fassen kriegt.
Athiopien - Wiege des modernen Menschen
Mit Leidenschaft ist das Senterej jahrhundertelang vor allem in
aristokratischen Kreisen gepflegt worden. Ein früher Star
des Äthiopienschachs war Kaiser Dawit II., in den Chroniken häufiger
geführt unter seinem Geburtsnamen Lebna Dengel (1508-1540). Der Negus Negest
lieferte sich eine Serie von Figurenduellen mit dem venezianischen Maler
Gregorio Bicini, der damals als Gast des Herrschers am Hof arbeitete.
Ruine des Fasilidas Palast in Gonder
Später galten Ras Michael Sehul (um 1691-1779) von Tigray, dessen Enkel Ras
Wolde Sellassie (wohl 1745-1816) und Sahle Sellasie (ungefähr
1795-1847), König der autonomen Zentralregion Shewa, als Meister der
Mattkunst. Bis eine Frau die Szene betrat und die Machos das Fürchten
lehrte: Kaiserin Taytu Betul (ca. 1851 - 1918), dem Negus Negest Menelik II.
angetraut und Tochter einer Adelsfamilie, die sich ihrer
verwandtschaftlichen Nähe zur Dynastie der Salomoniden rühmte.
König Menelik II
Die Salomoniden haben die Nation nachhaltig geprägt; seinen imperialen und
spirituellen Anspruch leitete der Clan aus einer sagenhaften Liaison
zwischen Israels König Salomon und der Königin von Saba ab. Weil
der legendäre Spross des mythischen Paares angeblich, das glaubt
jedenfalls die Überlieferung zu wissen, Äthiopiens erster Herrscher Menelik
I. gewesen ist.
Diese Taytu Betul, eine würdige Urenkelin der Königin von Saba,
hat Weltgeschichte geschrieben.
Sie begleitete ihren kaiserlichen Gatten in die Schlacht von Adwa und
besiegte am 1. März 1896 ein italienisches Expeditionskorps, das unter
dem Befehl von General Oreste Baratieri spätrömische Träume verwirklichen
und Äthiopien erobern sollte.
Schlacht bei Adwa
Und vielleicht kam Taytu Betul, die an der
Spitze von 3000 Kanonieren ins Gefecht gezogen war, dabei nicht
zuletzt auch das strategische und taktische Wissen zugute, dass sie sich
zuvor quasi unter Laborbedingungen im verkleinerten Maßstab des Senterej
angeeignet hatte.
König Menelik II. nach der Schlacht bei Adua
Auf jeden Fall führte Taytu Betul im Äthiopienschach eine scharfe
Klinge. Ein unbedingter Wille zum Erfolg, den die Kaiserin sogar auf die
Amtsgeschäfte im Allgemeinen übertrug: Sie akzeptierte männliche
Gesprächspartner als ebenbürtig allein dann, wenn die Herren auch am Brett
gut waren und Leistung brachten.
Wer den African Spirit in das Standardschach nördlicher Provenienz holen
möchte, der braucht nur einen handelsüblichen Set in den Farben des Senterej
umzupinseln, mit reichlich Grün und Gold und Rot und ein wenig Blau.
Und schon kann Gas gegeben werden auf einer heißen Schachsession. Und das
ist absolut wörtlich zu verstehen: Das Publikum muss keineswegs, wie sonst
üblich im sturen Westschach, verbissen schweigen, sondern darf seine
Gefühle hemmungslos rauslassen. Lautstarke Kommentare sind nicht verpönt,
sondern erwünscht. Niemand brüllt "Ruhe!", und haben Zuschauer eine geniale
Idee, packen sie einfach die relevanten Steine und demonstrieren spontan,
was Sache ist, laufendes Match hin oder her.
So verwandelt sich jede Partie in eine echte Party.
Wie das auch Kaiserin Taytu Betul geliebt hat, die Zeitgenossen als "Licht
von Äthiopien" rühmten: Afrikas erste Frontfrau für Black Pride im Schach.
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Regeln des Senterej:
http://en.wikipedia.org/wiki/Senterej