Mythos Sherlock Holmes
1887 veröffentlichte der englische Arzt und Autor Arthur Conan Doyle seine erste Sherlock Holmes Geschichte, A Study in Scarlet, heute ist die Figur des Detektivs, der seine Fälle durch genaue Beobachtung und logischen Scharfsinn löst, ein Mythos. Holmes' Popularität ist so groß, dass er sogar einen Mordversuch seines Schöpfers überstanden hat. Denn nur sechs Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Sherlock Holmes Geschichte war Doyle der Erfolg seiner Figur lästig geworden und er ließ Holmes 1893 in den Die Memoiren des Sherlock Holmes sterben – in einem berühmt gewordenen Ringkampf mit Holmes' Gegenspieler Professor Moriarty, bei dem beide, Meisterdetektiv und Meisterverbrecher, die Reichenbach-Fälle hinabstürzen.
Doch so einfach war der Detektiv nicht aus der Welt zu schaffen. Der "Tod" der beliebten Figur führte zu wütenden Protesten – und Tausenden von Abonnementskündigungen der Zeitschrift, in der die Holmes-Geschichten erschienen – und so ließ Doyle Holmes bald wiederauferstehen. Ein Beleg für die Attraktivität der Figur und ein Beispiel, wie die Sehnsucht nach Rationalität und Vernunft irrationale Blüten treibt.
Heute ist Sherlock Holmes populärer denn je. Zahllose Bücher wurden und werden über ihn geschrieben, Fanclubs widmen sich seinem Erbe, und obwohl Holmes nie gelebt hat, gibt es eine Biographie über ihn. Auch bei Holmes' Adresse führte die Fiktion zu Fakten: in Doyles Büchern wohnte Holmes in der Baker Street 221b in London, eine fiktive Adresse – bis sie 1990 durch die Londoner Stadtverwaltung zur Realität wurde. Heute steht dort ein Sherlock Holmes Museum.
Hausnummerschild des Sherlock-Holmes-Museum in der Baker Street 221b in London (Foto: Ralf Roletschek - Fahrradtechnik auf Fahrradmonteur.de via Wikimedia Commons)
Natürlich lebt der Detektiv auch in zahllosen Adaptionen in Film und Fernsehen, in Parodien, Imitationen und Fortschreibungen weiter, und nicht zuletzt in den vielen Detektiven der Kriminalliteratur, die vom Mythos Sherlock Holmes inspiriert sind. Der Wunsch, die Welt und ihre Probleme rational und mit den Mitteln der Vernunft zu erklären, scheint ungebrochen.
Königin Elisabeth I
In seinem Buch Das Turnier lässt der Australier Matthew Reilly jetzt eine weitere Holmes-Figur ermitteln: Roger Ascham, seines Zeichens Lehrer der englischen Königin Elisabeth I, ebenfalls eine legendäre Figur, die zahlreiche Filme, Bücher und Legenden inspiriert hat. Allerdings hat sie, genau wie ihr Lehrer, aber im Gegensatz zu Sherlock Holmes, tatsächlich gelebt. Sie wurde am 7. September 1533 geboren und starb am 24. März 1603, Königin von England war sie von 1558 bis zu ihrem Tod. Unter ihrer Herrschaft erlebte England einen starken wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Aufschwung.
Das Turnier: Krimi und historischer Roman
Doch Reillys Roman spielt im Jahre 1546, da war die spätere Königin noch ein 13-jähriges Mädchen. Ich-Erzählerin des Romans ist allerdings die ältere Elisabeth, die, so der narrative Rahmen des königlichen Berichts, ihrer Kammerfrau und Vertrauten kurz vor ihrem Tode die dramatischen Ergebnisse anvertraut hat, von denen der Roman erzählt.
Die spätere Königin Elisabeth im Alter von 13 Jahren, Gemälde von William Scrots
Zugetragen haben sich diese Ereignisse angeblich während einer Reise nach Konstantinopel, die Elisabeth zusammen mit Roger Ascham unternommen hat. Sultan Süleyman der Prächtige, so die Fiktion, hatte die Könige Europas eingeladen, an einem Schachturnier in Konstantinopel teilzunehmen, um den besten Spieler der Welt zu ermitteln.
Natürlich fand 1546 in Konstantinopel kein Schachturnier statt, das ist eine Erfindung Matthew Reillys. Die er mit Witz präsentiert. So lässt er einen fiktiven Schachhistoriker in dem fiktiven Buch "A History of Chess" über das angebliche Turnier schreiben:
Als erstes internationales Schachturnier der Geschichte gilt gemeinhin das Turnier, das 1851 in London ausgetragen wurde und das der Deutsche Adolf Anderssen gewann. ... Doch in der Schachwelt hält sich das hartnäckige Gerücht von einem Turnier, das lange vor dem in London stattgefunden haben soll, nämlich im 16. Jahrhundert in der Stadt Konstantinopel, die heute Istanbul heißt.
Leider existieren keinerlei Aufzeichnungen über dieses Ereignis, und solange keine dokumentierten Belege für das Turnier auftauchen, muss es wohl als dem Reich der Legende zugehörig betrachten werden.
Interessant ist der Name des fiktiven Historikers: Boris Ivanov. Denn das ist auch der Name eines bulgarischen Spielers, der von 2012 bis 2013 mit einer Reihe von außergewöhnlichen Turnierergebnissen für Aufmerksamkeit sorgte, vor allem, weil Ivanov vorher keine großen Erfolge erzielt hatte und seine Partien große Übereinstimmungen mit den Zugvorschlägen starker Schachprogramme aufwiesen.
Historisch verbürgt ist allerdings, dass sich Elisabeth I für das Schach interessierte, und Roger Ascham ihr Schachunterricht gab. Der Roman geht sogar so weit, im Schach einen der Gründe zu sehen, warum Elisabeth später so erfolgreich regiert hat. So schreibt ihre Kammerfrau:
Ich sehe sie noch vor mir als 13-jährige, dicht über das Schachbrett gebeugt, ihr elfenhaftes Sommersprossengesicht von den wilden Locken ihres möhrenfarbenen Haars eingerahmt, den Blick in einem tödlichen Starren auf die Figuren fixiert, verbissen darauf konzentriert, den besten Zug zu finden, während Ascham ihr gegenübersaß, dem Anschein nach vollkommen desinteressiert am Verlauf der Partie, und sie beim Denken beobachtete.
Als Kind verlor Bess mehr Spiele, als sie gewann, und nicht wenige im königlichen Haushalt in Hatfield empfanden es als skandalös, dass Ascham fortwährend die Tochter des Königs besiegte, noch dazu häufig vernichtend. ...
Von einem Abgesandten des Königs darauf angesprochen, rechtfertigte Ascham sich damit, dass man nicht lernen könne, wenn man nicht verliere. Und seine Aufgabe, so sagte er, sei es, dafür zu sorgen, dass die Prinzessin lerne. ... Als Erwachsene verlor Elisabeth nur selten im Schach, und auf dem weitaus gefährlicheren Schachbrett des Lebens – bei Hofe in London und auf hoher See gegen das Haus Kastilien – verlor sie nie. Aus dem Schachspiel, so Ascham, könne man vieles lernen: seinen Gegner in Sicherheit zu wiegen, Fallen zu stellen und gestellte Fallen zu entdecken, draufgängerisch zu sein und seine Neigung zum Draufgängertum zu bändigen, naiv zu erscheinen, während man in Wahrheit wachsam sei, die Zukunft viele Züge im Voraus zu berechnen – und die Tatsache, dass Entscheidungen immer Konsequenzen haben. (Das Turnier, S. 12-13)
Schach erscheint in Reillys Roman so als Symbol für kluges, überlegtes und planvolles strategisches Handeln. Und diese Fähigkeiten brauchen Elisabeth und Roger Ascham, denn in Konstantinopel wird nicht nur Schach gespielt, sondern es werden auch politische Machtkämpfe ausgefochten, bei denen es zu einer Reihe blutiger Mordfälle kommt, die Ascham lösen soll.
Das gibt Ascham Gelegenheit, mit seinem Scharfsinn und seinen detektivischen Fähigkeiten zu glänzen, wobei er der späteren Königin zugleich zu wichtigen Einsichten über Macht, Intrigen und Herrschaft verhilft. Auch hier folgt Reilly bekannten und beliebten Mustern: Ascham ist der kluge, weise, zurückhaltende, immer ein wenig unterschätzte Mentor der kommenden Monarchin, die später über viel Macht verfügen wird, die sie Dank der Weisheit und des Unterrichts ihres Lehrers später jedoch klug und zum Wohle ihrer Untertanen einsetzen wird.
All das würzt Reilly mit einer ordentlichen Dosis an Sex, Gewalt und Spannung, und so gelingt ihm ein routiniert geschriebener Krimi und/oder historischer Roman, der vor allem dann unterhaltsam ist, wenn man ihn als Unterhaltung versteht, Sherlock Holmes mag und Vergnügen an literarischen Phantasiereisen in die Vergangenheit hat.
Matthew Reilly, Das Turnier, Festa Verlag 2017, 13,99€
Matthew Reilly bei Festa
Wikipedia-Eintrag Elisabeth I...
Wikipedia-Eintrag Roger Ascham...