ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024
ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan
Eine kurze Einleitung: Joel Lautier gehörte Anfang der 1990er zu den größten Talenten der Schachwelt. Er wurde am 12. April 1973 geboren und 1990 Großmeister, damals der jüngste der Welt. Außerdem ist er der jüngste Spieler, der je Juniorenweltmeister wurde (mit 15!), ein Rekord, der bis heute Bestand hat. Er hat gegen fast jeden erdenklichen Spitzenspieler seiner Zeit gewonnen und eine positive Bilanz gegen Garry Kasparov. Die beiden haben zehn Mal gegeneinander gespielt, einmal gewann Kasparov, zwei Mal Lautier. Er war maßgeblich an Kramniks Sieg im WM-Kampf gegen Kasparov 2000 in London beteiligt und half bei der Vorbereitung der Berliner Verteidigung. Lautier war auch der erste Präsident der Association of Chess Professionals. 2006 zog er sich vom Turnierschach zurück und wandte sich der Finanzwelt zu. Er machte schnell Karriere und ist zur Zeit CEO von RGG Capital, einem Unternehmen, das sich auf Fusionen und Übernahmen spezialisiert hat.
Die zehnte Runde des Kandidatenturniers 2016 in Moskau lief. Ein Mann um die 40, mit Bart und tadellos gekleidet, schaute der Runde zu. Das Erscheinungsbild eines Geschäftsmannes und der Umstand, dass er ein wenig abseits von der Menge stand, schien mir zu suggerieren, dass er eigentlich keine Verbindung zum Schach hatte und das erste Mal bei einem Schachturnier war. Aber als ich genauer hinschaute, wusste ich plötzlich, wer das war! Ich ging zu ihm hin und sagte: "Hi! Sind Sie nicht Joel Lautier?" Leicht überrascht schaute er mich an. "Gut zu wissen, dass einen die Leute auch dann noch erkennen, wenn man vor zehn Jahren mit dem Schach aufgehört hat!" Joel kannte mich von meinen ChessBase-Artikeln. Wir unterhielten uns eine Weile und bevor er ging, fragte ich ihn, ob er Intereresse an einem Interview hätte. Wir trafen uns nach dem Turnier im Hotel Intercontinental in der Tweskaja Uliza, einer der elegantesten und teuersten Einkaufsstraßen Moskaus. Während des Interviews erkannte ich, wie vielseitig Lautier ist! Das zeichnet ihn aus. Er ist bereit, neue Herausforderungen anzunehmen und achtet darauf, die Dinge gut zu machen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei diesem zweiteiligen Interview.
Das Hotel Intercontinental in der Twerskaja Uliza
Sagar Shah: Joel, fangen wir doch mit dem Anfang an. Wie bist du zum Schach gekommen?
Joel Lautier: Ich fing mit dem Schachspielen an, als ich dreieinhalb war. Mein Vater zeigte mir das Spiel. Meine Mutter brachte mir die Regeln bei, aber mein Vater brachte mir bei, wie man spielt. Er war ein ziemlich guter Spieler - mit einer Zahl von ungefähr 2200, was damals in Frankreich ziemlich selten war. Frankreich war damals in Sachen Schach nicht besonders stark. Wenn man Spassky nicht mitzählt, hatten wir keine Großmeister, sondern nur ein paar Internationale Meister. In den ersten Jahren spielte ich zu Hause Schach und merkte gar nicht, welchen Vorteil ich gegenüber anderen Kindern hatte - ich hatte zu Hause einen starken Spieler, mit dem ich trainieren konnte. Ich machte schnell Fortschritte. Mein Vater gab mir interessante Aufgaben und ich blieb am Schach interessiert.
SS: Ab wann hast du dich ernsthaft mit Schach beschäftigt?
JL: Als ich sah, dass ich viel besser war als andere Kinder in meinem Alter. So wurde ich ohne große Probleme Pariser U10-Meister und wurde danach Französischer Meister U10. Danach beschäftigte ich mich ernsthaft mit Schach.
Der nächste Meilenstein kam, als ich anfing, regelmäßig gegen meinen Vater zu gewinnen. Da war ich ungefähr elf. Zu dieser Zeit fing ich auch an, immer öfter zu verreisen, um an Turnieren teilzunehmen. Ich fuhr nach Argentinien zur U14-Weltmeisterschaft. Wir waren beim damaligen Präsidenten, Mr. Alfonsin, in der La Casa Rosada, dem Präsidentenpalast in Buenos Aires, zu Gast. Das lag vor allem daran, weil Najdorf in Argentienien so beliebt war. Er war damals noch ziemlich aktiv. Miguel besuchte das Turnier und war wirklich eine beeindruckende Persönlichkeit. Ein Erlebnis für ein Kind!
SS: Später bist du U14-Weltmeister geworden und dabei vor den Polgars gelandet. Welchen Eindruck hattest du von den ungarischen Talenten?
JL: 1986 fand die U14-Weltmeisterschaft in Puerto Rico statt. Ich wurde mit anderthalb Punkten Vorsprung Weltmeister und landete vor den beiden Polgar-Schwestern, Judit und Sofia. Judit war damals ungefähr zehn, aber schon ziemlich stark. Sie war genauso stark wie Sofia, die damals schon IM war. Vor den beiden zu landen, war also nicht leicht. Ich gewann gegen Sofia und remisierte mit Judit und gewann das Turnier.
SS: War dein Vater damals immer noch dein Trainer?
JL: Ich habe mit meinem Vater trainiert, bis ich 1986 meinen ersten WM-Titel gewann. Danach trainierte ich mit einem IM namens Didier Sellos. Er kannte nicht viel Theorie, aber war zäh und das hat meinen defensiven Fähigkeiten geholfen. Er kam immer wieder schlecht aus der Eröffnung heraus und musste sich dann verteidigen. Das hat meinen Stil geprägt.
Ich würde sagen, am Brett war ich eine Art Straßenkämpfer. Meine Eröffnungskenntnisse waren beschränkt, aber ich kannte ein paar Systeme sehr gut. Als Kind habe ich immer 1.d4 gespielt. Es klingt vereinfachend, aber mein Vater hatte die Idee, dass ich 1.d4 spielen sollte, da die meisten Kinder in Frankreich damals 1.e4 gespielt haben. Nach 1.d4 waren ihre Eröffnungskenntnisse erschöpft (lacht). Da alle Kinder das Gleiche lernten, brachte mir mein Vater etwas Anderes bei und dadurch hatte ich einen Vorteil. Gegen 1.e4 spielte ich Französisch, was nicht wirklich zu meinem Stil gepasst hat, aber trotzdem gut war, denn die Kinder hatten keine Ahnung, wie man geschlossene Stellungen spielt.
Außerdem hatte ich eine Leidenschaft für das Endspiel entwickelt. Das lag an einem Buch von André Cheron, einem Studienkomponisten, der außerdem ein mehrbändiges, monumentales Werk über Endspieltheorie geschrieben hat. Vor allem der Abschnitt über das Turmendspiel war beeindruckend. Er hat unendlich viel Zeit in diese Bücher gesteckt. Die Zeiten waren damals anders und die Leute haben Endspiele stundenlang analysiert. Heute ist das kaum noch vorstellbar.
SS: Hast du dich als Jugendlicher viel mit dem Endspiel beschäftigt?
JL: Heute kann man sich das kaum noch vorstellen. Damals gab es keine Computer, keine Datenbanken und nur wenig Bücher, vor allem nicht in dem Teil der Welt, in dem ich lebte. Die Enzyklopädie der Schacheröffnungen, die von den Großmeistern betreut wurde, die auch die Informatoren herausbrachten, war die Bibel, die ultimative Quelle des Wissens. Die bekam man im Westen schwer und der Informator erschien nur alle sechs Monate. Die Welt drehte sich damals sehr langsam (lacht).
In der Eröffnung auf dem neuesten Stand zu bleiben, war sehr schwer, aber dafür hat man dann andere Aspekte des Spiels stärker betont. Das war auch die Zeit, in der man dazu angehalten wurde, Schach auf klassische Art und Weise zu lernen, indem man die Partien von Capablanca, Aljechin und der sowjetischen Meister studierte.
Ich hatte eine Schwäche für das Endspiel. Auch das ging auf meinen Vater zurück, der erklärt hatte, “mit Eröffnungen kann man klarkommen, aber wenn man das Endspiel erreicht und sich gut auskennt, dann wird man phantastische Ergebnisse erzielen.” Zur Zeit machen das nicht viele Leute, aber ich halte das für einen sehr guten Ratschlag.
SS: Glaubst du, dieser Rat ist immer noch gut, auch in unserer Zeit, in der man so viele Informationen so leicht bekommt?
JL: Eröffnungen sind einfach nur die Eintrittskarte zum Spiel. Wenn man schlechte Eröffnungen spielt, dann bekommt man nicht einmal gute Stellungen. Eröffnungen sind die Minimalanforderungen, die jeder erfüllen sollte, aber sie sind nicht das, worauf es ankommt. Die Stärken in anderen Bereichen der Partie sind es. Zum Beispiel ist Carlsens Überlegenheit im Endspiel ein Grund, warum er die Schachwelt so dominiert. Und das Endspiel war auch die Stärke von vielen berühmten Spielern wie Shirov, Karpov, Kramnik oder anderen. Deswegen glaube ich, dass das Endspiel wichtig ist und man daran arbeiten sollte.
SS: Welche Bücher - abgesehen vom Chéron - haben dir geholfen, im Endspiel besser zu werden?
JL: Mit der Zeit habe ich ein paar gute Bücher über das Endspiel in die Hände bekommen. Das Buch von Löwenfisch und Smyslov über Turmendspiele ist brillant. Batsford war damals der einzige Verlag, der reihenweise gute Schachbücher auf Englisch herausgebracht hat. Wenn ich ein bisschen Geld hatte, habe ich mir ein Schachbuch gekauft. Mein Vater hatte auch eine ziemlich gute Büchersammlung. Da waren auch etliche russische Schachbücher dabei und das hat mein Interesse am Russischen geweckt.
SS: Aber dein Verhältnis zum Russischen geht tiefer, nicht wahr?
JL: Natürlich! All diese Bücher von berühmten sowjetischen Autoren standen in der Bibliothek meines Vater, aber ich verstand die Sprache nicht. Ich konnte die Züge und Varianten nachspielen, aber was war mit den Kommentaren? Das war ziemlich frustrierend. Als ich zwölf war, beschloss ich deshalb, Russisch zu lernen! In meiner Schule brachte ich eine kleine Gruppe von Schülern zusammen, die am Russischen interessiert war und bat meine Eltern, mit dem Schuldirektor zu sprechen. Die Russischlehrerin war nicht mehr an der Schule und wir brauchten sechs Schüler, damit sie zurückkommen konnte. Ich konnte fünf meiner Klassenkameraden überzeugen, die allerdings überhaupt nicht wussten, was sie im Russischunterricht machen sollten (lacht)!
Die Russischlehrerin kam zurück und ich fing an, Russisch zu lernen. Nach dem ersten Jahr wollte die Hälfte der Klasse nicht mehr weitermachen, und nach dem zweiten Jahr war ich der einzige, der noch übrig war. Aber mittlerweile war dies der Schule auch nicht mehr wichtig, und so bekam ich fast drei Jahre lang Privatunterricht im Russischen! Aber ich habe nur die Grundlagen gelernt. Ohne Praxis kann man eine so komplexe Sprache nicht wirklich lernen. Als ich 19 war, fing ich an, regelmäßig nach Russland zu reisen. Die Sowjetunion gab es nicht mehr. Mittlerweile hatte ich auch über 2600 Elo und war Frankreichs Nummer eins.
Die einzige Person in Frankreich, mit der ich sinnvoll über Schach hätte reden können, war Boris Spassky, aber er war schon fast in Rente. Ich habe allerdings mit einer Reihe von russischen Trainern gearbeitet. Zum Beispiel war Polugaevsky ein wunderbarer Trainer. Anfang der Neunziger habe ich auch etliche Jahre immer mal wieder mit Viktor Kortschnoi gearbeitet, was meinen Stil geprägt und mein Verständnis etlicher Schlüsseleröffnungen in meinem Repertoire vertieft hat. Ab 1992 fuhr ich regelmäßig nach Russland. So lernte ich die Sprache wirklich und freundete mich mit Leuten wie Kramnik, Bareev, etc. an
SS: Russisch zu lernen hatte großen Einfluß auf dein Leben.
JL: Ja! Es ist kein Zufall, das wir uns in Moskau treffen, oder? (lächelt) Am Anfang bin ich wegen des Schachs nach Russland gefahren, aber später habe ich meine wunderbare Frau Alissa getroffen, die Russin ist, und so sind auch meine Kinder zur Hälfte Russen. Als ich mit dem Schach aufgehört habe und nach anderen Möglichkeiten gesucht habe, boten sich die mir in Russland. Was soll ich sagen? In der Schule Russisch zu lernen, war eine Entscheidung, die Folgen hatte, die ich mir nicht hatte träumen lassen!
SS: Ein anderes wichtiges Ereignis in deinem Leben war dein Sieg bei den Juniorenweltmeisterschaften 1988 in Adelaide.
Joel zeigt die Goldmedaille, die er bei der Juniorenweltmeisterschaft gewonnen hat
JL: Ich war damals gerade 15 Jahre alt. Ich war damals der jüngste Spieler, der je Juniorenweltmeister wurde, und ich glaube, dieser Rekord steht immer noch. Ich war Internationaler Meister mit einer Spielstärke von ungefähr 2500 Elo. Dieses Turnier war extrem wichtig für mich und ebnete mir den Weg, um später in Spitzenturnieren zu spielen.
Ich würde sagen, als Kind war ich extrem ehrgeizig. Ich habe geglaubt, dass alles möglich ist. Ich hatte nicht das erklärte Ziel, das Turnier zu gewinnen, aber ich habe definitiv daran geglaubt, dass ich es interessant machen könnte. Ich fuhr mit Eric Birmingham nach Adelaide, einem französischen Trainer, der nicht einmal IM war, aber wusste, wie man mit Kindern in meinem Alter arbeitet.
Wahrscheinlich war dies eine der stärksten Juniorenmeisterschaften in der Geschichte des Turniers. Starke Spieler wie Ivanchuk, Gelfand, Adams, Piket, Akopian, Susan Polgar, Patrick Wolff oder David Norwood waren dabei. Wahrscheinlich habe ich mindestens vier oder fünf Spieler, die später starke Großmeister wurden, vergessen. Mit einem Sieg gegen Jeroen Piket startete ich gut ins Turnier, aber habe dann eine wichtige Partie gegen Matthias Wahls verloren.
Ich erholte mich und gewann eine Reihe von Partien, bis ich dann gegen Akopjan verlor. Ich musste jetzt meine letzten beiden Partien gewinnen, um überhaupt eine Chance auf den ersten Platz zu haben, und genau das habe ich getan. Aber dennoch mussten in der letzten Runde eine ganze Reihe von Partien günstig für mich ausgehen, damit ich den Titel gewinnen konnte. Aber genau das geschah! Ich wurde zusammen mit Gelfand, Ivanchuk und Serper geteilter Erster, doch da bei Gleichstand die größere Zahl von Gewinnpartien den Ausschlag gab, wurde ich Juniorenweltmeister.
SS: Wann wurdest du Großmeister?
JL: 1990, mit 17, anderthalb Jahre nach dem Gewinn der Juniorenweltmeisterschaft. Meine dritte GM-Norm holte ich bei einem Mannschaftswettbewerb Frankreich gegen Holland in Cannes. Meine erste GM-Norm habe ich im Pariser Open geholt, meine zweite beim GMA Open in Palma De Mallorca. 1990 war ein sehr erfolgreiches Jahr für mich. Ich wurde Großmeister und gewann das Zonenturnier, wodurch ich mich für das Interzonenturnier qualifiziert habe. Damals konnte sich nur ein Spieler aus meiner Zone, die, wenn ich mich richtig erinnere, aus Frankreich, Holland, Belgien und Spanien bestand, qualifizieren. Ich gewann das Zonenturnier mit dem Riesenergebnis von 10 aus 12. Das war schön.
Mit 3,5 aus 4 und Siegen gegen starke Spieler wie Adams, Vaganian und Yudasin startete ich gut ins Interzonenturnier. Doch gegen Ende des Turniers verlor ich gegen Vishy Anand. Das war keins meiner besten Turniere, aber ich habe doch ganz gut gespielt. Damit fing ich auch an, in Spitzenturnieren zu spielen.
SS: Hielt man dich damals für eines der größten Talente der damaligen Schachwelt?
JL: Ja! Als ich Großmeister wurde, war ich der damals jüngste Großmeister der Welt. Adams und ich waren damals vielleicht die viel versprechendsten Spieler aus der westlichen Welt.
SS: Welche Folgen hatte das für deine schulische Laufbahn?
JL: Als ich 16 war, haben meine Eltern und ich das diskutiert. Ich hatte in der Schule ein Jahr übersprungen, aber das Interzonenturnier in Manila kollidierte mit meiner Abschlußprüfung. Natürlich wollte ich wegen der Prüfungen in der Schule nicht auf ein solches Turnier verzichten. Ich war der Meinung, ich sollte beim Interzonenturnier mein Bestes geben und meine Eltern waren der gleichen Meinung.
Ich hatte die Möglichkeit, die Prüfungen später abzulegen, aber meine Eltern waren damit einverstanden, dass ich Schachprofi werde und mit der Schule aufhöre. Ich möchte das noch einmal betonen, denn es kommt nur selten vor, dass Eltern bereit sind, die Risiken zu akzeptieren, die mit einer solchen Entscheidung verbunden sind. Jetzt, wo ich selber Kinder habe, kann ich das viel besser verstehen. Ich habe das damals nicht ganz begriffen, aber meine Eltern brauchten wirklich Mut, um mich tun zu lassen, was ich wollte, und zu akzeptieren, dass meine Chancen, einen ordentlichen Job zu kriegen, dadurch geringer wurden. Sie haben meine Schachkarriere immer unterstützt, aber auf kluge und verständnisvolle Weise.
Ich hatte damals auch einen Sponsor, eine französische Immobilienfirma names “Immopar”, immerhin ein Beleg, dass ich mit dem Schachspiel Geld verdienen konnte. Aber um die Frage zu beantworten - ich war ein Aussteiger und bin nicht auf die Uni gegangen (lächelt).
SS: Du bist jetzt Geschäftsführer einer Firma, die sich auf Fusionen und Übernahmen spezialisiert hat. Dann musst du doch später studiert haben, oder?
JL: Ja, das habe ich, aber viel später, als ich schon dreißig war. Ich habe ein Programm für Führungskräfte an der berühmten Wharton School in Philadelphia absolviert und ein paar Jahre später habe ich meinen Abschluss als leitender MBA an der Skolkovo gemacht, Russlands führender International Business School.
SS: Cool! Darüber sprechen wir später noch. Aber reden wir doch erst einmal über deine erste Partie gegen Garry Kasparov, die 1994 gespielt wurde.
JL: Wie bereits gesagt, war ich als Jugendlicher sehr ehrgeizig und nichts hat mich stärker motiviert als das Unmögliche. Schwieriges fiel mir leichter als das Übliche. Das ist ein Grund für meine wenig gradlinige Karriere. Nach einer guten Partie habe ich öfter eine weniger gute gespielt. Aber wenn mich eine interessante Herausforderung lockte, habe ich alle Kräfte mobilisiert.
Die erste Partie zwischen Kasparov und Lautier begann mit einer ruhigen Italienischen Eröffnung
und endete mit einem überzeugenden Sieg für den Jungstar
Meine erste Partie gegen Garry habe ich in Linares gespielt, in der letzten Runde des Turniers von 1994, in dem Anatoly Karpov mit 11 aus 13 überirdisch gut gespielt hat. Als ich gegen Garry gespielt habe, konnte er bereits nicht mehr Erster werden. Deshalb war er bereits vor der Partie ein wenig angesäuert. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was nach der Partie geschah (lacht).
Kasparov kämpfte mit Shirov um den zweiten Platz. Ich hatte Schwarz und vor der Runde habe ich mir Garrys Weiß-Partien der letzten Jahre angeschaut und konnte nicht eine einzige Partie finden, die er in den letzten vier oder fünf Jahren mit Weiß verloren hatte! Da dachte ich mir, “Es ist an der Zeit, dass er eine Partie verliert!” (lacht herzlich). Er entschied sich für eine merkwürdige Eröffnung - Italienisch. Ich hatte Spanisch erwartet. Nach der Eröffnung war er sich nicht wirklich sicher, ob er positionell spielen oder angreifen sollte.
Irgendwann spielte er dann ein wenig aggressiver, als die Stellung hergab. Ich opferte eine Figur und erhielt dafür eine ganze Reihe von Bauern. Diese Bauern setzten sich dann im Zentrum in Marsch. Tatsächlich war die Partie ziemlich spektakulär. Irgendwann standen drei Damen auf dem Brett. Er machte einen schweren Fehler und verlor die Partie. Nach der Niederlage war er extrem aufgebracht und entrüstet. Er murmelte irgendetwas auf Russisch, was ich ziemlich gut verstand (lächelt). Ich war natürlich sehr glücklich und war so keck, anzubieten, die Partie zu analysieren. Er lehnte ab und meinte, es gäbe nichts zu analysieren und ging.
Dieses Bild wurde gemacht, nachdem Garry Kasparov zum zweiten Mal gegen Joel verloren hatte, dieses Mal beim Euwe Memorial, in Amsterdam 1995 (das Foto stammt von Stein Rademaker, siehe Genna Sosonkos Artikel"Have you seen a lion?" für chess-news.ru)
Garry hadert mit der Niederlage (Foto von Stein Rademaker)
Nach ein paar Stunden und als ich gerade mit ein paar der anderen Teilnehmer im Restaurant feierte, kam Garry, der sich wieder beruhigt hatte, zu mir, und meinte auf seine typische, nicht unbedingt förmliche Art: “Ich hätte das und das spielen sollen.” Ich schlug meinerseits ein paar Züge vor und nach einer Weile meinte er, dass wir uns diese interessante Partie gemeinsam anschauen sollten und lud mich in seine Hotel-Suite ein. Unterwegs sammelten wir Kramnik und Gelfand auf und analysierten die Partie dann zwei Stunden oder länger in freundlicher Atmosphäre.
Ich sah die gute Seite von Garry – obwohl er gerade eine Partie verloren hatte, und ihn diese Niederlage schmerzte, brachten ihn die ungewöhnlichen Motive der Partie doch dazu, sich die Partie zusammen mit mir gründlich anzuschauen. Das ist eine der attraktiven Seiten von Garry: Er hat wirklich leidenschaftliches Interesse am Schachspiel. Obwohl er sich aus dem Turnierschach zurückgezogen hat, kann man sicher sein, dass er die Spitzenturniere verfolgt, die Partien analysiert, usw. Das ist etwas, das ich an ihm schätze.
Abgesehen davon ist es schwer, mit ihm umzugehen. Er war sehr konkurrenzbetont und nach unserer ersten Partie, in dem ich gegen ihn gewonnen habe, stufte er mich bereits als jemanden ein, mit dem er nie befreundet sein würde! Wir wurden dann auch nie Freunde, aber meine positive Bilanz gegen ihn habe ich behalten. Das ist mir lieber als andersrum! (lacht)
SS: Warst du nervös, als du gemerkt hast, du stehst gegen Kasparov auf Gewinn? Schließlich warst du gerade einmal 21 Jahre alt und hast gegen den amtierenden Weltmeister gespielt!
JL: Natürlich war ich nervös. Aber auf die richtige Weise. Die ganze Partie über strömte das Adrenalin (lacht). Ich war extrem wach, extrem motiviert. Alle meine Partien gegen Garry waren interessant. Tatsächlich war auch die Partie, die er gegen mich bei der Olympiade verloren hat, ziemlich hübsch. Alle unsere Partien waren ausgekämpft. Da war kein leichtes Remis dabei.
SS: Du hast zehn Partien mit klassischer Bedenkzeit gegen Kasparov gespielt. Mit zwei Siegen, einer Niederlage und sieben Remis hast du eine positive Bilanz. Welche deiner Eigenschaften hat dir geholfen, gegen einen großen Spieler wie ihn zu bestehen?
JL: Ich glaube, das lag vor allem an meiner Einstellung. Denn Garry ist trotz all seines theoretischen Wissens und seines feinen Angriffsspiels im Grunde ein sehr emotionaler Mensch, beinahe instinkthaft. Er konnte sofort spüren, wenn ein Gegner Angst vor ihm hatte, und das gab ihm wichtigen zusätzlichen Auftrieb. Das hat ihn irgendwie beflügelt.
Aber er hatte Probleme gegen Spieler, denen sein ganzes Theater ziemlich egal war, und die einfach gegen ihn spielten. Das war der Grund, warum er Probleme gegen Kramnik hatte. Kramnik ist ein anderer Mensch, ruhig wie ein Spiegel. Und Kasparov konnte nicht viel gegen ihn machen, weil Vlad extrem ausgeglichen war. Er spielt einfach die Partie! Wie jeder andere hat er Gefühle, aber er zeigt sie nicht und ist sehr schwer zu lesen.
Ich habe mich gegenüber Garry etwas anders verhalten als Vladimir, denn ich habe Garry gerne imitiert und provoziert, sogar in Diskussionen, auch gerne einmal mit Absicht, weil ich Spaß daran hatte! Mein Vorteil gegen Kasparov bestand also vor allem in Psychologie und guter Eröffnungswahl. Und wenn man einmal gut startet, wirkt das nach. Wenn Spitzenspieler regelmäßig gegeneinander antreten, dann haben sie immer eine Geschichte.
Zum Beispiel hatte ich immer große Probleme gegen Shirov. Ich fand sein Spiel schwer zu durchschauen und war der Meinung, er wollte immer Chaos auf dem Brett stiften. Am Anfang verlor ich fünf Partien hintereinander gegen ihn. Aber nach meinem Sieg in Linares 1994 änderte sich der Trend. Ich gewann fünf Mal in Folge gegen ihn, danach wechselten sich die Siege ab und am Ende hatten wir ein etwa ausgeglichenes Score gegeneinander. Was ich sagen will ist, dass die Geschichte, die zwei Spieler miteinander haben, eine Rolle spielt. Psychologie spielt eine Rolle.
SS: Das ist auch der Grund, warum du gegen eine Reihe sehr starker Spieler wie z.B. Bologan einen sehr guten Score hast – 10,5/14, wenn ich mich nicht irre.
JL: Ja, das stimmt. Einmal hat er sogar in zehn Zügen gegen mich verloren.
Joel Lautier - Viktor Bologan, 1999
Weiß zieht und gewinnt?
Lösung:
[Event "Enghien les Bains 3rd"]
[Site "Enghien les Bains"]
[Date "1999.03.11"]
[Round "8"]
[White "Lautier, Joel"]
[Black "Bologan, Viktor"]
[Result "1-0"]
[ECO "B10"]
[WhiteElo "2596"]
[BlackElo "2608"]
[PlyCount "19"]
[EventDate "1999.03.03"]
[EventType "tourn"]
[EventRounds "9"]
[EventCountry "FRA"]
[EventCategory "15"]
[SourceTitle "CBM 070"]
[Source "ChessBase"]
[SourceDate "1999.06.08"]
1. c4 c6 2. e4 d5 3. cxd5 cxd5 4. exd5 Nf6 5. Nc3 Nbd7 6. Nf3 a6 7. d4 Nb6 8.
Ne5 Nbxd5 $2 9. Qa4+ $1 {Black has no real good way of blocking the check.} Bd7
(9... b5 10. Bxb5+ $1 axb5 11. Qxa8 $18) 10. Nxd7 {It is not everyday that you
see a strong player like Bologan losing in just 10 moves.} (10. Nxd7 Qxd7 11.
Bb5 $18) 1-0
Teil zwei dieses Interviews folgt in Kürze. Darin spricht Joel über den Wettkampf zwischen Kramnik und Kasparov im Jahre 2000, wo er Sekundant von Kramnik war. Außerdem erzählt Lautier ein paar schöne Anekdoten über Anand, Ivanchuk und Carlsen. Im zweiten Teil des Interviews spricht Joel auch über seine Rolle als ACP-Präsident, warum er sich vom Turnierschach zurückgezogen hat und über sein Leben abseits des Schachbretts.