Smyslows 100ster Geburtstag

von Dagobert Kohlmeyer
24.03.2021 – Wassily Smyslov wurde 1957 nach seinem Wettkampfsieg über Michail Botvinnik der 7. Schachweltmeister, verlor aber den Revanchekampf. Symslow hatte ein tiefes Schachverständnis und gehörte noch viele Jahre zur absoluten Weltspitze. Noch 1984 bestritt er einen Kandidatenkampf gegen Kasparov. Heute jährt sich Smyslovs Geburtstag zum 100sten Mal. | Bild: Smyslow mit seiner Katze Belka, Fotos: Dagobert Kohlmeyer

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Ein Grandseigneur der Harmonie - Zum 100. Geburtstag von Wassili Smyslow

Eine Schachlegende wäre heute 100 Jahre alt geworden, und als Chronist erinnert man die Leser gern an diese große Persönlichkeit und ihr Vermächtnis. Wassili Smyslow war der siebente Weltmeister der Geschichte. Er regierte zwar, wie später auch Michail Tal, nur ein Jahr (1957-1958) auf dem Thron, doch bleiben sein Wirken und Vermächtnis unvergessen. Smyslow hält den Rekord für die meisten gewonnenen Medaillen bei Schacholympiaden (17) und war zweimal sowjetischer Landesmeister (1949 und 1955). Er spielte über vier Jahrzehnte lang auf höchstem Niveau und kämpfte 1948 sowie in den 1950er, 1960er und dann wieder in den 1980er Jahren im Kandidatenturnier um die Weltmeisterschaft.

Wassili Smyslow wurde am 24. März 1921 in Moskau geboren. Schach erlernte er mit sechs Jahren von seinem Vater und zeigte frühzeitig sein großes Talent für das Spiel. Als 14-Jähriger spielte Wassili sein erstes Turnier, mit 17 Jahren wurde er Juniorenmeister der UdSSR und Stadtmeister von Moskau. Smyslow war ein sehr guter Schüler, legte das Abitur mit Auszeichnung ab und widmete sich danach verstärkt seiner Schachkarriere. Es gibt eine frühe Partie von ihm, in der seine große Begabung deutlich sichtbar wird.

 

Schnell reifte Smyslow zu einem Weltklassespieler heran. Er gehörte zu den fünf Großmeistern, die 1948 in Den Haag und Moskau um den nach Alexander Aljechins Tod vakanten WM-Titel spielten. Michail Botwinnik gewann das lange und schwere Match-Turnier, und der zweitplatzierte Smyslow nahm einen neuen Anlauf zum Weg auf den Schacholymp. 1953 siegte er überlegen im historischen Kandidatenturnier von Zürich, das David Bronstein in einem großartigen Buch verewigt hat. Dadurch erhielt Smyslow das Recht, Michail Botwinnik herauszufordern. Der Wettkampf 1954 in Moskau endete 12:12, so dass Botwinnik den Titel laut Reglement behielt.

Wassili Smyslow gewann 1956 das Kandidatenturnier von Amsterdam und wurde erneut WM-Herausforderer. Er hatte die Lehren aus dem ersten Match gezogen und sagte: „Die Erfahrung des ersten Zweikampfes war von Nutzen, ich stellte mir deutlich die Schwere des bevorstehenden Kräftemessens vor. Das Schicksal bot mir die seltene Gelegenheit, zum zweiten Mal um den WM-Titel zu kämpfen.“ Smyslow war diesmal besser vorbereitet und gewann gleich die erste Partie, was er als gutes Omen ansah. Der Kampf wogte eine Weile hin und her, doch nach dem Sieg im achten Spiel gab Smyslow, wie er später schrieb, das Ruder nicht mehr aus der Hand.

WM-Match Moskau 1957, Foto: Wikipedia


 

 


Die Welt hatte also 1957 einen neuen Schachkönig, der 36 Jahre alt war und einen eleganten, harmonischen Spielstil pflegte. Smyslow mochte den planmäßigen Übergang ins Endspiel sehr, was seine größte Stärke war. Er hatte die Partien seiner Vorgänger Lasker, Capablanca und Aljechin gründlich studiert, die alle große Endspielkünstler waren. „Nirgendwo tritt logisches Denken so deutlich zutage wie im Schluss-Stadium der Partie. Die großen Schachspieler der Vergangenheit haben Endspielen nicht umsonst so viel Aufmerksamkeit geschenkt.“, betonte Smyslow immer wieder. Er verfasste selbst zwei großartige Bücher darüber: „Die Kunst des Endspiels“ und „Geheimnisse des Turmendspiels“. Ich hatte die Freude, beide Werke aus dem Russischen ins Deutsche zu übersetzen und erfuhr dabei aus erster Hand, was für ein großer Figurenkünstler dort seine tiefen Kenntnisse mit der Schachwelt teilte. Bei unserer ersten Begegnung vor mehr als vierzig Jahren ahnte ich natürlich noch nicht, dass mir diese Ehre einmal zuteilwerden würde…

Ich lernte Wassili Smyslow im Herbst 1979 kennen. Damals fand im Casino des Berliner Stadions der Weltjugend, das heute nicht mehr existiert, ein internationales Großmeisterturnier statt. Mit 58 Jahren war der Exweltmeister der Senior unter den Teilnehmern. Viele Runden lang führte der Ungar Istvan Csom, doch am Ende fing Smyslow ihn noch ab und gewann den Wettbewerb nach Feinwertung. Schon bei dieser ersten Begegnung fiel mir das vornehme, freundliche Auftreten des legendären Großmeisters auf, dessen Brett immer umringt war und der nach der Partie gern Auskunft über seine feinen Züge gab.

Der Autor mit dem Ehepaar Smyslow

Wassili Smyslow war für seinen positionellen Spielstil und seine großen technischen Fähigkeiten im Endspiel bekannt. Dabei war er kein einseitiger Spieler und brachte in etlichen Partien auch spektakuläre taktische Kombinationen aufs Brett. Vlastimil Hort sagte mir einmal: „Bei ihm roch es immer nach Matt!“. Die Mixtur aus positionellem Verständnis und taktischem Geschick machte die Klasse dieses Mannes aus. Immer bemühte er sich um einen klugen Partieaufbau und das harmonische Zusammenspiel der Figuren. Nicht umsonst heißt sein bekanntestes Buch „Auf der Suche nach Harmonie“. Es erreichte in der Sowjetunion Rekordauflagen.

Auch wenn Smyslow den WM-Rückkampf gegen Botwinnik 1958 verlor, ging sein Karriere noch lange und erfolgreich weiter. Er spielte in acht Kandidatenturnieren mit, was eine unglaubliche Leistung darstellt. Neben Lasker und Kortschnoi ist Smyslow das dritte markante Beispiel für die Langlebigkeit in unserem Sport auf ganz hohem Niveau. Ich befragte Viktor Kortschnoi, der einen Tag vor Smyslow Geburtstag hat, als er 75 wurde, zu diesem Thema. Seine lakonische Antwort: „Smyslow ist ein Beweis dafür, dass ich noch zehn Jahre Schach spielen kann.“ Und Kortschnoi (Jahrgang 1931) tat es bis zu seinem Tod 2016!

Smyslow schaffte es 1984 noch einmal bis ins Kandidatenfinale, wo er erst dem künftigen Weltmeister Garri Kasparow unterlag.

Foto: Smyslow-Kasparow Vilnius 1984

Auf dem Weg dorthin schaltete der 63-jährige Smyslow im Halbfinale den starken Ungarn Zoltan Ribli aus.

 

Candidates sf Smyslov-Ribli +3–1=7 London (5), 01.12.1983

Im Laufe der Jahre habe ich Wassili Smyslow bei vielen Turnieren getroffen: meist in Moskau sowie bei den Events Ladies gegen Veteranen oder bei Weltmeisterschaften und Schacholympiaden. Stets war der 7. Weltmeister ein interessanter Gesprächspartner. „Ich denke immer nur einen Zug voraus“, pflegte er lächelnd zu sagen. ‚Der Zug muss aber sehr gut sein‘, dachte ich dann, ohne es laut auszusprechen. Als ich Wassili Smyslow im Februar 1996 zu Hause in Moskau besuchte, erwies sich sein Frau Nadeschda als reizende Gastgeberin. Ich bin froh darüber, dass wir uns immer gut verstanden haben und zwei Buchprojekte realisieren konnten.

Wassili Smyslow in seinem Arbeitszimmer

Mit Ehefrau Nadjeshda

Auch als Studienkomponist hat sich Smyslow einen Namen gemacht und die besten Aufgaben in einem kleinen Buch veröffentlicht. Er sagte dazu: „Das Interesse an der Analyse von Endspielen bringt auch die Hinwendung zu Studien und Kompositionen mit sich. Seit meinen ersten Schritten in der Welt des Schachs löste ich gern Aufgaben. Ich bevorzugte dabei Stellungen, die dem praktischen Spiel nahe waren. Schachstudien begeistern durch klare und überraschende Ideen. In verschiedenen Zeiträumen versuchte ich mich selbst als Komponist. Etliche Aufgaben sind von der Praxis beeinflusst. Ich bin der Ansicht, dass die Beschäftigung mit Studien die analytischen Fähigkeiten schult, das heißt, die Stärke des Schachspielers hebt und ihn nicht vom praktischen Spiel ablenkt.“

 

1.Sd6+ Kb8  2.Tb1+ Ka8  3.Se8 Dg3+  4.Ka4 Ld4  5.e5! Lxe5 (5.Dxe5 6.h8D) 6.Sc7+, und Weiß gewinnt.  „Dem Autor gelang es, in leichter Aufgabenform eine typische Studienidee zum Ausdruck zu bringen“, schrieb die Moskauer Schachzeitschrift damals.

Die folgende Studie verfasste Smyslow am Rande der 27. Schacholympiade, wo er als Ehrengast weilte. Es ist wohl seine bekannteste Aufgabe.

 

Dubai 1986

1.g6! hxg6  2.h7 Lf6  3.Lb8!! Verhindert die lange Rochade. Nach 3.Kxf6 0-0-0 ist das Spiel remis. 3...Txb8 4.Kxf6 Kd8 5.h8D+ Kc7 6.Dh2+, und Weiß gewinnt.

Interessant ist die Echo-Variante 1.g6! Lb6 2.Lb8!! Txb8 3.g7. Spielt Schwarz im ersten Zug 1…Lb6, dann folgt 2.Lb8!! Txb8 3.g7. 1-0

Neben dem Schach gab es noch eine zweite Leidenschaft in Smyslows Leben: die Musik. Der Großmeister mit dem lyrischen Bariton hätte durchaus auf jeder Opernbühne bestehen können. Er nahm in seiner Heimat und in den Niederlanden zahlreiche Schallplatten und CDs auf und gab bis zum 80. Lebensjahr Konzerte. Wer Smyslow bei Auftritten am Rande von Schachevents erlebt hat, vergisst diese schöne, kultivierte Stimme nicht. War sein Landsmann Mark Taimanow dabei, so begleitete er ihn auf dem Flügel.

Smyslow und Taimanow

1991 wurde Wassili Smyslow auch noch Seniorenweltmeister. Sein letztes Turnier spielte er im Jahre 2000 im Alter von 79 Jahren. Auch in der Schachtheorie hinterließ Smyslow ein großes Erbe. So bereicherte er die Spanische Partie, die Englische Partie sowie die Sizilianische und Grünfeld-Indische Verteidigung mit seinen Ideen. In den letzten Jahren lebte Smyslow, der sehr religiös war, mit seiner Frau Nadjeshda ganz zurückgezogen. Die Kräfte ließen nach, seine Augen wurden immer schlechter. Das Ehepaar verbrachte die meiste Zeit auf seiner Datsche im Moskauer Umland, wo nur eine zugelaufene Katze Abwechslung ins Leben brachte. Sie machte dem Ehepaar viel Freude und wurde auf den Namen „Belka“ getauft, weil sie ein weiß-rötlich schimmerndes Fell hatte. Das Tier war nach Meinung Smyslows „hochintelligent und hatte ein feines Gespür für die Ereignisse auf dem Brett.“

Wassili Smyslow starb am 27. März 2010 in einem Moskauer Krankenhaus. Die Nachricht erfuhr ich am Telefon von Boris Spasski. Er sagte: „Ich muss dir etwas Betrübliches mitteilen: Heute Nacht ist Wassili Wassiljewitsch gestorben. Lass und ein Glas Wodka zum Gedenken an ihn trinken. Er war eines der Schachgenies des 20. Jahrhunderts. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es vier Titanen, die das Schach in der Sowjetunion prägten: Botwinnik, Smyslow, Keres und Bronstein. Wir sollten ihr Andenken für immer bewahren.“

Diesen Worten ist nichts hinzuzufügen.     

 

 


Dagobert Kohlmeyer gehört zu den bekanntesten deutschen Schachreportern. Über 35 Jahre berichtet der Berliner bereits in Wort und Bild von Schacholympiaden, Weltmeisterschaften und hochkarätigen Turnieren.

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