Sipke Ernst "Practical positional repertoire after 1 d4" Vol. 1-3: Eine Rezension

von Christian Hoethe
24.05.2024 – Wer erfolgreich Schach spielen möchte, braucht ein Repertoire, aber sich ein Repertoire eigenständig zu erarbeiten, kann mühsam sein. Hier helfen Empfehlungen von Großmeistern. So hat der holländische GM und FIDE-Trainer Sipke Ernst jetzt in einem neuen ChessBase-Kurs ein Repertoire für alle entwickelt, die 1.d4 spielen oder spielen wollen. Christian Höthe hat sich den Kurs angeschaut und kam zu dem Schluss, dass Weiß den Gegner mit diesem Repertoire leicht "ins Schwitzen bringen kann".

A practical repertoire for the positional player after 1.d4 Vol.1 – 3 A practical repertoire for the positional player after 1.d4 Vol.1 – 3

Ich zeige vielversprechende Hauptvarianten für Weiß gegen alle Hauptantworten von Schwarz auf 1.d4 d5, die enginegeprüft und leicht zu lernen sind und sofort gespielt werden können.

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Rezension: Sipke Ernst "Practical positional repertoire after 1 d4" Vol. 1-3

Eine sehr interessante ChessBase-Neuerscheinung stellt die Trilogie "A practical repertoire for the positional player after 1. d4" des holländischen Grossmeisters Sipke Ernst dar!

Ernst, ehemaliges Mitglied des niederländischen Nationalteams und FIDE-Trainer, gliedert die Materialfülle seines Repertoires dabei wie folgt:

Band 1 beschäftigt sich mit allen Haupt- und Nebenvarianten nach 1.d4 d5: Kernstück ist hierbei natürlich das orthodoxe Damengambit, gegen das Ernst nach 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 die Abtauschvariante mit 4.cxd5 empfiehlt. Dies stellt meiner Meinung durchaus eine gute praktische Entscheidung dar, werden so doch diverse eröffnungstheoretisch kritische Abspiele wie die Wiener- oder die Ragozin-Variante umgangen. Ernst befasst sich intensiv sowohl mit der verbesserten Tarrasch-Verteidigung, die sich nach 4....Sxd5 ergibt als auch natürlich mit der Hauptfortsetzung 4....exd5.

Gegen das angenommene Damengambit empfiehlt Ernst das moderne 1.d4 d5 2.c4 dxc4 3.Sf3 Sf6 4.e3 e6 5.Lxc4 a6, 6.O-O c5 7.Te1!?, das den praktischen Vorteil hat, auf Klubniveau relativ selten anzutreffen zu sein. Halbslawisch nach 1.d4 d5 2.c4 c6 3.Sf3 Sf6 4.Sc3 e6 5.e3 Sbd7 wird positionell mit 6.Dc2 Ld6 7.b3 - statt beispielsweise 7.g4!? - beantwortet. 

Ein wenig überraschend empfand ich seine Empfehlung, die typische Triangel-Zugfolge 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c6 mit dem scharfen Marshall Gambit 4.e4!? anzugehen. Weiss opfert in der Folge 4....dxe4 5.Sxe4 Lb4+ 6.Ld2 Dxd4 7.Lxb4 Dxe4+ 8.Le2 einen Bauern für Entwicklungsvorsprung und das Läuferpaar, Schwarz steht jedoch solide und kann sich die weisse Kompensation beweisen lassen.

Für Schwarzspieler, die sich dank der Veröffentlichungen von Sherbakow, Krasenkow und Semkov auf dieses Abspiel spezialisiert haben, ist 4.e4 natürlich die kritische Fortsetzung. Sie werden sie daher regelmäßig antreffen und detailliert vorbereitet haben. Meiner Meinung nach stellt dies einen kleinen, aber nicht zu unterschätzenden Vorteil dar, denn sie werden mit den Feinheiten gut vertraut sein. Für den Anziehenden stellt sich das entsprechend anders dar, weil er den Triangel-Slawen im Gegensatz zum Nimzo- oder Königsinder viel seltener aufs Brett bekommt.

In Übereinstimmung mit den Empfehlungen von GM Ernst zu Halbslawisch hätte ich daher 4.e3 als in sich schlüssiger empfunden. Aber ab und zu ist es hilfreich, etwas mehr "Fire on board"haben zu können, wenn man es denn möchte. Als mögliche Alternative für das Gambit kommt nach 5. ...Lb4+ auch 6.Sc3 in Frage, wie in der bekannten Partie Carlsen-Anand, Chennai 2013, die Carlsen gewann.

Eine für Weiß schwer zu knackende Nuss ist ebenfalls die Dubov-Variante der Tarrasch-Verteidigung, weshalb viele Empfehlungen auf 6.dxc5!? - wie bei den GM Pert und Kornev - abzielen. GM Ernst jedoch lässt den Dubov-Tarrasch zu und setzt auf eine seltenere Variante, die erneut einen Bauern für scharfe Kompensation ins Geschäft steckt und Schwarz - aber auch Weiss! - gutes Stellungsgefühl und hohe Präzision abverlangt. Hier werden die schwarzen Versuche, frühzeitig die Initiative an sich zu reißen, durch Weiß scharf gekontert! Sehr interessant!

Band 2 befasst sich dann mit den Varianten nach 1.d4 Sf6, ein sehr großer Komplex also!

Königsindisch wird stark mit Makagonov's 5.h3 nebst 6.Le3 gekontert. Danach hätte ich analoges h3 auch gegen das moderne Benoni erwartet, aber gegen Benoni empfiehlt GM Ernst die ungarische Variante mit 7.Sge2 nebst 8.Sg3 - sicherlich eine gute, absolut praktische und interessante Wahl! Selbiges gilt sowohl für seine Empfehlung 4.e3 gegen den wunderbaren Nimzo-Inder als auch für das kritische Abspiel mit 12.a4! im Wolga-Gambit. Spätestens an dieser Stelle sollte klar sein, dass der Kampf um Eröffnungsvorteil durchaus mit theoretischem Wissen einhergeht und Weiß nicht per se mit natürlichen Zügen "einfach" besser steht.  

Das theorielastige Grünfeld-Indisch mit dem Abtausch auf d5 nebst Da4+ zu kontern, empfahl bereits IM John Watson in seinem Repertoire und dieses seltene Abspiel hat es tatsächlich in sich. Wenn sich die Nachziehenden nicht auskennen, kommt Schwarz kaum zu den grünfeld-typischen aktiven Aufbauten und kann sich innerhalb kürzester Zeit in einer verkrampften Stellung wiederfinden. Nicht gerade das, was Grünfeld-Spieler erhoffen und somit ganz bestimmt eine gute praktische Wahl von GM Ernst!

In dritten Band finden sich dann die etwas exotischeren Abspiele, wie beispielsweise die englische Verteidigung, Holländisch, 1. ...g6, 1. ...c5 und 1. ...d6, der Black Knights Tango, und ganz seltene Kandidaten wie 1. ...a6, 1. ...Sc6 u.ä.

Insbesondere in der englischen Verteidigung hat sich seit den Neuerscheinungen von IM Semkov und GM Gonzales, beide aus 2023, einiges getan. Das gilt besonders für die Variante nach 1.d4 e6 2.c4 b6 3.e4 Lb4+! 4.Ld2 Lxd2+ 5. Dxd2 d5, die dem Anziehenden zuletzt vor große Probleme beim Kampf um Eröffnungsvorteil stellte. Hier empfiehlt GM Ernst ein überaus seltenes Abspiel, das laut meiner Datenbank bisher nur 5mal versucht wurde und Anhänger der englischen Verteidigung daher sicherlich überraschen wird.

Auch der beschleunigte Bogo-Inder nach 1.d4 e6 2.c4 Lb4+, der auf den großen Paul Keres zurück geht, wird hier selbstverständlich behandelt.

Paul Keres

An dieser Stelle bleibt Ernst seinem Gusto treu und erwähnt nach 3.Ld2 a5 4.Sc3 Sf6 die Möglichkeit, mit 5.e3 in einen guten Ld2-Nimzo-Inder überzugehen. Seine Hauptempfehlung sieht jedoch das unternehmungslustige 5.e4!? vor, ein ebenso rares wie scharfes Abspiel, das viele Verfechter des beschleunigten Bogo-Inders womöglich auf dem falschen Fuss erwischen wird!

Nicht unerwähnt lassen möchte ich an dieser Stelle noch, dass einige  Empfehlungen von Ernst statistisch nicht die beste Quote bringen, aber das Gütesiegel der Engines haben und somit die besten Fortsetzungen darstellen - lassen Sie sich also bitte nicht von den Statistiken in die Irre führen!

Auf insgesamt 17 Stunden Spielzeit stattet Sie Großmeister Ernst mit einem gut fundierten 1. d4-Repertoire aus, das Ihre Gegner zum Schwitzen bringen wird.

Mein Tipp: Kombinieren Sie doch ruhig einmal das "Positional 1 d4-Repertoire" von GM Ernst mit dem "Attacking 1 d4 Repertoire" von GM Pert!

Nicholas Pert, "An Attacking Repertoire with 1.d4!" im Shop kaufen...

Sipke Ernst, "A practical repertoire for the positional player after 1.d4" im Shop kaufen...


Christian Hoethe ist Jahrgang 1975, Vater zweier Töchter und eines Sohnes, wohnt in Braunschweig und erlernte die Gangart der Figuren relativ spät mit 13 von seinem Vater. Ein Jahr später spielte in der Schach-AG seines damaligen Erdkundelehrers, mit dem er auch heute noch ab und zu eine Partie spielt. Mit 15 landete er Dank seines Mathe-Nachhilfelehrers (!) endlich in einem Verein. Er brachte es zu seinen besten Zeiten auf eine Elo-Zahl von 2247 und spielt für den SC Wolfsburg.
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