Jürgen Rauter
Kognitive Hermeneutik: Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung
Abstract: Dass Schach auch immer wieder literarisch
umgesetzt wird, beweisen J. K. Rowlings Harry Potter oder die jüngste
Veröffentlichung eines Fragments Friedrich Dürrenmatts mit dem Titel: Der
Schachspieler (2007). Dieses Interesse der Autoren am königlichen Spiel
gab den Anstoß, sich mit dem Thema Schach-Literatur-Politik
wissenschaftlich auseinanderzusetzen und ein entsprechendes Seminar im
WS 2007/08 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zu konzipieren.

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Das germanistische Bachelor-Studium der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ist im Basis-Bereich Neuere
deutsche Literatur daraufhin ausgerichtet, den Studenten zunächst ein
literaturwissenschaftliches Werkzeug in Form unterschiedlicher
Literaturtheorien und Methoden der Textarbeit zu vermitteln. Im Grundseminar
B2-2-2 wird mit den Studenten die wissenschaftliche Erprobung
ausgewählter Ansätze auf literarische Texte eingeübt, wobei hier die
Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und aneignender
Textarbeit entscheidend ist.
Beispielsweise tritt beim Studium einer Schachpartie
häufig die Frage auf, weshalb Züge mit einem Ausrufezeichen (!) versehen
werden, obwohl die entsprechende Partei wenige Züge später schlecht steht?!
Wissenschaftlich ist dieses Paradoxon nicht haltbar – es wurde
einfach schlecht kommentiert, weshalb in diesem Fall von einer
aneignenden Deutung gesprochen werden kann: Vielleicht gefiel dem
Kommentator nur dieser Zug außergewöhnlich gut er hat eine Schwäche für
dieses Eröffnungssystem oder er findet den entsprechenden Spieler
sympathisch etc.
Derartige unpräzise Vorgehensweisen finden sich auch in
der Literaturwissenschaft, wo Texte den eigenen Vorlieben untergeordnet
werden, ohne dass die Frage gestellt wird, welches Textkonzept oder
welches Literaturprogramm der Autor verfolgt bzw. durch welche
Weltbildannahmen oder Wertüberzeugungen er geprägt wird.
Dies lässt sich etwa an Bobby Fischer exemplifizieren:
Viele vertreten die Ansicht, Fischers Hass auf die UdSSR sei
psychoanalytisch erklärbar und verweisen in diesem Zusammenhang auf seine
vaterlose Kindheit etc. Dabei wird unterschätzt, dass Fischer zur Zeit
McCarthys aufgewachsen ist, wo jeder potentiell verdächtige Kommunist, ein
sog. „antiamerikanischer Umtrieb“, gnadenlos verfolgt wurde. Fischer ist
durch dieses System geprägt worden, weshalb hier die Wurzeln seiner Aussagen
gegen Sowjetrussland zu suchen sind! Ähnliches zeigt sich in M. Botwinniks
Schach-Erinnerungen
(dt. 1981), wo im Zusammenhang mit Fischer die typischen Klischees des
Kapitalismus mehrmals aufgefahren werden, um Fischer als Prototypen eines
Systems, das in Hemmungslosigkeit (übermäßiger Genuss von Alkohol, Kauf von
Frauen; vgl. S. 212) ausartet, darzustellen. Botwinniks Konzept kann
dahingehend interpretiert werden, dass er in seinen Schach-Erinnerungen die
typische Kritik am Kapitalismus auf Bobby Fischer überträgt, womit dieser
zum Prototyp einer rücksichtslosen oder unmoralischen
kapitalistischen Welt inszeniert wird.
Derartige Überlegungen führen dazu, von Autoren
verfasste Werke mit ihren Konzepten in Verbindung zu bringen und
entsprechende Hypothesen direkt am Text abzugleichen, wobei dies im Falle
obigen Seminars anhand von Literatur, die sich dem Thema Schach
widmet, einstudiert wird. Dabei werden Fragestellungen verfolgt, wie
beispielsweise das Schachspiel in der Literatur eingesetzt wird: Dient es
nur der Gestaltung einer Szene oder fungiert es als ein Spiel mit doppeltem
Boden, d. h. dass das, was auf dem Schachbrett passiert, allegorisch die
Wirklichkeit betrifft. Ein Beispiel hierfür liefert erneut Bobby Fischer
wenn er schreibt: „Schach ist Leben!“, so wie Justitia für das Recht steht.
Im Seminar werden dabei ausgewählte literarische Texte
mit wissenschaftlichen Maßstäben gemessen, wobei der Themenbereich
Schach-Literatur-Politik im Mittelpunkt steht: Patrick Süskind: Ein Kampf
(1985), Stefan Zweig: Die Schachnovelle (1942), Vladimir Nabokov:
Lushins Verteidigung (1930), John Brunner: Die Plätze der Stadt
(1965), Elias Canetti: Die Blendung (1935). Ein weiterer
Themenschwerpunkt ist dem Kapitel „Schach und der kalte Krieg“ sowie „Garry
Kasparow“ gewidmet.
Ich führe in der Folge einige kritische Aspekte anhand
von Stefan Zweigs Schachnovelle
etwas aus: Vielen Literaturwissenschaftlern scheint die Tatsache unbekannt,
dass Stefan Zweig relativ wenig vom Schachspiel verstand. Dies zeigt sich
beispielsweise in Widersprüchen, etwa wenn Dr. B. einmal eine „defensiv[e]
Haltungsweise“ (S. 38), eine Seite später jedoch den „ganzen Druck vorwärts“
(S. 39) empfiehlt.
So wird der Schachweltmeister Mirko Czentovic als eine Person
dargestellt, die keine „immaginative[] Kraft“ (S. 16) besitzt, der „keine
einzige Schachpartie auswendig“ (S. 15) kann: „Ihm fehlte vollkommen die
Fähigkeit, das Schlachtfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu
stellen“ (S. 15).
Ein Schachspieler erkennt relativ schnell, dass dies
zur Folge hat, dass Czentovic keinen Zug vorausberechnen kann, womit er
sicherlich niemals Weltmeister werden könnte. Diese einfache Erkenntnis
bringt jedoch erhebliche Konsequenzen mit sich: Wenn Czentovic keinen Zug
vorausrechnen kann, dann muss diese Eigenschaft auch auf sein gesamtes
Verhalten ausgeweitet werden. Konsequent weitergedacht bedeutet dies, dass
Czentovic keine Pläne entwickeln, sondern nur auf Situationen reagieren
kann. Dies verkennend, wird ihm oftmals unterstellt, er verfolge bestimmte
negative Absichten, was jedoch allein aus seiner Schachtätigkeit als völlig
verfehlt erscheint.
Andere Absurditäten wie die Aussage, die
Schachnovelle sei „das Kultbuch für die Freunde des königlichen
Schachspiels“,
gehören ebenfalls in die Rubrik aneignender Interpretationen, deren
wissenschaftlicher Gehalt jedoch mehr als fragwürdig erscheint und empirisch
wohl kaum haltbar ist.
Anhand dieser Beispiele kann den Germanistikstudenten
beigebracht werden, dass literaturwissenschaftliche Thesen einer Überprüfung
am Text standhalten müssen. Wenn Czentovic keine Vorstellungskraft, keinen
Plan hat, dann darf ihm nicht unterstellt werden, er würde der Masse gezielt
ausweichen – weil gezielt einen Plan impliziert, den er jedoch – so Zweigs
Darstellung der Figur – nicht haben kann.
Aus politischer Sicht sind vor allem die Figuren Bobby
Fischer, Viktor Kortschnoi und Garri Kasparow interessant. Beispielsweise
schreibt der Letztgenannte in Politische Partie
(dt. 1987) über Kortschnois Niederlagen bei der WM 1978, dieser habe „in
seiner Enttäuschung [...] die Schuld für seine Niederlage bei allen anderen,
nur nicht bei sich selbst“ (S. 116) gesucht. „Dabei ist doch
selbstverständlich, daß derjenige, der die Figuren auf dem Brett bewegt, am
Ende die Verantwortung auf sich nehmen muß, was immer auch seine Sekundanten
ihm geraten haben mögen“ (S. 116). Andererseits unterschiedet sich Kasparow
– ohne dies zu merken – nicht von Kortschnoi, wenn er den Grund für die drei
Niederlagen in Serie (WM 1986) seinem Sekundanten Wladimirow (S. 304 ff.) in
die Schuhe schiebt. Derartige Widersprüche zeigen, dass Kasparow die
Ereignisse um Kortschnoi keinesfalls neutral, sondern genauso subjektiv
deutet, womit seine Lehrmeisterei zur leeren Hülle verkommt.
Anders hingegen Kasparows Beurteilung von Kortschnois
Flucht in den Westen: „Kortschnoi hatte keine Freunde im System, die für ihn
hätten Partei nehmen können. 1976, nach Abschluß des IBM-Turniers in
Amsterdam, zog er einen Schlußstrich unter eine Phase wachsender Entfremdung
von seinem Vaterland, indem er politisches Asyl im Westen beantragte“ (106).
Hier zeigt sich beispielsweise auch der Grund, warum Kasparow 1984/85
erfolgreich blieb, hatte er doch entsprechenden Rückhalt im politischen
System, etwa Alexander Jakowlew (246). Allerdings führt dieser politische
Rückhalt dazu, dass die Grenze zwischen Karpow und Kasparow relativ schmal
wird, denn letztlich nutzen beide das politische System so gut sie können.
In diesem Punkt verdeckt Kasparow folglich den Nutzen, den er aus dem System
der UdSSR gezogen hat, um letztlich Schachweltmeister zu werden.
Diese knappe Skizze sollte als Einblick in die
kognitive Hermeneutik – und damit in die um Wissenschaftlichkeit
bemühte Textanalyse – genügen, deren Ziel es ist, die Frage nach der
Textbeschaffenheit – Textkonzept, Literaturprogramm – zu klären mit dem
Ziel, eine wissenschaftliche Interpretation von Literatur anzustreben, die
einer kritischen empirischen Überprüfung standhält und die zudem Einblicke
in die Weltbildannahmen und die Wertüberzeugungen, dem sog.
Überzeugungssystem der Protagonisten, gewährt. Gleichzeitig führt dies
dazu, dass Fehlinterpretationen – oder Fehlkommentierungen – als solche
offengelegt und entsprechend gebrandmarkt werden, womit ein kleiner Schritt
zu einer verbesserten Textarbeit geleistet werden kann.
Angaben zum Autor:

Jürgen Rauter ist 1971 in
Bruneck (Südtirol, ITA) geboren. Nach dem Abitur arbeitete er zunächst
mehrere Jahre in der Informations- und Kommunikationsbranche. Im Oktober
2001 begann er ein Magisterstudium der Älteren und der Neueren Germanistik
sowie der Informationswissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf. Abschluss Mai 2004.
Promovierte im Dezember
2005. Die Dissertation, die unter dem Titel Zitationsanalyse und
Intertextualität. Intertextuelle Zitationsanalyse und
zitatenanalytische Intertextualität erschien, präsentiert eine
umfangreiche Verbesserung der Zitationsanalyse als Form der
Wissenschaftsevaluation bei gleichzeitiger Widerlegung der
Intertextualitätstheorie. Jürgen Rauter arbeitet als wissenschaftlicher
Angestellter der Abt. für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an
der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und ist ein schachinteressierter
Amateur. Weitere Hobbys sind die Malerei und vor allem das Bergsteigen.
E-mail:
Juergen.Rauter@uni-duesseldorf.de