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Die Meinungen darüber, welche Chancen Sergey Karjakin hat, wenn er im November gegen Magnus Carlsen um die Weltmeisterschaft spielt, sind geteilt, aber für die meisten Schachfans und auch für mich ist Carlsen Favorit. Die Frage ist allerdings auch, wie gut Carlsens Chancen wirklich sind. In meinem letzten Artikel habe ich die Meinung vertreten, dass Karjakins Chancen, Weltmeister zu werden, zwischen 1 zu 3 und 1 zu 2 liegen. Ich möchte diese Einschätzung mit Analysen untermauern, und dabei der Frage nachgehen, wie gut Karjakin in Moskau in kritischen Stellungen unter Druck gespielt hat. Denn der Druck in Moskau war enorm, aber wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was ihn erwartet, wenn er gegen Carlsen spielt.
Natürlich reicht ein einzelnes Turnier nie aus, um einen Spieler umfassend zu beschreiben. Denn würde man Fabiano Caruanas Ergebnis beim 2. Sinquefield Cup 2014 in St. Louis als Grundlage für alle Analysen nehmen, dann wäre er in jedem Turnier, an dem er teilnimmt, klarer Favorit. Aber einzelne Turniere können viel über das Potenzials eines Spielers verraten - und Karjakin hat in Moskau beeindruckend gespielt.
Natürlich hat er nicht immer die besten Züge gemacht und ein paar Fehler sind ihm auch unterlaufen – alles andere wäre in einem so starken Turnier allerdings auch eine Überraschung - aber in den meisten Partien blieb er fokussiert und kam nur ganz selten ins Schleudern. Vor allem spielte er in den kritischen Momenten stark und pragmatisch ohne dabei zu viel Zeit zu verbrauchen.
Damit das Beste wirklich zum Schluss kommen kann, möchte ich mit zwei Beispielen beginnen, in denen nicht alles glatt lief. Diese Partien wurden an anderer Stelle natürlich bereits gründlich analysiert, und ich möchte diese Analysen hier nicht wiederholen, sondern mich auf die kritischen Momente konzentrieren.
P. Svidler - S. Karjakin, Runde acht
In der ersten Runde der zweiten Turnierhälfte, also in Runde acht, probierte Peter Svidler in der Eröffnung eine Idee aus, die
sich als Bumerang erwies und ihn in die Defensive zwang. Der Läufer auf g2 ist fast völlig eingemauert und Schwarz muss "nur" die Kontrolle über die Stellung bekommen und er steht mehr oder weniger auf Gewinn.
Natürlich ist das alles andere als einfach, aber mich erinnert das an eine Partie, die ich beim World Cup in Brüssel 1988 gegen Anatoly Karpov verloren habe. Ich brachte ein Qualitätsopfer, das ziemlich gut aussah, aber zu dem ich nicht wirklich Vertrauen hatte. Ich konnte keine Widerlegung sehen, aber die zeigte mir Karpov dann ziemlich schnell. Ich glaube, ein Karpov in guter Form und eine Reihe von anderen Spielern auf der Höhe ihres Könnens hätten Svidler hier mitsamt seinem Läufer eingesargt.
Karjakin konnte 'leicht' gewinnen, aber so leicht war das nicht.
Die beste Möglichkeit wäre hier 19...hxg5! gewesen, was zu zwei interessanten Varianten führen kann: 20.Sxg5 Sf5! 21.Sh3 Scxd4 22.Sxf4 Dh4; und 20.Kh1 Sd4 21.Lxd4 Dxd4 22.Sxg5 Ld7 23.Dxa7 (nach anderen Zügen steht Weiß ebenfalls schlecht, hat aber kein Material für seine Mühen bekommen) 23...De5 24.Lh3 Lxh3 25.Sxh3 Sc6 26.Da6 Sd4 und Schwarz steht so dominierend, wie er es wollte.
Nach der Partiefortsetzung 19...h5 20.Tfd1 Sd4 21.Lxd4 Dxd4 22.Dxa7 Dd7 23.Da3 h4 24.Dc3 Lf5 25.h3 hatte Schwarz bereits gewisse Sorgen, denn Weiß kann den h-Bauern mit De1 aufs Korn nehmen. Karjakin kam zu dem Schluss, dass er auf h3 nehmen konnte, um den Läufer anschließend zurückzuziehen und ...h3 zu spielen, um den weißen Läufer zu begraben, aber nach 25...Lxh3? wurde er von 26.De5! überrascht - danach stand Svidler besser.
25...Lxh3 war ein seltsamer Zug und Schwarz muss nach 19...h5 bessere Möglichkeiten haben, obwohl Varianten wie 20...Ld7 21.Dc2 Sf5 22.d4 Sh4 23.d5 Se5 auch alles andere als klar sind.
Aber vielleicht war schon 19...h5 ein schwerer Fehler. Ich finde es erstaunlich schwer, hier im Nachhinein eine klare und einfache Fortsetzung zu finden. Ich habe allerdings den Verdacht, dass die Computer das Läuferpaar überschätzen und deshalb sollte man nicht allzu viel auf die Engines geben, wenn man diese Partie analysiert.
V. Anand - S. Karjakin
Ganz egal, was die Engines sagen (Houdini zeigt nach 30...Lh7 +0.25 für Weiß an), diese Stellung ist für Schwarz unangenehm.
Nachdem sich Weiß auf c7 mit dem Turm festgesetzt hatte, sah die Lage noch ernster aus. Eine Idee in dieser Stellung ist 30...Ke8, wonach Weiß zwar den e-Bauern gewinnt, aber der Schaden sich noch in Grenzen halten sollte. Eine Möglichkeit für Weiß ist jetzt 31. bxc6 (vielleicht ein wenig antipositionell, aber da der weiße Turm nicht nach c7 kommt, öffnet Weiß die b-Linie für seine Türme) 31...bxc6 32.Txe7+ Kxe7 33.Txe4+ Le6 34.Tb4 Td8 35.Ld4 Lc8! 36.Kg2 La6 und Weiß kann unendlich lange weiter auf Gewinn spielen, aber Schwarz sollte die Stellung halten können.
In der Partie geschah stattdessen 31...Tce8 31.b6 a6 32.Tc7 Kf8 33.c4 Le6 34.Txe4 Kf7 35.f4
Stellung nach 35. f4
Was immer auch die Engines sagen, in einer Partie zwischen zwei Menschen steht Schwarz bereits kritisch. Karjakin entschied zu Recht, dass der Notfall eingetreten war, aber ergriff die falschen Maßnahmen: Nach 35...Txc7 36.bxc7 Tc8? (36...f5! war die mit Abstand beste Fortsetzung) rechnete er offensichtlich mit 37.fxg5 fxg5 38.Lxg5 Txc7, was Schwarz eine haltbare Stellung gibt, aber übersah die Möglichkeit 37.f5! Ld7 38.h4!
Auf 38...gxh4 folgt jetzt 39.Td4!. Karjakin versuchte es mit 38..g6, aber obwohl die Partie noch bis zum 70. Zug dauerte, war sie praktisch vorbei. (Ich glaube, die Monsterengines haben keine Verteidigung für Schwarz gefunden - und wenn, dann wäre es mir egal: in menschlichen Partie ist hier Feierabend.)
Wenden wir uns jetzt den für Karjakin erfreulicheren Momenten zu und schauen wir uns an, was in seiner Partie gegen Anish Giri in Runde drei geschah.
A. Giri, S. Karjakin, Stellung nach 18.Te1
Der beste Zug ist hier wahrscheinlich 18...Se4, mit der Idee, dass Schwarz nach 19.f3 Sxg3! genug Kompensation für die Figur hat. (Ein schönes Echo der Partie mit Hikaru Nakamura aus der zweiten Runde, in der Nakamura mit ...Sxg3? ein verhängnisvolles Versehen unterlief.) Karjakin entschied sich für einen anderen Zug, aber wichtig ist nicht, dass man den "besten" Zug spielt, sondern dass man eine Idee hat, die man begründen kann. 18...h5 19.Lh3 Sg4 20.Sf4 g6!
Statt sich nach 20...Lxf4 21.exf4 auf eine lange Belagerung einzulassen, war Karjakin willens, einen Bauern für das Läuferpaar und Spiel auf den weißen Feldern zu opfern. 21.Lxg4 hxg4 22.Dxg4 Sf6 23.Dg5 Le7! Wieder selbstbewusst gespielt. Karjakin vertraute seinen Berechnungen und lädt Giri zu einem naheliegenden Figurenopfer ein.
Anish Giri
24.Sxg6 fxg6 25.Dxg6+ Kh8 26.Sc5 26.e4 war ebenfalls interessant, aber auch dann hat Schwarz nach 26...Lb4 27.Te3 Ld2! über ausreichend Verteidigungsressourcen. 26...bxc5 27.dxc5 Tf8 28.Dh6+ Kg8 29.Dg6+ So kam Karjakin ohne viel Aufwand mit Schwarz zu einem Remis gegen einen Spieler, der manche Stellungen unverdrossen 100 Züge und mehr auf Gewinn spielt.
F. Caruana - S. Karjakin, Round six
In Runde sechs spielte Karjakin mit Schwarz gegen Caruana und sah sich ein paar Züge vor Erreichen dieser Stellung gezwungen, die Dame zu geben. Wenn Schwarz in dieser Stellung 28...h6 spielt, dann kann er sich vielleicht noch halten, aber auf alle Fälle stehen ihm sehr unangenehme Momente bevor. Aber Karjakin fand eine viel bessere Idee, die Weiß kurz vor der Zeitnot vor Probleme stellte.
28...d4!
Diesen Zug zieht man sicher in Betracht und in einer Blitzpartie würde man ihn vielleicht auch wirklich spielen, aber in einer ernsten Turnierpartie mit langer Bedenkzeit macht man einen solchen Zug nicht so einfach. Aber Karjakin hat sehr präzise gerechnet/geurteilt.
Caruana beeindruckte durch gute Vorbereitung, Karjakin durch gute Verteidigung
29.Dxc4 d3 30.g5?
Sehr verlockend, aber vielleicht bot 30.Kh2 (oder erst Lf3) 30...d2 31.Lf3 d1=D+
32.Lxd1 Txd1 bessere Chancen, zum Beispiel nach 33.Ta6 - aber nicht 33.h4 Tee1 34.h5 Th1+ 35.Kg3 Tdg1+ 36.Kf4 Lxh5! und Schwarz hält sich.
30...d2 31.gxf6+ Kh8 32.Lf3 Le4! 33.Kh2 Ld5!
Nach diesen beiden Läuferzügen ist Schwarz okay.
34.Dg4 Tg8 35.Ld1 Txg4 36.hxg4 h6 ½–½
In der Schlussstellung habe ich mich gefragt, ob Caruana in Anbetracht der wirklich schlechten schwarzen Königsstellung nicht doch hätte weiterspielen können, aber ernsthafte Gewinnchancen hat er tatsächlich nicht. Zum Beispiel 37.Kg3 Kh7 38.Bc2+ Kg8 39.Kf4 Le6 40.Ld1 Kh7 41.Lc2+ Kg8 42. Ta1?! Tc8 und es ist Weiß, der vorsichtig sein muss - und 43.Ld3 Lb3 44.Le2 Td8 45.Ld1 Lxd1 46.Txd1 Kh7 47.Ke3 führt nicht weiter.
Karjakins Partien aus den letzten beiden Runden waren in Anbetracht des Drucks, der auf ihm lastete, herausragend. Karjakin begann mit einer inspirierten Verteidigungsidee gegen Levon Aronian.
Aronian hat gerade sehr stark 29.Tc6-c5! mit Angriff auf den Springer gespielt
Wenn sich Schwarz jetzt mit 29...Tb3 30.Txb3 axb3 31.Dxb3 c6 retten will, dann führt 32.Ta5 Txa5 33.Db8+ De8 34.Dxe8+ Lxe8 35.Lxa5 zu der Art von schlechter Stellung, die man nicht haben will. Karjakin forcierte die Dinge stattdessen und opferte eine Figur, was ihm sehr gute Remischancen einbrachte.
29...Sxe3!?
Falls jetzt:
Kehren wir jetzt zur Stellung nach 29...Sxe3!? 30.Dxa3 zurück. In der Partie geschah jetzt 30...Txb2 31.Dxb2 Sxg2 32.Kxg2 a3 33.Db7 Dd8 34.Dxc7 Dxc7 35.Txc7 Ld5 36.Tc5 a2 37.Lc3 Lg8 38.La1 Tb8
Stellung nach 38...Tb8
39.Ta5?!
Erlaubt Schwarz, den Bauern d3 zu erobern. 39.Tc1 Tb1 40.Tf1 war besser, denn jetzt kann Weiß 40...Le6 mit 41.Sd2! beantworten. Aber die Stellung bleibt schwer zu gewinnen.
39...Tb1 40.Lc3 Td1 41.Kf3 Txd3+
Nachdem er diesen Bauern erobert hatte, war die Welt für Karjakin wieder in Ordnung, denn der a-Bauer stört Weiß doch beträchtlich und die schwarze Bauernstruktur am Königsflügel ist sehr solide.
Die Entscheidung fiel in der letzten Partie
Und damit kommen wir schließlich zur letzten Runde - allerdings nicht zum der Partie zwischen Karjakin und Caruana, denn da unterlief Caruana ein Versehen, das Karjakin ein Opfer erlaubte, das ziemlich leicht zu sehen und zu berechnen und eigentlich auch erzwungen war, sondern zu dem Zug, der das Opfer eigentlich erst möglich gemacht hat.
Karjakin hatte erkannt, dass der Trend der Partie gegen ihn lief, und spielte deshalb 30.e5!, um der Partie eine andere Richtung zu geben und kurz vor der Zeitkontrolle maximalen Druck auf Caruana auszuüben. Das war nicht unbedingt der "objektiv beste" Zug, aber in Anbetracht der Umstände mit Abstand der beste praktische Versuch. In einer Partie, die Karjakin auf keinen Fall verlieren durfte, ist er umso bemerkenswerter.
Um es zusammenzufassen: Karjakin hat in Moskau etliche zweitklassige Züge gespielt und ein paar Fehler gemacht - schließlich ist er auch nur ein Mensch. Doch viel, viel öfter hat er sehr stark gespielt und ist unter extrem starkem Druck ruhig und gelassen geblieben. Um gegen Carlsen Erfolg zu haben, muss er allerdings noch ein oder zwei Schippen drauflegen - aber unmöglich ist das nicht.
Über den Autor Jonathan Speelman wurde 1956 geboren und entschied sich 1977 nach einem erfolgreichen Abschluss des Mathematikstudium am Worcester College in Oxford zu einer Laufbahn als Schachprofi. 1977 wurde er Internationaler Meister, 1980 folgte der Großmeistertitel. Von 1980 bis 2006 war er Mitglied der englischen Olympiamannschaft. |