Schöne
und strenge Regeln
Interview mit Wassili
Smyslow zum Turmendspiel
Von Dagobert Kohlmeyer
Wassili
Smyslow feierte in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag. Trotz des stolzen Alters
verfolgt der Exweltmeister aus Russland noch immer mit großem Interesse das
Schachgeschehen, analysiert Partien und komponiert Studien. Sein neues Buch
„Geheimnisse des Turmendspiels“ erscheint jetzt pünktlich vor Weihnachten in
deutscher Sprache in der Edition Olms. Dagobert Kohlmeyer, der das Manuskript
übersetzte, hat den Endspielvirtuosen Smyslow auch zum Thema interviewt. Wir
bringen mit freundlicher Genehmigung des Verlages Auszüge aus dem Gespräch.
Welches ist Ihre Lieblingsfigur im Schach?
Das ist
schwer zu sagen. Eigentlich mag ich sämtliche Figuren, die auf dem Brett stehen.
Ich spiele mit allen gern.
Mögen
Sie Türme besonders?
Dieser
Eindruck könnte entstehen, wenn man sich das vorliegende Buch ansieht. Es gibt
einfach sehr viele praktische Beispiele dafür, was ich mit den Türmen vollbracht
habe. In den meisten Fällen ging es darum, schön zu gewinnen. Wenn ich mich
hingegen in schwierigen Situationen befand, und das kam natürlich auch vor, dann
musste ich mich zuweilen kunstvoll verteidigen.
Wie
wichtig sind in einer Partie die „Türme in der Schlacht“?
Ich verrate
kein Geheimnis, wenn ich sage, dass die Bedeutung der Türme in aller Regel mit
zunehmender Spieldauer wächst. Das heißt, je mehr die Entscheidung in einem
Kampf heranreift, desto wichtiger werden diese Schwerfiguren.
Turmendspiele kommen ja auch am häufigsten in der Turnierpraxis vor.
Das ist
richtig. In über der Hälfte aller Endspiele kommen Türme vor. Nichtsdestoweniger
machen sie den meisten Schachspielern große Schwierigkeiten. Wir kennen das
geflügelte Wort vom Maestro Tartakower, dass Turmendspiele nicht zu gewinnen
sind. Warum wohl? Es liegt sicher daran, dass in diesem Typ das
Verteidigungspotential sehr groß ist.
Hat
Sie Ihr Vater, der auch ein starker Spieler war, schon früh auf die Bedeutung
der Türme hingewiesen?
Das tat er.
Und er brachte mir die Liebe zu Stellungen mit wenigen Steinen bei. Dadurch
lernte ich die Kraft der einzelnen Figuren, darunter der Türme, besser
verstehen. Mein Vater hielt sehr viel von Capablanca und dessen Methodik. Wir
hatten sein Buch „Grundlagen des Schachspiels“ zu Hause in unserer Bibliothek.
Ich kannte es in- und auswendig. Der große Kubaner war ja ein hervorragender
Schachlehrer. So hat er beispielsweise empfohlen, zu Beginn vorwiegend ganz
einfache Stellungen zu studieren und sich erst danach mit schwierigeren
Positionen zu befassen. Genauso verfuhr mein Vater mit mir. Er ging in seinen
Schachlektionen vom Einfachen zum Komplizierten über.
Bergen
Turmendspiele für Sie noch immer Geheimnisse in sich?
Ja, bis
heute! Sie sind und bleiben schwierig. Auch wenn ich das ganze Leben lang Schach
spielte, erstaunen mich nach wie vor überraschende Lösungen, die mitunter immer
noch gefunden werden. Das verdanken wir zum Teil auch den Computern, deren
Entwicklung vehement voranschreitet. Ein gutes Schachprogramm analysiert und
löst heute jedes Endspielproblem bis zu sechs Steinen. Das zeigt, Schach stellt
mehr oder weniger ein mathematisches Modell dar, das man im Grunde nicht nur mit
Intuition lösen kann. Es gehört auch eine subtile Technik dazu, die man erlernen
muss.
Auch
Sie, lieber Wassili Wassiljewitsch, waren in Ihrer Karriere nicht vor Fehlern
gefeit. So ist Ihnen 1946 beim Turnier in Groningen ein Missgeschick im
Turmendspiel passiert. Ihr glücklicher Gegner konnte sich damals durch einen
Pattwitz retten.
Ich erinnere
mich natürlich nicht besonders gern an dieses unnötige Versehen. Mein Partner
war Ossip Bernstein, den ich sehr verehrte. Er empfand es am Brett ähnlich wie
ich. Ich habe einfach zu hastig gezogen, weil ich dachte, dass ich leicht
gewinne. So etwas ist mir selten passiert. In der Regel habe ich sehr aufmerksam
gespielt. In der besagten Situation war ja nicht mehr viel zu tun, aber…
O. Bernstein - W. Smyslow
Groningen 1946
Notation zum Nachspielen...
… in der Partie geschah 57…Th3 58.Ke2 b3 59.Tb8 b2??
Hans Kmoch
merkte damals im Turnierbuch an, dass Schwarz „einem Irrlicht folgte”.
60.Txb2!
Kg4 (nicht
jedoch 60…Th2+ 61.Kf3! Txb2 patt!) 61.Kf1 Remis. Nach 59…Ke5 ist die
Pattstellung dagegen aufgehoben, und Schwarz hätte leicht gewonnen.
Haben
Sie sich immer bemüht, schnell ins Endspiel zu kommen?
Nicht
unbedingt. In meiner Turnierpraxis habe ich alle Partiephasen gern gespielt.
Heute ist es so, dass die meisten Schachspieler Eröffnungen besonders studieren
und dem Endspiel weniger Aufmerksamkeit widmen, obwohl der letzte Abschnitt der
wichtigste in einem Schachkampf ist. Darum erfordert er sehr viel Wissen.
Warum
soll jeder Schacheleve zuerst Endspiele lernen und dabei den Turmendspielen
besondere Aufmerksamkeit widmen?
Die großen
Schachspieler der Vergangenheit wie Lasker, Capablanca, Aljechin haben die Kunst
des Endspiels alle meisterhaft beherrscht. Von ihnen können wir eine Menge
lernen. Ich empfehle den Schacheleven nicht nur die Erweiterung ihrer Kenntnisse
über Eröffnung und Mittelspiel, sondern sie sollen sich genauso stark ins
Endspiel vertiefen, weil es eine enorme praktische Bedeutung hat. Ein junger
Schachspieler darf keine Angst davor haben, die Stellung zu vereinfachen und ins
Endspiel überzuwechseln. Er sollte diese Aufgabe mit Selbstbewusstsein und mit
der nötigen Technik in Angriff nehmen.
Wenn
ein Endspiel heute schon so genau berechnet werden kann, sehen Sie dann
vielleicht Parallelen zwischen Schach und Mathematik?
Ja. Schon
vor längerer Zeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass unser Schachspiel selbst
eine Art mathematisches Modell ist. Ein Computer kann heute bereits Stellungen
bis zu einer bestimmten Figurenanzahl absolut genau berechnen. Zum Beispiel
Turm, zwei Bauern und König gegen Turm und König. Die Maschine gibt für jede
Position eine präzise Antwort. Bei sehr vielen Figuren jedoch reicht die
Rechenkraft des Computers noch nicht aus. Dort stößt er an seine technischen
Grenzen.
Und wo
sind die Grenzen des Menschen?
Sie liegen
woanders, im Bereich seines Bewusstseins. Philosophisch ausgedrückt, ist Schach
ein Modell der menschlichen Erkenntnis. Es eröffnet uns die Möglichkeit, etwas
zu verstehen. Und weil das Spiel nach schönen und strengen Regeln abläuft,
bringt es einen auch auf den Gedanken, dass es für Schach irgendeine
mathematische Grundlage gibt.
Schaut
man sich Ihre Partien an, so ist sicherlich typisch, dass Sie bei deutlichem
Vorteil zumeist in ein besseres Endspiel übergingen. Wann haben Sie Ihre
Begabung für das Endspiel entdeckt? Gibt es dafür eine Schlüsselpartie?
Weil mein
Vater mich so gut unterrichtet hatte, war meine Endspieltechnik schon im
Jugendalter recht ordentlich. 1939 spielte ich ein Trainingsmatch gegen
Konstantinopolski. Dort gibt es ein schönes Turmendspiel, das ich auch ins Buch
aufgenommen habe. Der technische Teil ist interessant. Ich versuchte bereits
damals, stellungsgerecht zu spielen.
Was
ist in einem komplizierten Endspiel wichtiger: Intuition oder Rechenkraft eines
Schachspielers?
Beides ist
vonnöten. Zuerst einmal muss man die theoretischen Stellungen kennen, die im
Turmendspiel vorkommen und auch die Methodik, wie sie zu behandeln sind. Es gibt
ja ganz bestimmte Prinzipien des Turmendspiels. Eine ausgefeilte Technik ist
ebenso wichtig wie das Studium der verschiedensten Varianten. Irgendwo aber hört
die Rechenkunst auf. In schwierigen Momenten geht es ohne Intuition nicht
weiter. Manchmal erscheint am Ende einer Schachpartie der Weg zum Ziel paradox,
doch wenn es der einzig richtige ist, muss man ihn beschreiten. In meinen
Turmendspiel-Studien gibt es schöne Beispiele für ungewöhnliche Lösungen von
Stellungsproblemen.
W. Smyslow - M. Botwinnik
WM-Match (12)
Moskau 1957
Notation zum Nachspielen...
29.Td8-b8 e6-e5
Oder 29...Kf6 30.Kd4 Tb5 31.f4, und Weiß gewinnt zwangsläufig. Ohne Mühe
behielte er auch in der Variante 29...Txh2 30.g5 Tb2 31.Kd4 Tb5 32.c4 e5+ 33.Ke4
Tb4 34.Kxe5 Txc4 35.Te8 Tb4 36.Txe7+ Kf8 37.Tb7 c5 38.Kd5 c4 39.Kc5 Tb1 40.Kxc4
usw. die Oberhand.
30.c3-c4 Kg7-f7
31.c4-c5 Kf7-e6
32.Tb8-d8! …
Nachdem er seinen Turm befreit
hat, schneidet Weiß dem schwarzen König den Weg zum Freibauern ab. Mit den
nächsten Zügen sollen die Position des eigenen Königs verbessert und der
Spielraum des feindlichen Turms eingeengt werden. Danach erfolgt der Übergang
ins Bauernendspiel oder der Vormarsch des b-Bauern.
32 ... g6-g5
33.h2-h3 Tb2-b1
34.Ke3-d2 Tb1-b5
35.Kd2-d3 Tb5-b1
36.Kd3-c4 Tb1-c1+
37.Kc4-b4 Tc1-b1+
38.Kb4-a4 Tb1–a1+
39.Ka4-b4 Ta1-b1+
40.Kb4-a3 Tb1-a1+
41.Ka3-b2 Ta1-a5
42.Td8-d3 …
Das
Ziel ist erreicht. Jetzt muss der schwarze Turm seine aktive Position verlassen,
und Weiß gewinnt leicht.
42... Ta5-a8
43.Kb2-b3 Ta8-a5
Folgen könnte noch 44.Kb4 Tb5+ 45.Kc4 Tb1 46.Tb3 Tc1+ 47.Kd3 Td1+ 48.Ke3 Td8
49.b7 Tb8 50.Ke4 Kd7 51.Kf5! Schwarz gab auf.
W. Smyslow
„Schach in der UdSSR“
1938
Remis
Die Diagrammstellung erinnert an eine Situation aus einer
praktischen Partie.
1.Tg1+ ...
Nahe liegend erschien 1.Txg5? in der Hoffnung auf 1... a1D 2.Tg1+
oder 1...Td1 2.Ta5 und Remis, aber Schwarz hat die Zwischenzüge 1...Tb2+ 2.Kc4
Tc2+, und erst dann geschieht 3...a1D mit Gewinn.
1.Kb2 2.f4! gxf4
3.a7 Td4+ 4.Kb5 Td8 5.Tg2+ Kb3 6.Tg1 f3 7.Tf1 f2 8. Kb6 Kc3 9.Kb7 Kd3
Er versucht dennoch, den Rubikon zu überqueren, aber...
10.Ta1!
Kc3 11.Tf1
Remis.
W. Smyslow
„Schachwoche“
Weiß gewinnt
1.Th4+
Weiß verhindert, dass Schwarz seinen Turm
aktivieren kann, wonach sich das materielle Übergewicht des Nachziehenden
auswirken würde. Zum Beispiel 1.Te4 f5
2.Te5 Tf6 3.Tc5 Tf7 4.Tc6 Tb7.
1…Kg5 2.f4+!
Im Falle von 2.e4 f5 3.e5 h5 4.f4+ Kh6 5.g4 fxg4
6.d5 exd5 7.f5 Tg5! (wenn 7...g3+? 8.Kg2 Tg5, so ist nach 9.Tf4
Kh7 10.e6 Kg8 11.h4 Tg4 12.Txg4 hxg4 13.h5 das Bauernendspiel leicht für Weiß
gewonnen) 8.hxg5 g6 9.e6 Kg7 erreicht Weiß nichts. Uneffektiv ist auch
6.f5 wegen 6...a4!, zum Beispiel 7.fxe6 Txe6 8.hxg4 Te8 9.Txh5+ Kg6 10.Th3 Td8
11.Td3 a3 12.Txa3 Txd4 13.Ta6 Txg4 14.Txb6+ Kf5, und Schwarz hält sich.
2.Kf5 3.e4+
Unzureichend wäre 3.Kg2 wegen der Folge 3...e5 4.dxe5 fxe5 5.Th5+
Kf6 6.Txe5, und hier findet sich für Schwarz die glänzende Verteidigung 6...Tg5!
Nach 7.Te8 Txb5 8.Ta8 Tb4 9.Kf3 a4 10.e4 Tb3+ 11.Kg4 a3 12.e5+ Ke6 13.Ta7 g6
14.Ta6 Kf7 ist die Stellung ausgeglichen.
3...Kxe4 4.f5+ Kxf5
5.Tf4+ Kg5 6.h4+ Kh5 7.d5
Weiß hat zwei Bauern geopfert, damit der d-Bauer
nach vorn stürmen kann. Jetzt wäre 7...exd5 schlecht wegen 8.Kh3, und 7...e5
wird durch 8.Tf5+ Kg4 9.d6 Kxf5 10.d7 mit Gewinn widerlegt.
7…f5 8.g4+
Das dritte und dieses Mal entscheidende Bauernopfer.
8...fxg4 9.Kg3 b4
Schwarz will den weißen Turm vom Punkt f5 ablenken.
10.d6! b3
11.d7 b2 12.Tb4! und Weiß
gewinnt.
Genauigkeit ist bis zum Schluss notwendig. Falsch wäre 12.Tf1?
wegen 12...Tf6!, und wenn 13.d8D, so 13…Txf1 14.De8+ g6 15.Dxe6 Tf3+.
Wassili
Smyslow: Geheimnisse des Turmendspiels
Paperback, ca. 128 Seiten, ca. 70 Diagr. - 24 × 17 cm
ISBN-10: 3-283-00520-6
ISBN-13: 978-3-283-00520-7
Euro 15,- / sFr 26,90