Schach und das Unendliche im Werk von Jorge Luis Borges

von Carlos Colodro
20.06.2018 – Jorge Luis Borges gilt als einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts. In seinem Werk beschäftigt er sich mit Fragen der Unendlichkeit, der Konstruktion von Wirklichkeit, und reflektiert diese Fragen mit raffinierten literarischen Konstruktionen. Spiegel und Labyrinthe sind wichtige Metaphern in seinem Werk - und auch Schach kommt immer wieder vor.

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Borges kam in Buenos Aires zur Welt, seine Familie hatte englische Vorfahren, und Borges glaubte schon in jungen Jahren, dass seine Verwandten annahmen, dass er irgendwann Schriftsteller werden würde. Er akzeptierte das demütig und verbrachte die 86 Jahre seines Lebens von Büchern umgeben: Stevenson, Kipling, James, Conrad, Poe, Chesterton und Die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht wurden zu seinen Reisegefährten.

Obwohl er immer darauf bestand, als guter Leser und nicht als Autor anerkannt zu werden, schrieb er Werke, die als Klassiker der Literatur des 20. Jahrhunderts gelten. Als Kritiker des Romans schrieb er ausschließlich Essays, Lyrik und Kurzgeschichten, die sich mit universellen Fragen beschäftigten. Um die Welten darzustellen, die in seinem Geist präsent waren, griff er auf die Phantastik  zurück und in diesem literarischen Rahmen sah er Schach als nützliches metaphorisches Hilfsmittel.

Spiel und Phantastik

Die Ähnlichkeit zwischen Mathematik, Schach und Literatur — zumindest in Bezug auf Borges' Verständnis von Literatur — besteht in ihrer abstrakten Natur. Der Argentinier war wie Nabokov oder Puschkin der Meinung, dass der Wert aller literarischen Werke in ihrem ästhetischen Gehalt bestand. Studiert man Borges' Werk und Erklärungen, dann erkennt man seinen Wunsch, sich von jeder Gedankenschule fernzuhalten, die Kunst als etwas Praktisches sieht. So erklärt er in This Craft of Verse, dem Buch, in dem die Vorträge veröffentlicht sind, die Borges von 1967-1968 an der Harvard University gehalten hat, dass Poesie nicht verständlich sein muss:

"Ich wünschte, ich könnte das gesamte Sonnett [von Ricardo Jaimes Freyre] erinnern — ich glaube, Sie würden ein Teil seiner klangvollen Eigenschaften begreifen. Aber das ist nicht nötig. Ich glaube, dass diese Verse ausreichen sollten. Sie lauten: 'Peregrina paloma imaginaria / que enardece entre los últimos amores / alma de luz de música y de flores / peregrina paloma imaginaria'. Sie bedeuten nichts, sie wollen nichts bedeuten; und doch haben sie Bestand. Sie bestehen als etwas Schönes. Sie sind — zumindest für mich — unerschöpflich."

In seinem Artikel Filosofía y lingüística en los cuentos fantásticos de Jorge Luis Borges benennt Sergio Cordero zwei Eigenschaften von Spielen, die mit Borges' Konzept literarischer Kunst zusammenfallen: die Schöpfung einer völlig eigenständigen Welt mit zufälligen Eigenschaften und das Überschreiten der Setzungen der Realität. Nimmt man nur diese zwei Faktoren, dann hätte Borges jedes Spiel als Metapher für seine Interpretation von Kunst nehmen können. Doch der Umstand, dass er Schach gewählt hat, ist nicht zufällig — 1981 erklärte er in einem Interview:

"Schach ist eines der Mittel, das wir haben, um Kultur zu retten, wie auch Latein, das Studium der Humanwissenschaften, das Lesen der Klassiker, die Gesetze der Dichtkunst, Ethik. Schach wird jetzt durch Fußball, Boxen oder Tennis ersetzt, was Spiele für Narren, nicht für Intellektuelle sind."

Der Autor von Das Aleph, ein erklärter Konservativer, sah im Schach auch ein anderes Element, das er in der Kunst für grundlegend hielt: Schönheit.

Borges

Borges | Foto: Brenno Quaretti

Unendliche Labyrinthe

Der Epigraph von Die kreisförmigen Ruinen, einer der bedeutendsten Kurzgeschichten von Borges, zitiert Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln: "und wenn ich aufhören würde, von dir zu träumen..." In diesem Roman, dem zweiten Teil der Abenteuer von Alice, dreht sich der Plot um Schach — passend zu Carrolls großer Liebe zu diesem Spiel. Die Protagonistin des Romans betritt eine phantastische Welt, aber der von Borges zitierte Epigraph bezieht sich auch auf die Spiegel-Metapher in dem Roman, genauer gesagt, auf die Möglichkeit unendlicher Rekursionen: wenn es eine Realität innerhalb einer anderen gibt, kann man dann nicht noch eine weitere in der neuen finden? Man kann sich leicht vorstellen, wie jemand zwischen zwei Spiegeln steht und sich die zunehmend kleinere Spiegelung seiner selbst anschaut, und weiß, dass diese Spiegelung ad infinitum weitergeht.

Unendliche Rekursionen sind ein zentrales Thema in Die kreisförmigen Ruinen. Ein Unbekannter kommt zu dem Schluss, dass seine einzige Aufgabe im Leben darin besteht, einen Menschen zu erträumen. Nachdem er sein Ziel erreicht hat, erkennt er, dass auch er nur geträumt wurde.

In diesem Zusammenhang ist der Respekt erwähnenswert, den Borges dem königlichen Spiel gezollt hat. Die letzten Zeilen seines Gedichts Schach reflektieren genau diese Faszination mit dem Universellen und dem Unendlichen:

"Gott zieht den Spieler und er die Figur.

Welcher Gott hinter Gott schafft das System

Von Staub und Zeit und Traum und Qual?"

Auch in der 1943 veröffentlichten Kurzgeschichte Das geheime Wunder spielen Literatur und Träume eine Rolle — genau wie das Schach. Ein Mann namens Jaromir Hladik ist zum Tode verurteilt, doch kurz bevor er exekutiert wird, bittet er Gott um Zeit, um sein wichtigstes literarisches Werk zu beenden. Der Wunsch wird ihm erfüllt: wenn die Kugeln des Erschießungskommandos aus den Gewehrläufen kommen, steht die Zeit still, aber der Mann bleibt bei Bewusstsein, bis das Werk vollendet ist. In der Einleitung zu dieser Kurzgeschichte bezieht sich Borges erneut auf das Schach:

"[Jaromir Hladik] träumte von einer langen Schachpartie. Die Gegner waren keine zwei Individuen, sondern zwei bedeutende Familien. Der Kampf hatte viele Jahrhunderte zuvor begonnen. Niemand konnte sich an den längst vergessenen Preis erinnern, aber es gab Gerüchte, der Preis sei enorm groß und vielleicht unendlich. Figuren und Brett wurden in einem geheimen Turm aufgebaut. (In seinem Traum) war Jaromir der Erstgeborene der streitenden Familien. Alle Uhren zeigten an, dass die Zeit für den nächsten Zug, der nicht aufgeschoben werden konnte, gekommen war. Der Träumer rannte über den Sand einer regnerischen Wüste - und konnte sich nicht mehr an die Schachfiguren und die Schachregeln erinnern."

Und wer weiß, vielleicht steht Borges genau in diesem Moment zwischen zwei Spiegeln und träumt von Schachbrettern und Figuren, Kreisen und Labyrinthen, detallierte Ewigkeiten.

Übertragung aus dem Englischen: Johannes Fischer


Carlos Colodro stammt aus Bolivien und ist Spanisch-Philologe. Seit 2012 arbeitet er als freier Übersetzer und Autor. Schach, Literatur und Musik sind seine großen Leidenschaften.

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