Schach mit Elefanten

von René Gralla
29.02.2016 – Schon vor ca. 33.000 Jahren starb der Elefant in Europa aus, kehrte aber im arabischen Schach noch einmal als Spielfigur zurück. Mit den Arabern verschwand auch der Elefant wieder aus Europa und wurde auf dem Schachbrett durch den Läufer (Bischof) ersetzt. In der Hamburger Grundschule Grumbrechtstraße wurde nun aber noch einmal ein Schachturnier im arabischen Schach gespielt. Mehr...

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Die Elefanten sind los

Elefanten können manchmal verblüffend gelenkig sein. Aus dem Stand hopsen sie über Hindernisse, und Hektik bricht aus, sobald die robusten Burschen plötzlich irgendwo reinplatzen. Ghreesham Manjunath liebt seine Elefanten, zumal die sich heute ausgesprochen handzahm geben und dem Zehnjährigen auf Kommando gehorchen. Was freilich in der Natur der Sache liegt: Die sprungstarken Rüsseltiere sind keine echten Vertreter ihrer Gattung, sondern bloß stark verkleinerte Repliken und rot oder braun koloriert. Schließlich sitzt Ghreesham Manjunath an diesem frühwinterlichen Sonnabend vor einem Schachbrett in der Hamburger Grundschule Grumbrechtstraße, und die flotten Mini-Elefanten gehören zu seiner Truppe, mit der die Konkurrenz aufgemischt werden soll.

 

Schach wird bunt dank 1600 Jahre altem Shatranj: Gegen Ian Meinköhn (li.) will Ghreesham Manjunath (re.) einen seiner poppigen Mini-Elefanten vorschicken. Das Rüsseltier im Bonsai-Format besetzt momentan mittig halbrechts auf dem Spielplan das zweite (braune) Feld in gerader Linie von der Position des roten Königs aus gesehen. Man beachte gleichzeitig den schwachbrüstigen "Wesir" (in Form eines geschrumpften Läufers) an Stelle einer schlagkräftigen Dame, und zwar direkt neben dem indo-arabischen Monarchen auf Ghreesham Manjunaths Brettseite! Foto: Roopa Manjunath

Allerdings stellt sich dem Beobachter natürlich sofort die Frage: Elefanten im Schach?! Werden die von den Regeln überhaupt zugelassen? Tatsächlich aber gehören Elefanten eigentlich zwingend zum Denksport um Matt und Patt, jedenfalls in dessen ursprünglicher Version, wie Jürgen Woscidlo berichtet.

Mit Elefanten auf Königsjagd gehen: Das ist seit den Anfängen um 450 nach Christus in Indien bis Ende des 15. Jahrhunderts eine beliebte Taktik im Schach (wobei, wie die Aufnahme zeigt, in den frühen Versionen Chaturanga und Shatranj die Felder auf dem Brett einheitlich koloriert sind). Foto: Christian Borrmann

Der gelernte Altenpfleger ist Schachlehrer aus Leidenschaft und hat diese Präsentation organisiert, im Rahmen eines Tages der Offenen Tür, zu dem die Schule nach Heimfeld ins südliche Quartier der Hansestadt eingeladen hat. Und Jürgen Woscidlo nimmt Mädchen und Jungen plus Eltern, die ihren Sprösslingen interessiert über die Schultern schauen, auf eine kleine Zeitreise mit: Wahrscheinlich Mitte des 5. nachchristlichen Jahrhunderts entstand in Indien ein Protoschach, als Abbild historischer Armeen auf dem Subkontinent, und logischerweise war dem Elefantenkorps darin eine wichtige Rolle zugewiesen.
"Chaturanga" hieß das strategische Spiel, das übrigens noch keine selbstbewusst raumgreifenden Damen kannte, sondern die Herrscher im Reich der 64 Felder von schwächlichen Beratern eskortieren ließ. Eine Formation, die ein vereinfachtes Abbild der gesellschaftlichen Hierarchie vor rund 1600 Jahren war und folgerichtig auch beibehalten wurde, als Indiens Schach über Persien in den arabischen Raum wanderte und dort unter dem Namen "Shatranj" eine rasch wachsende Fangemeinde fand.

Im Gepäck maurischer Soldaten, die ab 711 die Iberische Halbinsel im Sturmlauf eroberten, erreichte Shatranj den Alten Kontinent und war anschließend auch in Europa die gewissermaßen amtliche Version des Mattsports. Bis radikale Köpfe um 1470 in Spanien zuschlugen: Sie verbannten Berater (arabisch: "Wesir") und Elefanten aus dem Spielarsenal und ersetzten die eliminierten Figuren durch Damen und Läufer. Das moderne Schach war geboren, und Shatranj verschwand aus Theorie und Praxis.

Schade sei das, meint Jürgen Woscidlo. Denn der komplette Bruch mit der arabischen Tradition habe rücksichtslos eine Entwicklung abgeschnitten, die zwischenzeitig im Bagdad der Kalifen einen veritablen Schachboom ausgelöst hatte. Topspieler wurden ernannt zu Großmeistern, den "Aliyat", schrieben Lehrbücher über umsichtige Planung auf dem Weg zum Sieg. Und auch Frauen erwarben dauerhaften Ruhm im Shatranj: Die Quellen nennen die Enkelinnen des Meisters Hisham ben Urwa, das waren die hoch begabten Safi'a, A'isha und 'Ubaida, und diesen drei Schwestern konnte kaum ein Mann am Brett standhalten.

Gegen das Vergessen möchte Jürgen Woscidlo jetzt ein Zeichen setzen, mit einem Turnier für den Schachnachwuchs. Eine Premiere ein rundes halbes Jahrtausend nach dem Untergang des Shatranj. "Wer Freude am Königlichen Spiel hat, der sollte auch dessen Geschichte kennen", sagt der 50-jährige.

In den Wochen vor der Veranstaltung hat er Shatranj in seinen Unterricht eingebracht. Und die Kids sind von der ersten Minute an Feuer und Flamme gewesen: "Im indo-arabischen Originalformat halten auch Anfänger problemlos mit. Niemand muss Eröffnungsvarianten pauken, und der spezielle Figurenmix im Shatranj regt die Kreativität an."


Schach macht Spaß - egal, ob es das schon zur Zeit berühmter Kalifen wie Harun ar-Raschid (um 763-809) populäre Shatranj ist (li. eine vom Hamburger Journalisten René Gralla produzierte CUSTOM MADE-Edition) oder das bekannte Standardschach (re.) - , vor allem, wenn der Mattangriff losgeht: Paul Geißler aus Hamburg-Heimfeld (führt in der Bildmitte die weißen Figuren) hat sich deswegen nicht von ungefähr den Kampfnamen "General Attacke" verdient. Foto: Roopa Manjunath

Entsprechend motiviert sitzen Woscidlos Eleven am Turniertag vor den Brettern. Und richtig klasse finden sie vor allem die putzigen Elefanten, die auf den 64 Feldern des Shatranj unbedingt dazugehören. Die robusten Vierbeiner stammen aus der Produktion des Hamburger Journalisten René Gralla. Der Autor hat die Elefanten auf Flohmärkten erstanden und für den besonderen Wettkampf an der Hamburg-Heimfelder Grundschule in Handarbeit koloriert, um handelsübliche Schachsets in spannendes Shatranj zu verwandeln.

Elefanten vom Flohmarkt auf den Läuferpositionen, dazu - in diesem Unikat - passend kolorierte Playmobil-Männchen, die anstatt moderner Damen die Herrscher auf dem Brett begleiten: das Konzept des Hamburger Publizisten René Gralla demonstriert, dass sich ein handelsübliches Schachset mit geringem Aufwand in exotisches Shatranj verwandeln lässt. Foto: Roopa Manjunath

Schließlich ist das Event in der Grumbrechtstraße gerade auch für den Publizisten René Gralla, der über Games und Lifestyle schreibt, eine echte Herzensangelegenheit. Seit Jahren schon beschäftigt sich Gralla mit dem indo-arabischen Vorgänger des modernen Schachspiels, hier ein entsprechender Beitrag auf ChessBase News..

.... und plädiert für dessen Wiederbelebung. Weil ausgerechnet das uralte Shatranj beste Voraussetzungen biete für einen modernen pädagogischen Ansatz, wie Gralla betont: Neueinsteiger würden quasi "barrierefrei" an das Thema Schach herangeführt. "Niemand" müsse nämlich "Angst davor haben, gleich im ersten Match aus dem Stand überrannt zu werden", erläutert der Shatranj-Experte. Vor allem das berüchtigte Schäfermatt, der Schrecken aller Anfänger, sei praktisch ausgeschlossen; denn die dafür notwendigen Einheiten - übermächtige Damen, die jeden König dominieren, und Läufer, die Tempo machen - fehlten, wie schon erwähnt, im klassischen Arsenal des Shatranj.
Die Konsequenz: Begabte, aber noch unerfahrene Leute hätten die reale Chance, sich autodidaktisch in das Spiel quasi "reinzufummeln", weil das permanente Abspeichern und Abrufen von vorgefertigtem Wissen aus Datenbanken und Literatur nicht notwendig sei, resümiert Gralla.

Dem pflichtet auch Heimfelds Game-Tutor Jürgen Woscidlo bei. Manche Schüler, die zuvor für das Mainstream-Schach kein Interesse gezeigt hätten, würden plötzlich auf das Shatranj "total abfahren". Daher hat Woscidlo sehr gerne Grallas Vorschlag aufgegriffen, in einem Rundenturnier zu testen, wie sich Shatranj eigentlich im realen Spielbetrieb anfühlt und bewährt.

Ich glaub', mich tritt ein Elefant  - am Brett des Shatranj (wie auch im richtigen Leben!) sollte man das tunlichst vermeiden. Foto: Christian Borrmann

Zur großen Begeisterung der Jugendlichen aus Jürgen Woscidlos Kursen. "Die Elefanten sind cool", schwärmt Ghreesham Manjunath, dessen Eltern aus dem südindischen Mysore stammen. Und auch Saskia Oberst, die ihrem siebenjährigen Sohn Dustin beim Shatranj-Wettkampf moralische Unterstützung leistet, findet "toll, dass die Kinder mal etwas anderes ausprobieren".

Für den Leistungsvergleich im Schach mit Elefanten hat Jürgen Woscidlo eine stolze Überschrift gewählt: "Das As-Suli-Gedenkturnier". Eine Reverenz an den absoluten Topstar der arabischen Schachgeschichte: Abu Bakr Muhammad bin Yahya as-Suli (880 - 946) dominierte die Szene im 10. Jahrhundert, und "Spielen wie as-Suli" wurde zum geflügelten Wort.


Unter diesem Link finden sich zwei as-Suli-Partien (eine gegen einen veritablen Kalifen) zum Nachspielen (siehe die ersten beiden Partien zum Durchklicken von oben).


Vor diesem Hintergrund darf das "As-Suli-Gedenkturnier" in der aktuellen Migrationsdebatte durchaus als Statement verstanden werden, unterstreicht Jürgen Woscidlo: "Schach, wie wir es kennen, wäre ohne die arabischen Meister nicht denkbar. Wir ehren deren Vermächtnis - was auch unseren Respekt ausdrückt vor dem arabischen Kulturkreis, aus dem gegenwärtig viele Menschen nach Deutschland fliehen."
Das wiederbelebte Shatranj als Instrument für den interkulturellen Brückenschlag? Ein Konzept mit Zukunft - das übrigens zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ersten Probelauf gehabt hat. Denn das Wilhelminische Kaiserreich wollte sich als Player im Nahen und Mittleren Osten etablieren, trieb folgerichtig den Bau einer Bagdadbahn voran und schmiedete Allianzen in der Region. So dass auch die deutsche Schachgemeinde vom Orientfieber gepackt wurde: Die Magazine "Deutsches Wochenschach" und "Berliner Schachzeitung" schrieben 1913 gemeinsam ein Fernturnier im Shatranj aus, und an den Start gingen unter anderem Cracks wie Walther Freiherr von Holzhausen.


Unter diesem Link findet sich aus dem gemeinsam von "Deutschem Wochenschach" und "Berliner Schachzeitung" veranstalteten Shatranj-Turnier eine Fernpartie, die Freiherr von Holzhausen zwischen 1913 und 1915 gespielt hat (siehe zum Durchklicken die erste Partie von oben).

Ein richtungweisendes Projekt, das allerdings, den blutigen Zeitumständen geschuldet, in den Anfängen steckenblieb; der Wettkampf endete 1915, die Menschen im Ersten Weltkrieg hatten andere Sorgen als Shatranj.

Bis zum zweiten Anlauf für einen Relaunch - und vorerst ganz bescheiden in der Form eines Jugendturniers - an einer Hamburger Grundschule in der Gegenwart des dritten Millenniums. Turnierdirektor Jürgen Woscidlo widmet seine beispielhafte Initiative ausdrücklich der Freundschaft zwischen Tunesien und Deutschland.

Das Originalschach Shatranj wiederentdecken als Brückenschlag zwischen Tunesien und Deutschland: die jungen Turnierteilnehmer mit Organisator Jürgen Woscidlo (hintere Reihe, 2. v. re.) und Ideengeber René Gralla (hintere Reihe, li.). Foto: Roopa Manjunath

Warum? "Tunesien hat nach dem Arabischen Frühling den Übergang zu lebendiger Demokratie geschafft, ist ein leuchtendes Vorbild." Eine Geste, die von Tunesiens diplomatischer Vertretung in Hamburg mit Genugtuung registriert wird. Frau Konsulin Sonia Ben Amor sendet Grüße, dazu Fahnen und Freundschaftsbanner. Und Gabriele Kamensky, örtliche Sektionsleiterin der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft an der Elbe, ruft in einer Ansprache den Jugendlichen zu: "Ihr seid die Hoffnungsträger für eine friedliche Zukunft!"

Betont die friedensstiftende Kraft des Schachsports in ihrer Begrüßungsansprache: Gabriele Kamensky von der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft in Hamburg (vorne: Turnierteilnehmer Ghreesham Manjunath). Foto: Roopa Manjunath

Endlich ticken die Schachuhren, und der legendäre as-Suli hätte seinen Spaß daran gehabt. Die Elefanten geben Gas, dass die Bretter wackeln. Und der Geist aus Tausendundeiner Nacht durchweht den Klassenraum - und beflügelt vor allem ein Talent: Der zehnjährige Konrad-Leo Adler hält alle Mitbewerber auf Abstand, überquert die Ziellinie ungefährdet vor seinem direkten Verfolger Ahmed Cetin (11).


Gewinnt souverän das historische Shatranj-Revival-Turnier: Konrad-Leo Adler (li.); auch dem Verfolger Ghreesham Manjunath (re.) bleibt nur das Nachsehen. Arndt Paasch, der Hausherr und Leiter der Grundschule Grumbrechtstraße (in der Mitte), ist fasziniert, während Turnierchef Jürgen Woscidlo ein kritisches Auge auf das Brettgeschehen wirft, für die gemeinsame Analyse nach Partieschluss. Foto: Roopa Manjunath

Ein Finish, das aber mit Sicherheit erst ein Anfang ist: Im Frühjahr 2016 soll ein Shatranj-Duell per Internet ausgetragen werden zwischen den Kids aus Hamburg-Heimfeld und ihren Altersgenossen aus einem Klub in Tunesien. Tunesiens Konsulin Sonia Ben Amor hat angekündigt, sich persönlich dafür einzusetzen. Außerdem will sie auf Vorschlag des Shatranj-Promoters René Gralla beim Tunesischen Schachverband für einen Shatranj-Wettkampf parallel zu einem Turnier im Standardschach werben.

Die Elefanten sind wieder zurück im Schach - und künftig wollen sie bleiben!
 

Bilder: Roopa Manjunath (6), Christian Borrmann (2)
 

 


René Gralla ist Schachjournalist und Experte für asiatisches Schach.

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