Mexiko-City – der
Wahnsinn!
Von Dagobert Kohlmeyer

Dieses Land fehlte noch in
meiner Sammlung. Mexiko und seine Hauptstadt wollte ich schon immer einmal
kennen lernen. Die Stadt, eine der gigantischsten unserer Welt, kann man mit
wenigen Worten nicht beschreiben. Mexiko-City ist der reine Wahnsinn. In einem
ausgetrockneten Seebett, aber über 2200 Meter hoch gelegen, hat sie eine riesige
Fläche und über 20 Millionen Einwohner! Was für ein Moloch! Chaotischer Verkehr,
Smog und Kriminalität laden auf den ersten Blick nicht zum Verwellen ein. Als
kulturelles Zentrum mit bewegter Geschichte muss man Mexiko-City aber unbedingt
erlebt haben.
Es ist großartig, eine
Einladung zum „Festival de Ajedrez Ciudad de Mexico 2006“ zu bekommen. Weniger
schön, wenn man eine Woche auf sein Flugticket wartet, die Reise schon abhakt
und dann doch am Abend zuvor, was sage ich, in den Nachtstunden vor dem
geplanten Abflug noch in letzter Minute mit der Buchung beglückt wird. Also
Koffer packen, Taxi rufen, Einchecken in Berlin-Tegel.
Am Schalter von Delta
Airlines klopft mir jemand auf die Schulter. Großmeister Thomas Pähtz aus Erfurt
ist zusammen mit zwei Trainern mit einer Gruppe von 16 Kindern unterwegs zur
Jugend-WM in der Türkei. Wir wünschen uns gegenseitig alles Gute.

In der Boeing 767 ist Platz
genug. Neben mir sitzt eine Frau aus Liberia. Odell ist Frisöse und lebt seit
einigen Jahren in Deutschland. Zurzeit jobbt sie in Berlin, fliegt aber jetzt zu
ihrem Bruder nach New Jersey. Mann und Kinder sind zu Hause in Afrika. Globale
Welt.

Der Flug über den Teich
vergeht langsam, auch wenn die Crew uns mit verschiedenen Menüs und Filmen etwas
Abwechslung bringt. Wir sehen „The devil wears prada“ mit Meryl Steep und „The
lake house“ mit Sandra Bullock.
Nach etwa fünf Stunden
Flugzeit meldet sich plötzlich der Kapitän:

„Wir haben etwas Druckabfall in der
Kabine und müssen mal kurz in Neufundland herunter. Eigentlich brauchen wir es
nicht, weil wir noch ein Extra-Versorgungssystem für Sauerstoff haben, aber zur
Sicherheit tun wir es und tanken Oxygen auf.“ Selbst ein Vielflieger wie Anatoli
Karpow, dem ich die Sache später erzähle, hat so etwas noch nicht erlebt. Wir
landen in Sant John’s und sind damit in Kanada.

Hier hat
1988 eine Weltmeisterschaft im Blitzschach stattgefunden. Der unvergessene
Michail Tal gewann damals.
Delta
Airlines ist die zweitgrößte Fluggesellschaft der Welt und natürlich bedacht auf
ihr Renommee. Sie spielen unsere kleine Havarie herunter. In einer Stunde geht
es weiter, heißt es. Aber sie checken die Maschine weiter durch, tanken noch in
aller Ruhe Kerosin, das wir wegen des Umwegs auch brauchen.

Aus der
Stunde Zwischenaufenthalt werden drei. Ich kann meinen Anschlussflug in New York
nach Mexiko vergessen.
Im JFK Airport gelandet,
geht die Odyssee weiter. Der 17.30 Uhr Flieger ist längst weg. Der nächste Flug
nach Mexiko-City geht erst in der Nacht um 1.50 Uhr. Sie haben mich dort
natürlich nicht im Computer. Also muss ein neues Ticket gekauft werden. Die Zeit
schleicht dahin, die Augen fallen zu. Um 6.00 Uhr mexikanischer Zeit (13 Uhr
MESZ) lande ich endlich am Ziel. Jetzt bin ich 30 Stunden unterwegs.

Ein Taxi
bringt mich ins noble Grand Hotel, das sich im historischen Zentrum der Stadt,
direkt am berühmten Zócalo befindet.

Torre Latinoamericana

Am Campus von Mexiko City

Studentinnen schicken einen Gruß nach Deutschland
Schach fürs Guinness Buch
Auf diesem zentralen „Platz
der Verfassung“ in der Riesenstadt wird am Sonntag das große Schach-Spektakel
stattfinden. 14 000 Teilnehmer bei einer Simultanveranstaltung, das hat es zuvor
noch nie gegeben. Ehrengast ist Exweltmeister Anatoli Karpow. Der Moskauer
startet hier auf dem Zócalo auch einen Rekordversuch, und zwar im
Autogrammschreiben, will während der Veranstaltung nicht weniger als 2000 Bücher
signieren. Und Schachlegende Viktor Kortschnoi, die Jungstars Alexandra
Kostenjuk und Sergej Karjakin sowie der mexikanische Großmeister Gilbert
Hernandez spielen ein Schnellturnier. Organisator Hiquingari Carranza sagt mir,
er habe mit Gott gesprochen, dass es am Sonntag nicht regnet.




An meinem Ankunftstag gibt
Karpow eine Pressekonferenz und spielt in der Universität simultan. Anatoli ist
seit 1972 zum dritten Mal in Mexiko. Der Exweltmeister findet das Land nicht nur
wegen seiner Geschichte hochinteressant. „Man merkt nicht, dass man sich hier in
Mexiko-City in über 2000 Meter Höhe befindet. Und es ist erstaunlich, wie aus
einem kühlen Morgen, wenn die Sonne herauskommt, innerhalb weniger Minuten ein
heißer Tag wird.“, sagt der Globetrotter in Sachen Schach.
Die Universität liegt etwa
40 Minuten mit dem Auto vom Hotel entfernt. Wir kämpfen uns durch Smog und
dichten Verkehr. Der Campus ist eine ganze Stadt für sich. Hier soll es über 200
000 Stundenten geben. 25 glückliche von ihnen dürfen heute gegen den Maestro im
Schach antreten.

Auf der Pressekonferenz,
gekonnt moderiert vom spanischen Journalistenkollegen Leontxo Garcia, lobt
Karpow die Schachbegeisterung in ganz Lateinamerika. Ob in Argentinien, Chile,
Brasilien, Kuba, Venezuela oder Mexiko, überall wird das königliche Spiel gern
betrieben. Etliche Schachschulen in den genannten Ländern tragen seinen Namen.

Karpow zeigt sich erfreut,
dass sein Landsmann Wladimir Kramnik in Elista die Schachkrone gegen Weselin
Topalow erobert hat und spricht sich klar dafür aus, den Weltmeister auch
künftig in einem Match zu ermitteln. Die K.-o.-Turniere der FIDE sollte man ein
für allemal abschaffen. Der FIDE-Präsident habe wohl inzwischen auch realisiert,
dass man zum klassischen WM-System zurückkehren muss.
Dann geht es an die
Bretter. Gegen starke Konkurrenz gewinnt Karpow 21 Partien und gibt vier Remis
ab. Die Veranstaltung wird von den mexikanischen Medien stark frequentiert. Für
alle Beteiligten ist es aber nur das „warm up“ für den Sonntag.
Festival de Ajedrez 2006 in Mexiko-City
Von Dagobert Kohlmeyer, Mexiko
Das war ein
Festtag des Schachs in Mexiko-City! Die Riesenstadt erlebte am Sonntag eine
spektakuläre Simultanveranstaltung, wie es sie vorher noch nicht gegeben hat.
Auf dem berühmten Zócalo (Platz der Verfassung) im historischen Zentrum trafen
sich 14 000 Schachbegeisterte, um einen neuen Rekord für das Guinness Buch zu
markieren.

Viele Menschen

Sehr viele Menschen

Wirklich viele Menschen
Der Aufbau
von Tischen und Stühlen hatte schon in der Nacht zuvor begonnen. Es war ein
farbenfrohes Bild, wie sich das Areal ab morgens 9 Uhr langsam mit den
Teilnehmern füllte. Ganze Familien kamen, jeder vom Opa bis zum Baby wollte
dabei sein. Die verschiedenen Sektoren waren durch die Farben Schwarz, Weiß, Rot
und Grün markiert. Die meisten Spielerinnen- und Spieler trugen T-Shirts mit dem
Logo der Veranstaltung. Viele der Simultangeber hatten ein „Maestro“ auf der
Brust.

Rot, rot, rot


Kein Kopftuchverbot in Mexiko
Bisher lag
die Bestmarke bei 13 500 Teilnehmern, aufgestellt im Frühjahr 2005 in Kuba. Der
damalige Schirmherr Anatoli Karpow erinnert sich: „Gespielt wurde auf dem großen
Che Guevara-Platz in der Stadt Santa Maria. Etwa 600 Simultanspieler hatten
jeweils 20 bis 25 Gegner. So kam der Rekord zustande. Alles war bestens
organisiert, die Begeisterung riesig.“
Der
Exweltmeister aus Russland war auch diesmal in Mexiko dabei, aber in anderer
Mission. Als Ehrengast der Veranstaltung startete die Schachlegende auf dem
Zócalo einen ganz eigenen Rekordversuch, und zwar im Autogrammschreiben.

Während der
Veranstaltung signierte Karpow cirka 2000 Bücher. Es handelte sich um eine
Karpow-Biographie des spanischen Schachjournalisten David Llanda, die auch
zahlreiche Fotos und Glanzpartien des Maestros enthält.

Nach fünf
Stunden Schwerstarbeit hatte Karpow bzw. seine rechte Hand genug und David
Llanda löste ihn ab, so groß war die Nachfrage nach dem Buch.
Im
Nachbarzelt war mit Viktor Kortschnoi eine andere Schachlegende aktiv. Der
ehemalige Rivale Karpows (sie bestritten ein Kandidatenmatch und zwei WM-Kämpfe)
spielte ein Schnellturnier mit den Jungstars Alexandra Kostenjuk (Russland) und
Sergej Karjakin (Ukraine) sowie dem mexikanischen Großmeister Gilbert Hernandez.



Und wieder
einmal zeigte Viktor der Schreckliche trotz seiner 75 Jahre Stehvermögen. Sergej
Karjakin wurde seiner Favoritenrolle gerecht und gewann souverän. Nachdem er
Alexandra Kostenjuk in der fünften Runde mit Weiß schön ausmanövriert hatte,
stand der Ukrainer schon vorzeitig als Sieger fest.

Sergej
konnte sich dann im Schlussdurchgang eine Niederlage gegen Lokalmatador
Hernandez leisten, der aber trotzdem nicht über den letzten Platz hinauskam.
Endstand: 1. Sergej Karjakin 4 aus 6, 2.- 3. Viktor Kortschnoi, Alexandra
Kostenjuk je 3, 4. Hernandez 2.
Der
Gouverneur von Mexiko-City schaute als Schirmherr vorbei, musste viele Hände
schütteln und freute sich, dass auf dem riesigen Platz vor allem die jungen
Schachspieler in der Mehrzahl waren.

Der Governeur
Die Bitte
von Organisator Hiquingari Carranza an den lieben Gott wurde tatsächlich erhört,
dass es am Sonntag nicht regnen möge. Strahlender Sonnenschein und leichte
Wolken lösten sich ab, es blieb wie schon an den Tagen zuvor in Mexiko-Stadt
trocken.
Auch wenn
die Veranstaltung wegen ihrer unglaublichen Dimension verspätet begann und bis
zur Stunde noch nicht ganz klar ist, ob die Zahl 14 000 auch erreicht wurde, war
es ein großartiger Erfolg und eine tolle Werbung für das Schach. Karpow, der die
Verhältnisse in Lateinamerika durch viele Besuche ganz gut kennt, berichtete,
dass Schulschach in vielen Ländern des Subkontinents, ob in Argentinien,
Brasilien, Kuba oder Mexiko eine große Bedeutung hat und zunehmend Eingang in
die Lehrpläne findet.

Der
Exweltmeister war schon einige Tage eher angereist und überzeugte sich in zwei
mexikanischen Provinzen mit eigenen Augen von den Fortschritten im Schulschach.
Karpow war hier mit Abstand der gefragteste Gesprächspartner. Kaum eine TV- oder
Rundfunkstation ließ es sich nehmen, ihn zu interviewen.
Einen Tag
vor dem Großereignis besuchten die prominenten Schachspieler (mit Ausnahme von
Viktor Kortschnoi) die berühmten Pyramiden von Teotihuacán. Die Ruinenstadt mit
den stolzen Bauwerken liegt etwa 50 Kilometer nordöstlich von Mexiko-Stadt. Auch
wenn wir im heißen Stadtzentrum ewig lange auf den Bus warten mussten

Warten auf den Bus: Alexandra Kosteniuk und Anatoly Karpov
(die
Mexikaner sind wahrlich keine Weltmeister im Organisieren) war die Tour für alle
ein unvergessliches Erlebnis. Alexandra Kostenjuk und Sergej Karjakin hatten die
Sonnenpyramide als erste erklommen, doch auch der fülliger gewordene Anatoli
Karpow schaffte es locker und bewies damit seine gute Kondition.

Gipfelstürmer

Anatoly Karpov: Beim Abstieg ganz vorne
Das etwa 200
Jahre vor Christi entstandene Bauwerk hat immerhin eine Höhe von 70 Metern. Die
Luna-Pyramide, ein Stück weiter gelegen, ist kleiner. Seit 1987 steht das ganze
Areal auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Wieder einmal zeigte es sich,
dass Schachreisen auch sehr bildend sein können.
Text und
Fotos: Dagobert Kohlmeyer
.