Schachweltmeisterschaft: Es gibt noch einiges zu erzählen...

von André Schulz
03.05.2023 – Der spannendste WM-Kampf der jüngeren Geschichte ist zu Ende und hat mit Ding Liren den ersten Chinesen als Schachweltmeister gefunden. Ding ist der 17. Schachweltmeister und das neue Aushängeschild des Weltschachs. Zum Matchverlauf wird man bald sicher noch manche Hintergrundgeschichte hören. Einige Themen deuten sich bereits an. | Foto: Stev Bonhage (FIDE)

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Ian Nepomniachtchi und Ding Liren lieferten mit ihrem Wettkampf um die Weltmeisterschaft eine der spannendsten Matches der letzten Jahre. Beide Großmeister spielten mit offenem Visier, schenkten sich nichts und spielten fast immer kompromisslos auf Gewinn. Dabei spielten auch die Nerven eine große Rolle und so unterliefen beiden Spielern in einigen Partien auch grobe Fehler in den komplizierten Situationen, die sie herbeigeführt hatten. 

Die meiste Zeit des Wettkampfes lag Ding Liren hinten und musste einen Rückstand aufholen, eine Aufgabe, die er meist prompt erledigen konnte, zuletzt in der 13. Partie. Nur ein einziges Mal war auch Ding Liren in Führung, das aber zum wichtigsten Zeitpunkt -am Ende des Wettkampfes, nach der vierten Schnellschachpartie im Stichkampfes.

Das Video des spannenden Stichkampfes wurde über 200.000 mal aufgerufen.

Einer ersten Gratulanten war Magnus Carlsen, Dings Vorgänger als Weltmeister.


Carlsen erachtet den Weltmeistertitel bekanntlich nicht so hoch wie den ersten Platz in der Weltrangliste. Ob die Schachöffentlichkeit und die Schach- und Sportpresse es auch so sieht?

Während Ding Liren viel Unterstützung aus der Heimat erfuhr, verspürte sein Kontrahent Ian Nepomniachtchi aus seiner Heimat eher Gegenwind und Druck. Bis Vladimir Kramnik 2007 den Weltmeistertitel verlor, war der Titel über Jahrzehnte in sowjetischer, dann russischer Hand. Einerseits hofften die Schachfreunde in Russland, dass Ian Nepomniachtchi den Titel nun endlich nach Russland zurückholen würde. Andererseits hatte sich Nepomniachtchi zu Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine gleich zu Anfang kritisch geäußert. Das kam zu Hause nicht gut an. Nepomniachtchi hätte viele unfreundliche Mails von russischen Schachfreunden erhalten, hörte man hinter vorgehaltener Hand aus seiner Umgebung. Weil er es gewagt hatte, sich kritisch zu äußern. Und weil er Schwäche zeigte, anstatt zu dominieren, wie man es sich in Russland wünschte. Auch die Kommentare einiger Offiziellen waren kaum ermutigend. Vielleicht wird man später einmal erfahren, wie sehr dieser Minus-Support Nepomniachtchi negativ beeinflusst hat. Um überhaupt schlafen zu können, habe der russische Spitzenspieler Tabletten nehmen müssen, war zu lesen. Und diese wurden ihm vom Zimmerservice anscheinend versehentlich auch noch weggeräumt. 

Die größte mentale Stütze für den sensiblen Ding Liren war seine Mutter. Eigentlich wollte Ding seiner Mutter die Reise gar nicht zumuten, doch dann war sie doch in Astana dabei und vermittelte ihrem Sohn in kritischen Situationen zwischen den Partien, von denen es einige gab, mentale Kraft. Ihr galt Dings besonderer Dank.

Das Ding-Team in Astana | Foto: Stev Bonhage (FIDE)

Hier noch einmal privater

Ulrich Stock war als Reporter für die Zeit in Astana vor Ort, hat den Wettkampf aus nächster Nähe beobachtet und dort mit vielen Schachfreunden gesprochen. Zu den Unterstützern von Ding gehörte auch Xie Jun, die 1991 als erste Chinesin die Weltmeisterschaft der Frauen gewann.

Xie Jun hinter Ding Liren | Foto: David Llada

Sie erklärte im Interview den langfristigen Vierstufenplan der Chinesen. Erst sollte der Einzeltitel bei den Frauen gewonnen werden, dann der Mannschafts-Titel bei den Frauen. Als nächstes sollten die Chinesen den Mannschaftsweltmeisterschaft gewinnen und zum Schluss der Männer-Einzeltitel. Bei allen Sportarten gingen die chinesischen Verbände auf diese Weise vor, so Xie Jun. Die frühere Weltmeister widersprach auch der Einschätzung von einigen Beobachtern, das Niveau sei nicht gut. "Die Nerven gehören dazu", sagt sie "und Fehler passieren im Schach." Auch zur Auswahl von Richard Rapport als Sekundanten wusste Xie Jun etwas zu berichten. Ding selber hatte erklärt, dass er mit Richard Rapport als Sekundant gezwungen gewesen sei, Englisch zu sprechen. Das hätte Ding auch gezwungen, so erklärte er seine Wahl selbst, anders zu denken als in der Analyse mit seinem chinesischen Landsleuten.

Nach über 30 Jahren ist die chinesische Strategie, "großer Drachenplan" genannt, voll aufgegangen. Alle Ziele wurden erreicht. Neben der amtierenden Frauen-Weltmeisterin Ju Wenjun, die ihren Titel bald gegen die chinesische Herausforderin Lei Tingjie verteidigen wird, gibt es nun auch einen chinesische Männerweltmeister. 

Am Tag nach dem Stichkampf folgte noch die Siegerehrung, eingebettet in eine bunte Schlussfeier.

 Foto: Stev Bonhage (FIDE)

 Foto: Stev Bonhage (FIDE)

Hinterher hatte Ding Liren auch Zeit für Selfies, hier mit Rinat Naimanov, der in Kasachstan ein großes Kinderschachprojekt auf die Beine gestellt hat.

Rinat Naimanov, Ding Liren

Für den Weltmeister und den Vizeweltmeister geht es schon gleich weiter. Beide starten in der Grand Chess Tour, die am Wochenende in Bukarest mit den Superbet Chess Classic beginnen. Vielleicht reisen sie ja sogar im gleichen Flieger an.

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André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.