Schön und streng - Interview mit Smyslow

von ChessBase
18.12.2006 – Die meisten Weltmeister zeichneten sich durch hervorragende Endspielkenntnisse aus. Mancher blühte erst dann richtig auf, wenn das Brett fast völlig geleert war und holte dort die entscheidenden Punkte. Wassiliy Smyslow, Siebter Schachweltmeister, hatte dabei einen besonderen Zugang zu den Turmendspielen entwickelt und es hier zu einzigartiger Meisterschaft gebracht. Gerade ist sein Buch "Geheimnisse des Turmendspiels" erschienen, in dem der inzwischen 85-Jährige seinem Gegenstand der Bewunderung ein weiteres Denkmal gesetzt hat. Dagobert Kohlmeyer sprach mit dem Autor, der alle Schachfreunde anhand einiger hübscher Beispiele zum Studium der Turmendspiele einlädt. Edition-Olms... Schachbücher bei Niggemann...Mehr...

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Schöne und strenge Regeln
Interview mit Wassili Smyslow zum Turmendspiel
Von Dagobert Kohlmeyer

Wassili Smyslow feierte in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag. Trotz des stolzen Alters verfolgt der Exweltmeister aus Russland noch immer mit großem Interesse das Schachgeschehen, analysiert Partien und komponiert Studien. Sein neues Buch „Geheimnisse des Turmendspiels“ erscheint jetzt pünktlich vor Weihnachten in deutscher Sprache in der Edition Olms. Dagobert Kohlmeyer, der das Manuskript übersetzte, hat den Endspielvirtuosen Smyslow auch zum Thema interviewt. Wir bringen mit freundlicher Genehmigung des Verlages Auszüge aus dem Gespräch.

Welches ist Ihre Lieblingsfigur im Schach?

Das ist schwer zu sagen. Eigentlich mag ich sämtliche Figuren, die auf dem Brett stehen. Ich spiele mit allen gern.

Mögen Sie Türme besonders? 

Dieser Eindruck könnte entstehen, wenn man sich das vorliegende Buch ansieht. Es gibt einfach sehr viele praktische Beispiele dafür, was ich mit den Türmen vollbracht habe. In den meisten Fällen ging es darum, schön zu gewinnen. Wenn ich mich hingegen in schwierigen Situationen befand, und das kam natürlich auch vor, dann musste ich mich zuweilen kunstvoll verteidigen.

Wie wichtig sind in einer Partie die „Türme in der Schlacht“?

Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass die Bedeutung der Türme in aller Regel mit zunehmender Spieldauer wächst. Das heißt, je mehr die Entscheidung in einem Kampf heranreift, desto wichtiger werden diese Schwerfiguren.

Turmendspiele kommen ja auch am häufigsten in der Turnierpraxis vor.

Das ist richtig. In über der Hälfte aller Endspiele kommen Türme vor. Nichtsdestoweniger machen sie den meisten Schachspielern große Schwierigkeiten. Wir kennen das geflügelte Wort vom Maestro Tartakower, dass Turmendspiele nicht zu gewinnen sind. Warum wohl? Es liegt sicher daran, dass in diesem Typ das Verteidigungspotential sehr groß ist.

Hat Sie Ihr Vater, der auch ein starker Spieler war, schon früh auf die Bedeutung der Türme hingewiesen?

Das tat er. Und er brachte mir die Liebe zu Stellungen mit wenigen Steinen bei. Dadurch lernte ich die Kraft der einzelnen Figuren, darunter der Türme, besser verstehen. Mein Vater hielt sehr viel von Capablanca und dessen Methodik. Wir hatten sein Buch „Grundlagen des Schachspiels“ zu Hause in unserer Bibliothek. Ich kannte es in- und auswendig. Der große Kubaner war ja ein hervorragender Schachlehrer. So hat er beispielsweise empfohlen, zu Beginn vorwiegend ganz einfache Stellungen zu studieren und sich erst danach mit schwierigeren Positionen zu befassen. Genauso verfuhr mein Vater mit mir. Er ging in seinen Schachlektionen vom Einfachen zum Komplizierten über.

Bergen Turmendspiele für Sie noch immer Geheimnisse in sich?

Ja, bis heute! Sie sind und bleiben schwierig. Auch wenn ich das ganze Leben lang Schach spielte, erstaunen mich nach wie vor überraschende Lösungen, die mitunter immer noch gefunden werden. Das verdanken wir zum Teil auch den Computern, deren Entwicklung vehement voranschreitet. Ein gutes Schachprogramm analysiert und löst heute jedes Endspielproblem bis zu sechs Steinen. Das zeigt, Schach stellt mehr oder weniger ein mathematisches Modell dar, das man im Grunde nicht nur mit Intuition lösen kann. Es gehört auch eine subtile Technik dazu, die man erlernen muss.

Auch Sie, lieber Wassili Wassiljewitsch, waren in Ihrer Karriere nicht vor Fehlern gefeit. So ist Ihnen 1946 beim Turnier in Groningen ein Missgeschick im Turmendspiel passiert. Ihr glücklicher Gegner konnte sich damals durch einen Pattwitz retten.

Ich erinnere mich natürlich nicht besonders gern an dieses unnötige Versehen. Mein Partner war Ossip Bernstein, den ich sehr verehrte. Er empfand es am Brett ähnlich wie ich. Ich habe einfach zu hastig gezogen, weil ich dachte, dass ich leicht gewinne. So etwas ist mir selten passiert. In der Regel habe ich sehr aufmerksam gespielt. In der besagten Situation war ja nicht mehr viel zu tun, aber…

O. Bernstein -  W. Smyslow
Groningen 1946

Notation zum Nachspielen...


… in der Partie geschah 57…Th3 58.Ke2 b3 59.Tb8 b2??

Hans Kmoch merkte damals im Turnierbuch an, dass Schwarz „einem Irrlicht folgte”.

60.Txb2! Kg4 (nicht jedoch 60…Th2+ 61.Kf3! Txb2 patt!) 61.Kf1 Remis. Nach 59…Ke5 ist die Pattstellung dagegen aufgehoben, und Schwarz hätte leicht gewonnen.

Haben Sie sich immer bemüht, schnell ins Endspiel zu kommen?

Nicht unbedingt. In meiner Turnierpraxis habe ich alle Partiephasen gern gespielt. Heute ist es so, dass die meisten Schachspieler Eröffnungen besonders studieren und dem Endspiel weniger Aufmerksamkeit widmen, obwohl der letzte Abschnitt der wichtigste in einem Schachkampf ist. Darum erfordert er sehr viel Wissen.

Warum soll jeder Schacheleve zuerst Endspiele lernen und dabei den Turmendspielen besondere Aufmerksamkeit widmen?

Die großen Schachspieler der Vergangenheit wie Lasker, Capablanca, Aljechin haben die Kunst des Endspiels alle meisterhaft beherrscht. Von ihnen können wir eine Menge lernen. Ich empfehle den Schacheleven nicht nur die Erweiterung ihrer Kenntnisse über Eröffnung und Mittelspiel, sondern sie sollen sich genauso stark ins Endspiel vertiefen, weil es eine enorme praktische Bedeutung hat. Ein junger Schachspieler darf keine Angst davor haben, die Stellung zu vereinfachen und ins Endspiel überzuwechseln. Er sollte diese Aufgabe mit Selbstbewusstsein und mit der nötigen Technik in Angriff nehmen.

Wenn ein Endspiel heute schon so genau berechnet werden kann, sehen Sie dann vielleicht Parallelen zwischen Schach und Mathematik?

Ja. Schon vor längerer Zeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass unser Schachspiel selbst eine Art mathematisches Modell ist. Ein Computer kann heute bereits Stellungen bis zu einer bestimmten Figurenanzahl absolut genau berechnen. Zum Beispiel Turm, zwei Bauern und König gegen Turm und König. Die Maschine gibt für jede Position eine präzise Antwort. Bei sehr vielen Figuren jedoch reicht die Rechenkraft des Computers noch nicht aus. Dort stößt er an seine technischen Grenzen.

Und wo sind die Grenzen des Menschen?

Sie liegen woanders, im Bereich seines Bewusstseins. Philosophisch ausgedrückt, ist Schach ein Modell der menschlichen Erkenntnis. Es eröffnet uns die Möglichkeit, etwas zu verstehen. Und weil das Spiel nach schönen und strengen Regeln abläuft, bringt es einen auch auf den Gedanken, dass es für Schach irgendeine mathematische Grundlage gibt.

Schaut man sich Ihre Partien an, so ist sicherlich typisch, dass Sie bei deutlichem Vorteil zumeist in ein besseres Endspiel übergingen. Wann haben Sie Ihre Begabung für das Endspiel entdeckt? Gibt es dafür eine Schlüsselpartie?

Weil mein Vater mich so gut unterrichtet hatte, war meine Endspieltechnik schon im Jugendalter recht ordentlich. 1939 spielte ich ein Trainingsmatch gegen Konstantinopolski. Dort gibt es ein schönes Turmendspiel, das ich auch ins Buch aufgenommen habe. Der technische Teil ist interessant. Ich versuchte bereits damals, stellungsgerecht zu spielen.

Was ist in einem komplizierten Endspiel wichtiger: Intuition oder Rechenkraft eines Schachspielers?

Beides ist vonnöten. Zuerst einmal muss man die theoretischen Stellungen kennen, die im Turmendspiel vorkommen und auch die Methodik, wie sie zu behandeln sind. Es gibt ja ganz bestimmte Prinzipien des Turmendspiels. Eine ausgefeilte Technik ist ebenso wichtig wie das Studium der verschiedensten Varianten. Irgendwo aber hört die Rechenkunst auf. In schwierigen Momenten geht es ohne Intuition nicht weiter. Manchmal erscheint am Ende einer Schachpartie der Weg zum Ziel paradox, doch wenn es der einzig richtige ist, muss man ihn beschreiten. In meinen Turmendspiel-Studien gibt es schöne Beispiele für ungewöhnliche Lösungen von Stellungsproblemen.

W. Smyslow - M. Botwinnik
WM-Match (12)
Moskau
1957 

Notation zum Nachspielen...

29.Td8-b8 e6-e5

Oder 29...Kf6 30.Kd4 Tb5 31.f4, und Weiß gewinnt zwangsläufig. Ohne Mühe behielte er auch in der Variante 29...Txh2 30.g5 Tb2 31.Kd4 Tb5 32.c4 e5+ 33.Ke4 Tb4 34.Kxe5 Txc4 35.Te8 Tb4 36.Txe7+ Kf8 37.Tb7 c5 38.Kd5 c4 39.Kc5 Tb1 40.Kxc4 usw. die Oberhand.

30.c3-c4 Kg7-f7
31.c4-c5 Kf7-e6

32.Tb8-d8!                 …

Nachdem er seinen Turm befreit hat, schneidet Weiß dem schwarzen König den Weg zum Freibauern ab. Mit den nächsten Zügen sollen die Position des eigenen Königs verbessert und der Spielraum des feindlichen Turms eingeengt werden. Danach erfolgt der Übergang ins Bauernendspiel oder der Vormarsch des b-Bauern.  

32 ...  g6-g5
33.h2-h3 Tb2-b1
34.Ke3-d2 Tb1-b5
35.Kd2-d3 Tb5-b1

36.Kd3-c4 Tb1-c1+
37.Kc4-b4  Tc1-b1+
38.Kb4-a4 Tb1–a1+
39.Ka4-b4
Ta1-b1+
40.Kb4-a3
Tb1-a1+

41.Ka3-b2 Ta1-a5

42.Td8-d3   …

Das Ziel ist erreicht. Jetzt muss der schwarze Turm seine aktive Position verlassen, und Weiß gewinnt leicht.

42...         Ta5-a8
43.Kb2-b3 Ta8-a5

Folgen könnte noch 44.Kb4 Tb5+ 45.Kc4 Tb1 46.Tb3 Tc1+ 47.Kd3 Td1+ 48.Ke3 Td8 49.b7 Tb8 50.Ke4 Kd7 51.Kf5! Schwarz gab auf.

W. Smyslow
„Schach in der UdSSR“

1938



Remis

Die Diagrammstellung erinnert an eine Situation aus einer praktischen Partie.

1.Tg1+               ...

Nahe liegend erschien 1.Txg5? in der Hoffnung auf 1... a1D 2.Tg1+ oder 1...Td1 2.Ta5 und Remis, aber Schwarz hat die Zwischenzüge 1...Tb2+ 2.Kc4 Tc2+, und erst dann geschieht 3...a1D mit Gewinn.

1.Kb2  2.f4! gxf4 3.a7 Td4+ 4.Kb5 Td8 5.Tg2+ Kb3 6.Tg1 f3 7.Tf1 f2 8. Kb6 Kc3 9.Kb7 Kd3

Er versucht dennoch, den Rubikon zu überqueren, aber...

10.Ta1! Kc3 11.Tf1            

Remis.

W. Smyslow
„Schachwoche“

Weiß gewinnt

1.Th4+              

Weiß verhindert, dass Schwarz seinen Turm aktivieren kann, wonach sich das materielle Übergewicht des Nachziehenden auswirken würde. Zum Beispiel 1.Te4 f5 2.Te5 Tf6 3.Tc5 Tf7 4.Tc6 Tb7.

1…Kg5 2.f4+!

Im Falle von 2.e4 f5 3.e5 h5 4.f4+ Kh6 5.g4 fxg4 6.d5 exd5 7.f5 Tg5! (wenn 7...g3+? 8.Kg2 Tg5, so ist nach 9.Tf4 Kh7 10.e6 Kg8 11.h4 Tg4 12.Txg4 hxg4 13.h5 das Bauernendspiel leicht für Weiß gewonnen) 8.hxg5 g6 9.e6 Kg7 erreicht Weiß nichts. Uneffektiv ist auch 6.f5 wegen 6...a4!, zum Beispiel 7.fxe6 Txe6 8.hxg4 Te8 9.Txh5+ Kg6 10.Th3 Td8 11.Td3 a3 12.Txa3 Txd4 13.Ta6 Txg4 14.Txb6+ Kf5, und Schwarz hält sich.

2.Kf5 3.e4+      

Unzureichend wäre 3.Kg2 wegen der Folge 3...e5 4.dxe5 fxe5 5.Th5+ Kf6 6.Txe5, und hier findet sich für Schwarz die glänzende Verteidigung 6...Tg5! Nach 7.Te8 Txb5 8.Ta8 Tb4 9.Kf3 a4 10.e4 Tb3+ 11.Kg4 a3 12.e5+ Ke6 13.Ta7 g6 14.Ta6 Kf7 ist die Stellung ausgeglichen.

3...Kxe4 4.f5+ Kxf5 5.Tf4+ Kg5  6.h4+ Kh5 7.d5

Weiß hat zwei Bauern geopfert, damit der d-Bauer nach vorn stürmen kann. Jetzt wäre 7...exd5 schlecht wegen 8.Kh3, und 7...e5 wird durch 8.Tf5+ Kg4 9.d6 Kxf5 10.d7 mit Gewinn widerlegt.

7…f5 8.g4+

Das dritte und dieses Mal entscheidende Bauernopfer.

8...fxg4 9.Kg3 b4

Schwarz will den weißen Turm vom Punkt f5 ablenken.

10.d6! b3 11.d7 b2 12.Tb4! und Weiß gewinnt.

Genauigkeit ist bis zum Schluss notwendig. Falsch wäre 12.Tf1? wegen 12...Tf6!, und wenn 13.d8D, so 13…Txf1 14.De8+ g6  15.Dxe6 Tf3+.


Wassili Smyslow: Geheimnisse des Turmendspiels
Paperback, ca. 128 Seiten, ca. 70 Diagr. - 24 × 17 cm
ISBN-10: 3-283-00520-6
ISBN-13: 978-3-283-00520-7
Euro 15,- / sFr 26,90


 

 

 

 

 

 

 

 


Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

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