Perfekte Organisation, Medienereignis und Auftakt zum
WM-Kampf Spassky – Fischer:
Die Schacholympiade Siegen, 5. bis 29. September 1970
Von Johannes Fischer
Schacholympiade Siegen: Download Partien...
Denkt man an die Schacholympiade Siegen 1970, denkt man an
Spassky gegen Fischer. Die Begegnung der beiden war die Partie der
Olympiade. Spassky war zwar Weltmeister, aber viele hielten Fischer für den
stärksten Spieler der Welt – obwohl der Amerikaner in den direkten Begegnungen
mit Spassky immer schlecht ausgesehen hatte. Zwei Mal hatte er verloren, zwei
Partien endeten Remis.
Aber dass Fischer in Siegen überhaupt antrat, war bereits
eine kleine Sensation. Bekanntlich hatte der Amerikaner das Interzonenturnier
in Sousse 1967 vorzeitig abgebrochen, obwohl er deutlich in Führung lag und war
danach von der Schachszene verschwunden. Aber zu Beginn des Jahres 1970 kehrte
er wieder zurück und schlug Tigran Petrosian beim Wettkampf UdSSR gegen den
Rest der Welt in Belgrad klar mit 3:1. So galt Fischer beim Interzonenturnier
in Palma de Mallorca, das zwei Monate nach der Olympiade stattfinden sollte,
wie überhaupt für den gesamten WM-Qualifikationszyklus, als klarer Favorit.
Tigran Petrosjan
Aber auch wenn Fischer wieder an Turnieren teilnahm, so war
es keine Selbstverständlichkeit, dass er für die amerikanische Mannschaft
spielte. An der Olympiade in Tel Aviv 1964 hatte er nicht teilgenommen, weil
der Verband sich weigerte, das von Fischer geforderte Honorar zu zahlen und
1968 in Lugano reiste Fischer an, besichtigte das Spiellokal, empfand die
Spielbedingungen als zu dürftig und reiste wieder ab. Aber in Siegen söhnte er
sich sogar mit seinem alten Rivalen Reshevsky aus und spielte für die USA.
Am 19. September, einem Sonntag, kam es so endlich zum lang
ersehnten Duell Spassky gegen Fischer, und der Publikumsandrang bei dieser
Partie brach alle Rekorde. 4.500 Zuschauer strömten in die Siegerlandhalle, von
denen, so Theo Schuster, "viele ohnmächtig wurden und weggebracht werden
mussten" (Deutsche Schachblätter, 10/1970, S.228). Auch "das Fernsehen
etablierte sich aufdringlich von allen Seiten, selbst Reshevsky wurde von einem
Kameramann unsanft beiseite geschoben!" (Deutsche Schachblätter,
11/1970, S.253). Und die Zuschauer kamen auf ihre Kosten: Spassky und Fischer
spielten beide kämpferisch und lieferten sich einen packenden Schlagabtausch,
bei dem Spassky schließlich die Oberhand behielt. Obwohl Fischer nach der
Eröffnung gut gestanden hatte, verlor er im Mittelspiel den Faden und gab
schließlich im 39. Zug auf.
Spassky gegen Fischer...
Dieser Sieg im Prestigeduell verhalf der Sowjetunion zu einem
wichtigen 2,5:1,5 Sieg gegen die USA, der allerdings glücklich zustande kam,
denn es fehlte nicht viel und die Sowjets hätten diesen Kampf verloren. Nachdem
Petrosian und Reshevsky schnell Remis vereinbarten, standen sowohl Polugayevsky
gegen Evans und Geller gegen Lombardy sehr bedenklich, und zwischenzeitlich
sogar auf Verlust, konnten sich aber beide zum Schluss ins Remis retten.
Spassky kam durch diesen Sieg außerdem zu einem Maßanzug als
Preis für das beste Ergebnis an Brett 1. Eigentlich hatte man diesen Preis auf
Fischer zugeschnitten, dessen Vorliebe für elegante Anzüge bekannt war, aber
nach Niederlage des Amerikaners mussten die Schneider rasch beim Russen Maß
nehmen und den Anzug entsprechend ändern.
Die Organisation
Das große Publikumsinteresse und Medienecho rechtfertigte
alle Anstrengungen, die Olympiade nach Siegen zu holen. Die Idee dazu entstand
1967 bei einem Treffen zwischen dem Hamburger Konsul, Funktionär und
Organisator Emil Dähne und Hermann Schmidt, Landrat des Kreises Siegen,
Schachfan und Mitglied des Deutschen Bundestages. Neben Willi Fohl, dem
Turnierleiter des Deutschen Schachbundes, war Ludwig Schneider, der Präsident
des Deutschen Schachbundes, eine treibende Kraft bei der Organisation.
Ludwig Schneider
Schneider wusste, worauf es ankam, denn 1958 hatte er als
Präsident des Bayerischen Schachbundes bereits die Schacholympiade nach München
geholt. Vor Ort und unterstützt von 200 ehrenamtlichen Helfern leitete dann
Klaus Hülsmann, Vize-Präsident des DSB, die Geschicke der Olympiade. Neben
großer finanzieller Unterstützung aus der Politik schufen zahlreiche Sponsoren
aus der freien Wirtschaft die Grundlage für einen reibungslosen technischen
Ablauf:
"So gab es im Demonstrationssaal erstmals die projezierten
(sic) Wandbretter von Demolux (die Züge wurden auf eine Riesenleinwand
projiziert). Die Firma Philips stellte einen Computer samt Bedienung für die
Dauer der Olympiade zur Verfügung, die Xerox-Rank lieferte das modernste
Fotokopiergerät und Rotaprint stellte die Druckmaschine und andere Geräte zur
Verfügung, die zur Herstellung der täglichen Rundenberichte gehörten. Das
Volkswagenwerk bot 16 Busse für den Transport auf, die REWE-Genossenschaft
versorgte alle Mannschaften und ihre Betreuer täglich mit einem Sortiment
Nervennahrung und eine Teppichfirma stattete den Spielsaal mit schalldämpfenden
Teppichen aus. Und das alles gratis! (Deutsche Schachblätter, 10/1970,
S.226)".
Nöttger, Hülsmann, Schneider
Zu viele Teilnehmer
Nach Hamburg 1930, München 1958 und Leipzig 1960 war Siegen
1970 die vierte offizielle Schacholympiade, die in Deutschland ausgetragen
wurde. Ungewöhnlich bei der Vergabe der Olympiade an Siegen war allerdings,
dass erstmals ein relativ kleiner Ort als Ausrichter fungierte. Dies brachte
trotz der exzellenten Organisation auch Nachteile mit sich. Das Spiellokal
platzte aus allen Nähten und die Mannschaften konnten nicht alle zentral
untergebracht werden, sondern wurden auf umliegende Quartiere verteilt und
jeden Tag mit Shuttle-Bussen in die Siegerlandhalle zum Spielen gebracht.
Dadurch, so empfanden es viele Spieler, fehlte das olympische Flair. Dabei war
die Zahl der teilnehmenden Mannschaften im Vergleich zu heutigen Olympiaden
vergleichsweise gering. Während bei der Schacholympiade in Calviá 2004 129
Herrenmannschaften und 87 Damenmannschaften teilnahmen, gingen in Siegen nur 60
Herrenteams und keine Frauenmannschaft an den Start. Denn obwohl die erste
Frauenolympiade bereits 1957 in Emmen stattfand, wurden die Frauenolympiaden
erst ab 1972 parallel zu den Herrenolympiaden ausgetragen. Insgesamt waren in
Siegen 360 Spieler am Start, darunter 35 Großmeister und 66 Internationale
Meister. Tatsächlich waren sogar mehr als 60 Mannschaften nach Siegen gekommen,
um an der Olympiade teilzunehmen. Aber da man kein Platz mehr hatte, wurden die
Mannschaften von Argentinien, Ekuador, Venezuela und Frankreich mit der
Begründung, sie hätten sich nicht rechtzeitig angemeldet, nicht zum Turnier
zugelassen und wieder nach Hause geschickt.
Modus
In der Tat hätten vier zusätzliche Mannschaften nicht nur
Platzprobleme verursacht, sondern auch den Modus gefährdet. Denn anders als
heute, wo die Olympiaden nach Schweizer System ausgetragen werden, teilte man
die 60 Mannschaften in Siegen in sechs Vorgruppen á zehn Mannschaften ein, von
denen die beiden besten sich für das A-Finale qualifizierten. Die Mannschaften
auf den Plätzen drei und vier qualifizierten sich für das B-Finale, fünf und
sechs für das C-Finale usw. Punkte, die in den Vorrunden erzielt wurden, nahm
man in die Endrunde mit. Die Bedenkzeit betrug 2,5 Stunden für 40 Züge,
Hängepartien wurden am nächsten Morgen gespielt.
Klarer Favorit war die Sowjetunion. Seitdem die Sowjets in
Helsinki 1952 erstmals an der Schacholympiade teilgenommen hatten, waren sie
immer Erster gewesen, und auch in Siegen schickte die führende Schachnation der
Welt eine beeindruckend starke Mannschaft ins Rennen. Mit Spassky, Petrosian,
Kortschnoi, Polugayevsky, Smyslov und Geller spielte genau die Auswahl, die
zwei Jahre zuvor bei der Olympiade in Lugano mit 8,5 Punkten Vorsprung gewonnen
hatte. Die besten Außenseiterchancen räumte man neben den USA, die mit Fischer
und Reshevsky antraten, noch den traditionell starken Ungarn ein.
Knapper Sieg der Favoriten
Aber in Siegen lief die sowjetische Schachmaschinerie nicht
so reibungslos wie sonst. Die mit drei Weltmeistern und drei
Spitzengroßmeistern besetzte Mannschaft leistete sich in der Finalrunde nicht
weniger als vier Unentschieden und gewann keinen einzigen Kampf 4:0. Am Ende
lagen sie dennoch vorn, hatten jedoch nur einen mageren Mannschaftspunkt
Vorsprung vor den Ungarn. Dieses vergleichsweise schlechte Ergebnis führte nach
der Rückkehr der Mannschaft in die Sowjetunion zu massiver Kritik und
veranlasste Spassky zu folgendem Kommentar: "Our team played very badly.
Fantastically ... patzers. ... It is like impotence. Patzers. ... Two-two, two
and a half-one and a half, two-two ... it is awful (sic)." ("Interview with
Boris Spassky", Keene, Levy, Siegen Chess Olympiad, S.22) Verantwortlich
für das schlechte Spiel könnte die Rivalität der Sowjets untereinander gewesen
sein. Schließlich wussten Polugayevsky, Smyslov, Geller und Mark Taimanow, der
Trainer der Mannschaft, dass sie nur zwei Monate später beim Interzonenturnier
in Palma de Mallorca Konkurrenten im Rennen um den WM-Titel sein würden.
Ein Indiz für die schlechte Stimmung im Lager der Sowjets war
Kortschnois kampfloser Verlust gegen die Spanier. Kortschnoi, der am Vormittag
noch eine Hängepartie absolvieren musste, war zu Beginn der Partie noch nicht
aus seinem Mittagsschlaf erwacht, und da es niemand aus der sowjetischen
Delegation für nötig hielt, ihn anzurufen oder nach ihm zu schicken, verlor er
kampflos.
Silbermedaillengewinner
waren die Ungarn, bei denen vor allem Portisch am ersten (11/16), sowie
Forintos am vierten (11,5/16) und I. Csom am fünften Brett (10,5/14)
überzeugten. Portisch hätte mit ein wenig Glück sogar noch mehr Punkte erzielen
können. Fischer hatte er am Rand einer Niederlage und gegen Gligoric übersah er
in Gewinnstellung einen einfachen taktischen Trick und verlor einzügig.
Portisch gegen Fischer Siegen 1970...
Bronze ging an die Jugoslawen, die durch eine starke
Mittelachse gestützt wurden. Während Gligoric am ersten Brett mit 7,5 aus 13
etwas enttäuschte, gewann Ivkov am zweiten Brett mit 10/13 den Brettpreis,
genau wie Matanovic an vier (10/12). Auch Matulovic an drei überzeugte mit
einem Ergebnis von 13/17.
Die westdeutsche Mannschaft wurde Sechster, obwohl, wie
Hans-Joachim Hecht es ausdrückte, sie schachlich "wirklich keine Bäume" bei
dieser Olympiade ausrissen. Sämtliche Kämpfe gegen die fünf vor ihnen liegenden
Mannschaften gingen 1,5:2,5 verloren. Der erfolgreichste Spieler war Lothar
Schmid, der das zweitbeste Ergebnis an Brett zwei erzielte und für seine Partie
gegen Anton Kinzel aus Österreich den Schönheitspreis gewann. Die Ergebnisse im
Einzelnen: W. Unzicker, 10,5/18, L. Schmid, 9/12, K. Darga, 8,5/12, H.-J.
Hecht, 8/14, D. Mohrlok, 8,5:12, K. Klundt, 5/8.
Die Mannschaft der DDR belegte den 9. Platz. Während Uhlmann mit 10/16 am
ersten Brett ein solides Ergebnis erzielte, ragte aus dem Rest der Mannschaft
kein Spieler wirklich heraus. Prozentual am besten schnitten noch Arthur
Hennings (10,5/15 und der spätere Fernschachweltmeister Fritz Baumbach (4,5/6)
ab. Die restlichen Einzelergebnisse: B. Malich an 2, 9,5/17, H. Liebert an 3,
7,5/13, L. Zinn an 5, 5/9.
Die im Vergleich zur Olympiade in Lugano 1968 weiter
gestiegene Zahl von teilnehmenden Nationen (von 53 in Lugano auf 60 in Siegen)
spiegelte die weltweit zunehmende Popularität des Schachspiels wieder.
Mannschaften aus allen fünf Kontinenten gingen in Siegen an den Start, wobei
Afrika allerdings unterrepräsentiert war, da außer Südafrika nur noch Marokko
und Tunesien spielten. Dafür waren Neuseeland und Australien, aber auch
Singapur, Japan und Hongkong am Start. China, die heute stärkste Schachnation
aus Fernost, feierte ihr olympisches Debüt allerdings erst 1978, zwei Jahre
nach dem Tod Maos. Aber seitdem wurden die Chinesen immer stärker. Betrug der
Elo-Schnitt des Herrenteams 1978 noch 2273 Punkte, so wiesen die Chinesen in
Calviá bereits einen Schnitt von 2612 auf.
Politik und Kurioses
Trotz aller politischen und kulturellen Unterschiede der
teilnehmenden Mannschaften gab es anders als z.B. bei den Olympiaden in Haifa
1976 und Dubai 1986, die von Boykottaufrufen überschattet waren, kaum politisch
bedingte Reibereien. Lediglich Albanien weigerte sich in der Vorrunde gegen
Südafrika anzutreten, um so gegen die Apartheidpolitik Südafrikas zu
demonstrieren. Ironischerweise verhalf der daraus resultierende 4:0 Sieg
Südafrika zu einem Platz in Finalgruppe D, genau die Gruppe, in die Albanien
durch diese Niederlage kam. Aber da die Ergebnisse der Vorrunden in die
Endrunden übernommen wurden, blieb Albanien eine zweite kampflose 0:4
Niederlage erspart.
Ein weiterer Kampf, der für Unruhe sorgte, war das
Aufeinandertreffen zwischen Griechenland und Polen aus der Schlussrunde der
Vorgruppe. Um sich einen Platz in der Finalgruppe C zu sichern, mussten die
Griechen mindestens 2,5:1,5 gegen Polen gewinnen – wobei die Polen allerdings
das deutlich stärkere Team bildeten. Doch die Griechen hatten "Glück" und
gewannen tatsächlich 2,5:1,5. Wie der Zufall es wollte, überschritten bei den
Polen sowohl Bednarski – gegen Kazilaris – als auch Doda – gegen Siaperas – in
besserer Stellung die Zeit, übrigens die beiden einzigen Partien, die Bednarski
und Doda nach Zeit verloren.
Kurios verlief auch die Partie des Schweizers Erno Gereben
gegen den Indonesier Ardiansyah, in der Schwarz sich durch einen entschlossenen
Bluff in ein Remis rettete. In einem Damenendspiel mit zwei Minusbauern opferte
der Indonesier unvermutet seine Dame, was Gereben so schockierte, dass er nicht
mehr klar denken konnte: "Ich starrte wie hypnotisiert auf die Szene. Mein
Gegner schlug mit meinem König seine Dame auf g6, rief dabei triumphierend
'Patt', reichte mir zur Besiegelung des Remis die Hand, in die ich vor den
verdutzten Zuschauern wie gelähmt einschlug. Dann entfernte sich der Indonesier
vom Brett" (Deutsche Schachblätter, 11/1970, S. 253-254). Als Gereben
merkte, dass Schwarz sich keinesfalls hatte Patt setzen lassen, sondern noch
ziehen konnte, war es bereits zu spät – mit dem Handschlag hatte er das Remis
akzeptiert.
Gereben: Patt
Resümee
Trotz solcher Vorfälle war die Olympiade in Siegen ein Erfolg
und Alfred Diel schwärmte: "Die 19. Schach-Olympiade in Siegen wird als
Mannschaftsweltmeisterschaft der Superlative in die Annalen der
Schachgeschichte eingehen: Nie zuvor waren so viele Nationen an den Start
gegangen, hatten sich Meister aller Kategorien derart spannende Kämpfe
geliefert, war es dem sieggewohnten sowjetischen Team so schwergefallen, seinen
Titel erfolgreich zu verteidigen, und nie zuvor hatte man eine solche
mustergültige Organisation gesehen!" (Deutsche Schachblätter, 11/1970,
S.249).
Abschlussveranstaltung mit Gustav Heinemann
Mittlerweile sind die Schacholympiaden mindestens doppelt so
groß und auch die Sowjetunion existiert nicht mehr, aber allein die Partie
Spassky – Fischer sichert Siegen einen festen Platz in der Schachgeschichte.
Denn diese Partie bildete den dramatischen Auftakt zum fast genau zwei Jahre
später stattfindenden "Wettkampf des Jahrhunderts" zwischen Spassky und Fischer
in Reykjavik und sie machte die Olympiade in Siegen zu einem Medienereignis.
Dadurch bereitete Siegen 1970 den Boden für den zwei Jahre später einsetzenden
Rummel um Fischer und Spassky, der zusammen mit den großen Erfolgen Robert
Hübners Anfang der siebziger Jahre für einen ungeahnten Schachboom in
Deutschland sorgte.
Quellen und Materialien:
Christian M. Bijl, (Hrsg), Die
gesammelten Partien von Robert J. Fischer,
Schachverlag Ijmuiden 1976.
Deutsche Schachblätter
R.D. Keene, D.N.L. Levy, Siegen Chess Olympiad, Chess Ltd., Sutton
Coldfield 1970.
Viktor Kortschnoi, Mein Leben für das Schach, Edition Olms, Zürich 2004.
www.olimpbase.org.
Präsidium der XIX. Schach-Olympiade, XIX. Schach-Olympiade, Siegen 1970.
Raj Tischbierek, Sternstunden des Schachs. 30x Olympia. London 1927 – Manila
1992, Sportverlag Berlin 1993.
Erinnerungen an Schacholympia:
Ein Interview mit Hans-Joachim Hecht über Siegen 1970 und andere Olympiaden
Hans-Joachim Hecht, Sie haben mehrfach für die
Bundesrepublik an Schacholympiaden teilgenommen. Wie war die Olympiade in
Siegen 1970?
Ich muss zugeben, dass ich an die
Olympiade in Siegen kaum tiefer gehende Erinnerungen habe. Siegen war meine 3.
Olympiade, aber ich erinnere mich viel besser an meine erste Olympiade in Varna
1962, denn ein solches Debüt prägt sich einfach besser ein. Bei der Olympiade
in Tel Aviv 1964 befand ich mich in der Ausbildung und bekam keine Genehmigung
zu spielen und 1966 in Havanna nahm die Bundesrepublik aus politischen Gründen
nicht teil. 1968 in Lugano konnte ich wieder spielen, aber um in das
Olympiateam für Siegen aufgenommen zu werden, musste ich mich erst über die
Deutsche Einzelmeisterschaft in Völklingen qualifizieren. Nachdem ich dort in
der sechsten Runde verloren und nur 3,5 aus 6 hatte, nahm mich der
Turnierleiter Willi Fohl beiseite und sagte zu mir: "Sie wissen doch, worum es
hier geht?" Am Ende gewann ich doch noch, wurde Deutscher Meister und durfte
zur Olympiade. Allerdings fand ich diese Qualifikation über die Deutsche etwas
merkwürdig, denn viele starke Spieler haben damals schon gar nicht mehr an der
Deutschen teilgenommen.
Ich weiß nicht, warum Hübner 1970 in
Siegen nicht gespielt hat. In Lugano 1968 war er bereits dabei und 1969 hatte
er eine Reihe guter Turniererfolge erzielt und sich auch beim Zonenturnier in
Athen für das Interzonenturnier in Palma de Mallorca qualifiziert, das kurz
nach der Olympiade stattfand. In Skopje 1972 war Hübner dann wieder dabei und
erzielte mit 15 Punkten aus 18 Partien am ersten Brett ein hervorragendes
Ergebnis.
Die
Olympiade in Leipzig 1960 habe ich noch als Zuschauer verfolgt. Das war kein
Problem, denn damals war ich noch DDR-Bürger. Ich lebte in Rangsdorf, ging aber
in West-Berlin zur Schule, die einfach besser war. Über Schule und Polizei
bekam ich einen West-Berliner Ausweis und konnte so nach Westdeutschland fahren
(1958 wurde ich westdeutscher Jugendmeister) und auch bei der Schacholympiade
in Leipzig kannten mich die ostdeutschen Schachspieler als West-Berliner bzw.
Deutscher Jugendmeister. Sie luden mich sogar zu einem Turnier in Zittau ein
und boten mir an, ein Visum für mich zu beantragen. Aber mir wurde das
allmählich zu heiß, denn natürlich wurden in der DDR schwarze Listen mit den
Namen missliebiger Grenzgänger geführt.
Endgültig in den Westen bin ich eine
Woche vor Mauerbau gegangen. Natürlich wusste ich nicht, dass die Mauer gebaut
werden sollte, aber in der Zeit vor dem Mauerbau entwickelten die DDR-Behörden
eine beachtliche Aktivität und bestellten u.a. alle Grenzgänger ein. Ich zeigte
mich bei diesem Gespräch sehr kooperativ, erklärte mich mit allen Auflagen
einverstanden, vereinbarte sogar einen Termin für ein weiteres Gespräch und
ging danach sofort in den Westen.
Noch einmal zurück zur Olympiade in Siegen. Warum, glauben
Sie, sind Ihre Erinnerungen an Siegen so wenig ausgeprägt?
Eigentlich war es eine ganz normale
Olympiade. Die Stimmung in der Mannschaft war gut, aber meine Erinnerungen an
Siegen sind vielleicht deshalb so unscharf, weil mein Schach auf dieser
Olympiade spielerisch keine Offenbarung war. Allerdings hat die ganze
Mannschaft bei dieser Olympiade wirklich keine Bäume ausgerissen. Wir wurden
zwar Sechster, aber gegen alle starken Mannschaften haben wir verloren und zwar
immer 1,5:2,5. Immer drei Remis und ein Verlust.
Da habe ich an andere Olympiaden
bessere Erinnerungen, z.B. an Buenos Aires 1978, obwohl die Spielbedingungen da
schrecklich waren. Wir spielten in einem großen Fußballstadion und zu Fuß war
man von dem Quartier der deutschen Mannschaft bis dorthin zwei Stunden
unterwegs, weshalb man immer mit dem Bus fahren musste.
Aber
ich habe die Olympiade in gter Erinnerung, weilu wir uns nach schlechtem Start
noch steigerten. Die Wende kam beim Kampf gegen Wales. Klaus Darga sagte, dass
wir hier die Chance hätten, das Ruder herumzureißen, wenn wir 4:0 gewinnen
würden. Beim Essen sagte er dann, er würde noch einmal hinüber gehen und sich
die Waliser Mannschaft anschauen. Als er zurückkam, erklärte er, die Mannschaft
sehe tatsächlich so aus, als ob sie 4:0 geschlagen werden könnte. Tatsächlich
haben wir 4:0 gewonnen und von da an lief alles wie geschmiert. Wir haben gegen
alle guten Mannschaften gespielt und nur gegen die USA verloren, aber dafür
2,5:1,5 gegen die Sowjetunion gewonnen.
Auch in Siegen wohnten wir weit vom
Spiellokal entfernt, in Freudenberg, außerhalb von Siegen. Das Hotel war gut,
eine gute Unterkunft mit gutem Frühstück und es gab einen Shuttle-Service zum
Spiellokal, aber ich schätze bei den Olympiaden den Kontakt, die Möglichkeit,
sich mit anderen Mannschaften auszutauschen.
Ich erinnere auch noch, dass es in
Siegen eng war, wirklich eng. Im Spiellokal war es so eng, dass man auch als
Spieler wenig von dem mitbekam, was passierte. Die einzelnen Vor- und
Finalgruppen spielten in abgetrennten Bereichen und als Zuschauer hätte ich
dort nur gestört. So habe ich auch von der Partie Spassky gegen Fischer sehr
wenig mitbekommen, denn auch als Spieler konnte man nicht einfach so zuschauen.
Ich gehörte auch nicht zu dem Spielerkreis der Spieler an Brett 1. Wolfgang
Unzicker war da viel näher dran, schließlich hat er gegen beide, Spassky und
Fischer, gespielt. Unzicker hat am ersten Brett nie gekniffen, und ist gegen
alle starken Spieler angetreten. Er war sehr ehrgeizig und hat sich stets gut
vorbereitet.
In Siegen spielte sowohl eine
westdeutsche als auch eine ostdeutsche Mannschaft. Wie war das Verhältnis der
beiden deutschen Mannschaften zueinander?
Bestens. Zwar gab es von seiten der
DDR-Politik die Richtlinie, den Kontakt zu den Westdeutschen zu meiden, aber in
der Praxis wurde das unterlaufen. Auch beim Zonenturnier in Raach 1969, wo
Wolfgang Uhlmann und Lutz Espig für die DDR spielten, war das Verhältnis gut
und herzlich. Hans Platz war als Trainer dabei und er war kein
Polit-Apparatschik, sondern selber Schachspieler. Er sagte mir aber, dass wir
keinesfalls über den Kontakt zu den DDR-Spielern schreiben dürften, das musste
unter uns bleiben.
Die DDR-Spieler hatten zwar die
offizielle Auflage, den Klassenfeind zu schlagen, aber wie gut das Verhältnis
war, sah man z.B. bei der Olympiade 1962 in Varna. Die beiden deutschen
Mannschaften spielten in der gleichen Vorgruppe und trafen drei Runden vor
Schluss aufeinander. Und bereits da zeigte sich, dass bei einem 2:2 beide
Mannschaften sicher für die Endrunde qualifiziert wären. Also einigten wir uns
auf 2:2 und alle vier Partien wurden Remis. In der Endrunde kam es dann zum
eigentlichen Kampf, aber auch der verlief ohne Vorbehalte. Warum auch nicht?
Schließlich kannten sich viele der Spieler gut, Reinhart Fuchs und Klaus Darga
waren z.B. sogar miteinander befreundet.
Wie war denn das Medienecho auf
die Olympiade?
Da die Olympiade in Deutschland
stattfand, war die Aufmerksamkeit der Medien besonders hoch. Was allerdings
nicht immer schön war. So titelte die Bildzeitung nach dem Kampf gegen
Jugoslawien, in dem Lothar Schmid in besserer Stellung ein Remisangebot von
Ivkov abgelehnt hatte, um am Ende doch noch zu verlieren: "Hochmut kommt vor
dem Fall." Schmid war schwer getroffen, denn natürlich hatte er Recht, in
besserer Stellung weiterzuspielen. Er hat dann wohl versucht, etwas dagegen zu
unternehmen, vermutlich ohne Erfolg.
Und wie groß war die Wirkung der
Schacholympiade auf das deutsche Schach?
Das lässt sich schwer sagen, denn
1972 gab es schließlich den Wettkampf Spassky – Fischer und außerdem begann
Robert Hübner seinen Aufstieg in die Weltspitze. Das hat die Leute beeindruckt
und in Deutschland ein großes Medienecho hervorgerufen, das dem deutschen
Schach gut getan hat.