Master Class Band 2: Mihail Tal
Dorian Rogozenco, Mihail Marin, Oliver Reeh und Karsten Müller stellen den 8. Schachweltmeister und seine Eröffnungen, sein Verständnis der Schachstrategie, seine Endspielkunst und nicht zuletzt seine unsterblichen Kombinationen in Videolektionen vor.
Mikhail Tal (9. November 1936 bis 28. Juni 1992), Schachweltmeister von 1960 bis 1961, war drei Mal verheiratet. Den ersten Bund fürs Leben schloss er im Dezember 1959, da war er gerade einmal 23 Jahre alt, ein halbes Jahr später, im Mai 1960 sollte er mit einem Sieg gegen Mikhail Botvinnik der achte Weltmeister der Schachgeschichte werden. Doch Tals Ehefrau Sally Landau, eine 20-jährige Schauspielerin und Sängerin, war sogar noch jünger als der zukünftige Weltmeister. Die beiden durchlebten eine stürmische Ehe, hatten einen gemeinsamen Sohn, Gera Tal, und ließen sich 1970 wieder scheiden.
1998 veröffentlichte Landau eine russische Version ihrer Erinnerungen an Mikhail Tal, die jetzt unter dem Titel Checkmate! The Love Story of Mikhail Tal und Sally Landau auch auf Englisch erschienen sind. Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt, in zweien davon erinnert sich Sally Landau an Tal, in einem spricht Gera Tal über seinen Vater.
Allerdings bleibt die Frage offen, ob man in dem Buch wirklich Neues über Tal erfährt und ob man das, was man erfährt, auch wissen will. Denn vor allem Landaus Erinnerungen lesen sich wie der Entwurf zu einer kitschigen Soap Opera voller Liebes- und Eifersuchtsdramen.
So schildert Sally Landau einmal, wie Tals Mutter ihr von anderen Frauen im Leben Tals berichtet:
"Ida erzählte mir, dass Misha eine neue Bewunderin gefunden hätte, eine Frau von bemerkenswerter Schönheit, die verrückt vor Liebe zum Schach sei, und die Leidenschaft für Misha empfinden würde. ... Ich werde hier nichts über diese Dame sagen – weder Gutes noch Schlechtes. Ich weiß nicht, was sie jetzt im Leben macht, aber damals ... hasste ich L." (S.131-132)
Trotz dieser vorgeblichen Diskretion ging Landau wahrscheinlich davon aus, dass die meisten Leser und Leserinnen ihres Buches wussten, wer sich hinter dem Buchstaben L. verbirgt, da Tals Geliebte mehr als einmal für Schlagzeilen gesorgt hatte. Das Kürzel L. steht für die Schauspielerin und KGB-Agentin Larisa Ivanova Kronberg, die 1955 beim Filmfestival in Cannes den Preis für die "Beste Schauspielerin" gewann und 1958 bei einem realen Spionagedrama eine tragende Rolle spielte, als sie im Auftrag des KGB eine Affäre mit Maurice Dejean, dem ehemaligen französischen Botschafter in Moskau, begonnen hatte, um Dejean erpressbar zu machen.
Kronbergs Affäre mit Tal begann später, vermutlich irgendwann im Jahre 1960 und dauerte bis Ende der 60er Jahre. Es war nicht Tals einzige Affäre in der Zeit seiner Ehe mit Sally Landau, die es mit der ehelichen Treue, wie sie verrät, allerdings auch nicht immer genau nahm.
So unterhielt sie lange Zeit eine Beziehung zu einem – ebenfalls ungenannt bleibenden – hochrangigen und krankhaft eifersüchtigen Minister. Sally Landau zufolge wussten alle Beteiligten von den Affären des anderen. Allerdings auch die staatliche Führung, der diese aus Parteisicht moralisch nicht einwandfreie Situation ein Dorn im Auge war.
So erzählt Landau, dass Tal eines Tages zum Zentralkomitee der Partei gerufen und aufgefordert wurde, entweder seine Geliebte Larisa Kronberg zu heiraten oder sich für seine Ehefrau zu entscheiden und sich von seiner Geliebten zu trennen. Als er meinte, diese Angelegenheit sei seine Privatsache, durfte er zur Strafe nicht mehr ins Ausland zu Turnieren reisen, auch nicht zum Interzonenturnier in Amsterdam, das bald beginnen würde.
Mikhail Tal
Um die Situation zu retten, hielten Tals Mutter (!) Ida und Sally Landau Kriegsrat und verfielen auf eine abenteuerliche Lösung: Sally Landau bat nicht nur ihren Geliebten, den Minister, um Hilfe, damit ihr Ehemann doch noch zum Interzonenturnier reisen konnte, sondern beantragte auch öffentlichkeitswirksam die Scheidung von Tal – allerdings ohne die Absicht, sich wirklich scheiden zu lassen. Dieses taktische Manöver hatte Erfolg: Tal durfte zum Interzonenturnier nach Amsterdam reisen, die Ehe hielt noch weitere sechs Jahre lang. Stürmische Jahre, wenn man Landau glauben darf.
So schreibt sie:
"Bald brachte Misha eine zweite L. in die Wohnung. Und so begann eine vollkommen seltsame Zeit, die für alle Außenstehenden unverständlich war. Gera [der Sohn von Mikhail Tal und Sally Landau] lebten in einem Zimmer, Misha und L. Nummer zwei im Wohnzimmer, plus Ida [die Mutter von Tal], plus Robert [offiziell der Onkel, aber laut Landau in Wirklichkeit der biologische Vater von Tal], plus Yasha [der offizielle Vater von Tal], alle in der gleichen Wohnung. ... Ich weiß nicht, ob ich in dieser schwierigen Situation geistig stabil gewesen wäre – wahrscheinlich nicht – hätte ich nicht meinen psychologischen Blitzableiter gehabt – den Minister. In dieser Zeit war er meine Säule der Kraft." (S. 153)
Und so geht es weiter, das ganze Buch hindurch: Legenden der Leidenschaft und Stürme der Liebe jagen einander, von Landau atemlos und hochemotional erzählt, immer wieder unterbrochen von Beteuerungen, wie sehr sie Tal geliebt hat.
Sehr viel sachlicher und überzeugender wirkt da der Teil des Buches, in dem Gera Tal schildert, wie er den berühmten Schachspieler Tal als Vater erlebt hat: bei allen Schwächen und Defiziten in der traditionellen Vaterrolle doch als freundlich, liebenswert, witzig und zugewandt.
Sally Landau emigrierte später nach Belgien und lebte in Antwerpen, wo sie noch einmal heiratete. Wie der Zufall es wollte, war ihr neuer Ehemann ein begeisterter Schachspieler und vor allem ein großer Tal-Fan. Und da Sally Landau nach wie vor eng mit Tal verbunden war, arrangierte sie bei Gelegenheit ein Treffen ihrer beiden Ehemänner, wo auch Schach gespielt wurde. Tal gewann.
Auch Tal heiratete wieder. Die zweite Ehe währte nur sehr kurz, aber die dritte, mit Angelina Petukhov, überdauerte alle Stürme der Zeit und hielt 22 Jahre, bis zu Tals Tod. Die beiden hatten eine Tochter, Zhanna, die Musikerin wurde. Auf die Biographie von Sally Landau angesprochen, sagte sie in einem Interview einmal, sie hätte es nie über sich gebracht, sie zu lesen, aber "ich habe ein paar Zeitungsartikel darüber gelesen. Ich besitze das Buch, aber bringe es nicht über mich, es zu lesen. Memoiren sind subjektiv. Manche Menschen verfügen über eine lebhafte Phantasie, die sich in Memoiren ausdrückt. Dafür kann man sie nicht verurteilen."
Sally Landau, Checkmate!, 223 Seiten, Elk and Ruby 2019