Schachleidenschaft literarisch: Mark Ozannes Roman "Chess Fever"

von Johannes Fischer
15.09.2021 – Stefan Zweigs "Schachnovelle" und Vladimir Nabokovs "Lushins Verteidigung" sind die bekanntesten Romane über die zerstörerische Kraft der Schachleidenschaft. Weniger dramatisch, aber sehr viel witziger, leichter und viel näher am Denken eines Schachspielers beschreibt der englische Autor Mark Ozanne die Folgen der Liebe zum Schach in "Chess Fever", einem gut erzählten Roman über Jugend, Erwachsenwerden, Kreativität und ganz viel Schach.

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Leidenschaftliche Liebeserklärungen gibt es in der Literatur viele, leidenschaftliche Liebeserklärungen an Schacheröffnungen sind jedoch selten. Sam Renshawe, Erzähler und Hauptfigur von Mark Ozannes Chess Fever, macht sie trotzdem:

"Die Königsindische Verteidigung – Licht meines Lebens, meine Seele, meine Sünde. Keine Schacheröffnung, sondern eine Lebenseinstellung. Die Königsindische Verteidigung. Diese drei Worte beschreiben alles, was am Schach so edel ist: das Opfer von Allem, das als wertvoll gilt – Raum, Struktur, Material – im Tausch für einen arthurischen Angriff auf den weißen König. Triumph nach Verfolgung und Leid." (Mark Ozanne, Chess Fever, Conrad Press 2019, S. 11)

Diese Passage, ein Echo des Anfangs von Vladimir Nabokovs Roman Lolita – "Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne: Lo. Li. Ta." (Vladimir Nabokov, Lolita, S. 15, Rowohlt Taschenbuchverlag 2007, Erstauflage 1959) – verrät viel über Sam: Er studiert Literatur, bewundert Joyce und Nabokov, aber ist vor allem leidenschaftlicher Schachspieler.

Als die Erzählung beginnt, spielt Sam in der letzten Runde des offenen Turniers in Novi Sad, das parallel zur Schacholympiade 1990 stattfindet, an Tisch 3 und könnte mit einem Sieg ganz vorne landen. Außerdem steht Sams geliebter Königsinder auf dem Brett – und wenig später sogar eine Variante, die Sam stunden-, tage-, wochenlang analysiert hat. In dieser Variante hat er eine Neuerung für Schwarz entdeckt, die ihm jetzt, in der vielleicht wichtigsten Partie seines Lebens, den Sieg bringen könnte. Was eine gewisse Kompensation dafür ist, dass Sam zwanzig Minuten zu spät verkatert ans Brett gekommen ist, weil er am Abend zuvor mit Kolia, "stolzer Serbe, stolzer Jugoslawe" und Musiker zu viel Sliwowitz getrunken und zu lange über das Leben, die Liebe, das Schach und die Musik philosophiert hat.

Diese Themen beschäftigen Sam auch noch im Laufe der Partie und während sein Gegner über die unerwarteten Eröffnungsprobleme nachdenkt, erinnert sich Sam an die Anfänge seiner Schachlaufbahn, zum Beispiel daran, wie Bobby Fischers 60 Denkwürdige Sams Leidenschaft für das Schach und für den Königsinder geweckt haben:

"Manche Bücher haben die Kraft, dein Bewusstsein zu ändern, aber die wahren Meisterwerke ändern dein Leben. [...] Das Buch schlug mich in seinen Bann. Es änderte meine Sicht auf das Schach, aber änderte mich auch als Mensch: Ich war nicht mehr länger jemand, der Schach als Hobby hatte, sondern ein Schachspieler." (S. 12)

In Sams Schulzeit wurde das Schach für ihn zu einer verzehrenden Leidenschaft, die er jedoch später, während seines Studiums, in den Griff bekam. Bis sie plötzlich wieder aufflammte und jetzt nicht nur seine Abschlussarbeit, sondern auch die bislang gute Beziehung zu seiner Freundin Lauren gefährdet. Denn Sam will und kann nur noch an Schach denken. Er hat keine Lust, mit Lauren zu verreisen, sondern möchte lieber ein Schachturnier spielen, und wenn sie mit ihm redet, denkt er an den Königsinder. Bis es Lauren schließlich zu viel wird und sie nach Berlin geht und die Beziehung zu Sam beendet. Aber das Schach gefährdet auch Sams Studium, denn seine Abschlussarbeit ist lange nicht so faszinierend wie der Königsinder mit all seinen Möglichkeiten.

Das sind die Konflikte, vor denen Sam steht, als die Erzählung einsetzt: Wird er die entscheidende Partie in der letzten Runde des Turniers gewinnen? Hat er mit seiner Neuerung im Königsinder Erfolg? Wird es ihm gelingen, die Beziehung zu Lauren zu retten? Soll er nach dem Turnier in Novi Sad zu ihr nach Berlin fahren und auf Versöhnung hoffen oder ein weiteres Turnier spielen? Kann er seine Abschlussarbeit und sein Studium beenden oder opfert er beides dem Schach?

Schachleidenschaft, oft in ihrer zerstörerischen Form, wurde schon in vielen Büchern und Filmen dargestellt. Die bekanntesten Beispiele sind Stefan Zweigs Schachnovelle und Nabokovs Lushins Verteidigung, in jüngster Zeit kam die Netflix-Serie The Queen’s Gambit hinzu. Aber bislang hat wohl kaum ein Roman Schach und Schachleidenschaft in Sprache, Schachjargon und Gedankenfluss so realistisch, so authentisch und so wirklichkeitsnah geschildert wie Ozannes Chess Fever. Und nicht nur die Schachpassagen überzeugen. Das Buch ist schwungvoll und witzig geschrieben und punktet mit angenehmer Selbstironie und zahlreichen literarischen Anspielungen. Das führt zu einer gelungenen Beschreibung der Faszination des Schachs und einer schönen Erzählung über Jugend, Erwachsenwerden, Liebe, Kreativität und Leidenschaft.

Mark Ozanne, Chess Fever, Conrad Press 2019, ca. 13,00 Euro

Über den Autor verrät der Klappentext Folgendes

Mark Ozanne ist Absolvent der Exeter University in England und hat in Artikeln und Aufsätzen bereits öfter über die Beziehung zwischen Brettspielen und Literatur geschrieben. Er hat viele Jahre als politischer und sicherheitspolitischer Analyst für Unternehmen gearbeitet, die im Nahen Osten tätig sind. Er lebt in Paris, wo er einen Großteil seiner Freizeit in seinem Schachklub verbringt.

Zum Abschluss noch eine berühmte Königsindisch-Partie aus dem von Sam Renshawe so bewunderten Buch Meine 60 Denkwürdigen Partien von Bobby Fischer:

 

Master Class Band 1: Bobby Fischer

Kein anderer Weltmeister erreichte auch über die Schachwelt hinaus eine derartige Bekanntheit wie Bobby Fischer. Auf dieser DVD führt Ihnen ein Expertenteam die Facetten der Schachlegende vor und zeigt Ihnen u.a die Gewinntechniken des 11.Weltmeisters

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Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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