19.10.2020 – In dieser Kolumne wirft Jon Speelman einen Blick auf das Qualitätsopfer. Der englische Großmeister, der für sein originelles Spiel und seine ungewöhnlichen Ideen bekannt ist, schaut sich eine Reihe von Partien an, um zu untersuchen, wann Qualitätsopfer Erfolg versprechen. | Foto: Mikhail Tal und Tigran Petrosian bei der Mannschaftseuropameisterschaft 1961 in Oberhausen | Foto: Gerhard Hund
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Qualitätsopfer
Während des Altibox Norway Chess Turniers 2020, das am Wochenende mit einem Sieg von Magnus Carlsen zu Ende ging, habe ich ein paar Mal auf meinem Twitch-Kanal (twitch.tv/jonspeelman) selber kommentiert, aber meistens habe ich dann doch den offiziellen Kommentar mit Vladimir Kramnik und Judit Polgar verfolgt.
Beide sind sehr interessante Spieler, und Kramniks Schachauffassung gefällt mir besonders gut. In seinen besten Zeiten war er ein phantastischer Positionsspieler mit ausgefeilter Endspieltechnik, aber begonnen hat er sehr viel taktischer. Instinktiv opfert er deshalb gerne Material (vor allem die Qualität), um die Initiative an sich zu reißen. Eine Einstellung, die nach den Zeiten, in denen traditionelle Engines das Sagen hatten, durch AlphaZero wieder zu neuen Ehren gekommen ist.
So kam mir der Gedanke, in dieser Kolumne einen Blick auf ein paar hübsche Qualitätsopfer zu werfen, aber bleiben wir vorher doch noch ein bisschen in Norwegen, und schauen uns ein hübsches Opfer an, das mich allerding ein wenig enttäuscht zurückgelassen hat.
In dieser Stellung führte Carlsen die von ihm wunderbar gespielte Positionspartie zu einem krönenden Abschluss. Er zog
42.Te8!
und nach
42...Dxe8 43.Dh6+ Kg8 44.Qxg6+ Kh8 45.Sf6
gab Tari auf.
Hätte ich diese Partie gespielt und 42.Te8 gesehen, dann hätte ich diesen Zug natürlich auch gemacht, aber aus ästhetischen Gründen hatte ich gehofft, dass Carlsen seine Lehrstunde und sein Meisterstück mit einem hübschen Zugzwangmotiv zu Ende führen würde.
Schwarz kann auch 43...Th7 versuchen, und dann ist nach Ansicht der Engines nach 44.Txf8+ Kg7 der Trick mit Te8 tatsächlich das Beste:
45.Dxh7+! (45.Tf6 ist viel komplizierter.) 45...Kxh7 46.Te8!
Die schwarze Dame ist gefangen.
Auf der Suche nach den Beispielen für heute, habe ich mich auf mein Gedächtnis und die ChessBase Suchmaske verlassen. Zum Beispiel, als ich eine Partie von Botvinnik (Bild) finden wollte. Ich wusste, dass er die Partie mit Schwarz gewonnen hat und habe die Suchmaske entsprechend eingestellt. Dann habe ich in der Stellungssuche den schwarzen Turm nach d4 gestellt und schwarze Bauern auf e5 und c5. Damit habe ich die Partie auf Anhieb gefunden — Treffer, versenkt! In meinem Stream vom Donnerstag habe ich mein Publikum dann um Beispiele gebeten, und einer meiner treuen Anhänger hat mich auf die Partie Reshevsky gegen Petrosian, Zürich 1953, verwiesen. Ich kannte die Partie natürlich schon, aber mir war nicht gleich eingefallen, gegen wen Petrosian dieses berühmte Qualitätsopfer gebracht hat. Außerdem hat er mich auf das schöne doppelte Qualitätsopfer von Erwin l'Ami im B-Turnier von Wijk aan Zee aufmerksam gemacht.
Bevor wir uns die Partien anschauen, die in chronologischer Reihenfolge angeordnet sind, lohnt es sich vielleicht darüber nachzudenken, wann ein Qualitätsopfer Erfolg verspricht. Natürlich wurden über dieses Thema schon ganze Bücher geschrieben, und deshalb möchte ich das hier nicht in aller Länge und Breite disktutieren. Aber trotzdem ein paar Punkte:
Ein Turm ist tatsächlich stärker als eine Leichtfigur, aber Türme brauchen offene Linien, um ihre Kraft entfalten zu können.
In der Regel hat man gerne noch einen Bauern für die Qualität, aber eine starke Figur auf einem guten Feld — ein Springer auf einem starken Vorposten, eine hübsche Diagonale für einen Läufer oder ein starker Freibauer — können ausreichen.
Generell müssen sich (fast) immer noch weitere Figuren auf dem Brett befinden, wenn ein Qualitätsopfer funktionieren soll. Eine Leichtfigur alleine kann nicht besonders gut angreifen, aber in Zusammenarbeit mit Dame oder Turm (oder manchmal auch anderen Leichtfiguren), können Leichtfiguren sehr stark sein. Und das Läuferpaar ist oft mindestens genauso gut wie Turm und Springer.
Die Notwendigkeit, noch weitere Figuren auf dem Brett zu haben, gilt vor allem im Endspiel. So sollte die Diagrammstellung für Schwarz verloren sein:
Der Weg zum Gewinn ist alles andere als trivial, aber der weiße König sollte in die schwarze Stellung eindringen können, und dann kann Weiß seine Bauern ins Rennen schicken. Zum Beispiel könnte Weiß seinen König nach e7 und seinen Turm nach f6 bringen. Dann spielt er g4 und tauscht Bauern ab, wenn Schwarz ...h5 gespielt hat. Danach geht der weiße f-Bauer nach f5, dann zieht der Turm, Weiß spielt f6+ und bereitet sich darauf vor, Txf7 folgen zu lassen.
Aber wenn man beiden Seiten noch einen Turm gibt, dann wird der Gewinnweg enorm kompliziert. Und ich weiß nicht, ob in dieser Stellung "Gott gegen Gott" gewinnen würde.
Jon SpeelmanJonathan Speelman, Jahrgang 1956, entschied sich 1977 nach einem Studium der Mathematik für eine Karriere als Schachprofi. Er wurde drei Mal Britischer Meister und von 1980 bis 2006 war er Mitglied der englischen Olympiamannschaft. Zwei Mal qualifizierte er sich für die Kandidatenwettkämpfe und 1989 kam er dort bis ins Halbfinale. Speelman arbeitete auch als Sekundant für Nigel Short und Vishy Anand und ist Autor einer Reihe erfolgreicher Bücher.
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