Erinnerung an Stefan Reschke (23.12.1965 – 13.12.2022)

von ChessBase
19.12.2022 – Stefan Reschke war leidenschaftlicher Schachspieler. Er wurde Internationaler Meister, spielte in der Bundesliga, war A-Trainer, Eröffnungskenner und spielte gerne und gut Blitzschach. Nach langer und schwerer Krankheit starb Stefan am 13. Dezember, kurz vor seinem 57. Geburtstag. Hans Dieter Post, der ihn gut und lange kannte, erinnert an Stefans Laufbahn, seine Leidenschaft für das Schach, für Rollenspiele und für Filme.

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Mehr Frankfurter geht nicht

Von Hans D Post

Wenn ich bisher einen Nachruf auf einen Frankfurter Stadtmeister verfasste, hatte ich meist wenig persönlichen Kontakt zum Verstorbenen gehabt. Mit Stefan war es anders. Wir kannten uns bereits seit Mitte der 80er Jahre, wobei damals schon klar war, dass er der wesentlich bessere Spieler war und mein Weg sich eher auf die Organisation von Turnieren verengen würde.

Bedingt durch eine sich bei ihm ab 2012/13 plötzlich ergebende gesundheitliche Veränderung zum schlechten hin, die von Anfang an lebensbedrohliche Züge annahm, bat er mich schließlich vor wenigen Jahren darum, nach einer weiteren schlimmen Phase, die er noch überstand, nach seinem Tod einen Nachruf auf ihn zu verfassen.

Mitte August 2020 telefonierten wir daher mehrere Stunden miteinander, um einiges aus seinem Leben festzuhalten. Zum ersten Male musste ich nicht nachträglich mit Angehörigen sprechen, oder diese gar erst ausfindig machen, oder in Archiven nach Lebenspuren suchen. Ausdrücklich bat mich Stefan darum, alles zu verwenden, was wir an Details besprochen haben. So sei es, Stefan!

Einen Tag vor Heiligabend wurde Stefan im Jahr 1965 in Frankfurt am Main geboren, was nur die wenigsten Frankfurter Stadtmeister für sich in Anspruch nehmen können. Er besuchte nach der Grundschule die Hauptschule, schloss aber seine schulische Laufbahn nach einem Wechsel mit der Mittleren Reife ab.

Er begann eine Ausbildung als Laborfachwerker bei der Höchst AG und blieb dort, obwohl mehrfach umstrukturiert, umfirmiert wurde, bis zum Eintritt ins Rentenalter, was gesundheitlich bedingt prinzipiell schon ab 2013 begann.

Stefans Vater war Malermeister, hatte später auch mal eine Kneipe, spielte aber gerne Karten und die Leidenschaft für das Zocken scheint er seinem Sohn vererbt zu haben. Er verließ die Familie recht früh und verschwand damit auch aus Stefans Leben.

Seine Mutter war Verkäuferin und eröffnete später ebenfalls eine Kneipe. Mehr war zu seiner Familie nicht zu erfahren. Doch da war ja auch noch Thomas, der gut drei Jahre jüngere Bruder mit Kontakten zum Schachklub in Sindlingen. Von ihm hat Stefan das Schachspielen spät gelernt, im Alter von 14 Jahren.

Vom Ehrgeiz gepackt, sich vom jüngeren Bruder nicht auf der Nase herumtanzen zu lassen, überholte er ihn alsbald an Spielstärke. 1981 spielt Stefan bereits an Brett 1 der dritten Sindlinger Mannschaft in der Kreisklasse, Thomas an vier oder fünf.

In dieser Saison wird der SV Hofheim als Fixstern am hessischen Schachhimmel auf ihn aufmerksam, als Stefan dort bei einem Simultan gegen Salo Flohr eines der wenigen Remis gegen den Großmeister erreicht. Ähnliches gelingt ihm im gleichen Jahr noch gegen Helmut Pfleger, diese Partie wird sogar in der Rochade abgedruckt.

Sindlingen wird zu klein für Stefan und als Main-Taunus-Spieler orientiert er sich nicht direkt nach Frankfurt, zu Königsspringer oder Grünweiß, sondern bleibt im Bezirk, in der Nachbarschaft und wechselt 1984 zum SC Höchst.

Es ist auch die Zeit, als Garri Kasparow die Weltherrschaft im Schach übernimmt und den Apparatschik Karpow vertreibt. Kasparow wird Stefans Vorbild als Schachspieler werden.

Doch Stefan spielt eigentlich lieber Blitzschach, wenn es sein muss auch Schnellschach. Die richtigen Kerle dazu findet man in der Frankfurter Moselstraße, im Schachcafé. Legenden und Mythen dringen von dort in den tiefen Frankfurter Westen vor und ziehen Stefan in ihren Bann.

Er blitzt um Geld, verblitzt all sein Taschengeld, lernt dabei aber auch, sehr schnell zu spielen und ein paar Tricks. Und holt sich sein Geld zurück. Reschke, die schnellste Hand von Frankfurt, war geboren.

Doch der immer wieder aufflammende Ärger unter einigen Spielern, hervorgerufen durch Betrugsversuche, die oft auch in Schlägereien mündeten, verleiden ihm das Spiel im Bahnhofsviertel. Doch von den Mahlzeiten dort schwärmte er. Und ein oft anwesender Spitzenspieler aus der Hofheimer ersten Mannschaft wird auf ihn aufmerksam und überredet ihn, seine Fähigkeiten auch im Nahschach zu verbessern, und nach nur einem Jahr ist für Stefan Schluss in Höchst und er ist in Hofheim bei einem Spitzenklub angekommen.

In einer kleinen Schachgruppe, die von GM Lev Gutman geleitet wird, wird er als Spätjugendlicher gefördert und ist besonders beeindruckt von der Systematik Gutmans und noch mehr von dessen Variantenkartei. Wenig später geht ChessBase mit seinem ChessBase-Magazin an den Start und Stefan ist ab Heft 1 dabei. Mit Computerunterstützung als Training steigert er seine Spielstärke erheblich.

Für kurze Zeit probiert er sich im Fernschach, kann sich aber nicht dafür begeistern. Auch Problemschach fällt bei ihm durch. Später wird er Chess960 zunächst ablehnend gegenüberstehen, bei einem Eröffnungsguru kein Wunder, aber auch in dieser Disziplin wird er später viele Schnellschachturniere spielen und dort Erfolge feiern.

Zunächst beginnt aber alles damit, dass es ihm schon 1987 gelingt, eine Elo-Zahl zu bekommen, was erstaunlich für einen Spätstarter wie ihn ist, zumal es damals nur wenig Gegner mit Elo-Zahl gibt, und man mindestens eine Zahl von 2205 erreichen musste, um in der internationalen Schachfamilie offizieller Elo-Träger zu werden.

Ein Jahr zuvor hatte Stefan die Frankfurter Stadtmeisterschaft West gewonnen. Nun feierten ihn zwar die alten Schachkumpel in Höchst, aber man neckte ihn auch, denn schließlich gab es ja die "große" Frankfurter Stadtmeisterschaft in der City. Stefan ließ sich mitnehmen, nahm teil, und wurde als deutlicher Favorit nach Rating nur Vierter. Dies war auch die erste Stadtmeisterschaft, die ich organisiert habe, und es dauerte lange, 10 Jahre, bis Stefan hier wieder an den Start ging.

Doch danach fuhr er gleich zum Schachfestival nach Biel in die Schweiz und konnte dort solche Niederlagen gut verarbeiten - er gewann dort in überzeugender Manier das Blitzturnier. Aber Biel war ein sehr teures Pflaster für einen jungen Menschen ohne große Einkünfte, aber man war auch in einem der angesagtesten Schachplätze Europas angekommen und traf auf Spieler, die man bislang nur aus Zeitungen kannte.

Doch bei aller Schachleidenschaft konzentrierte sich Stefan auch auf seinen Beruf, denn er hatte erkannt, dass es für einen GM-Titel nie reichen würde. Damals war die Messlatte deutlich höher als heute und Normenturniere waren sehr selten. Aber IM wollte er schon werden!

Ein neuer Klub östlich von Frankfurt schickte sich damals an, dem Establishment aus Hofheim den Ruf des Spitzenklubs abzunehmen. Der Altersschnitt lag dort deutlich unter dem des Klubs aus dem Westen und man lockte mit Normenturnieren Elo-hungrige Nachwuchsspieler auf die Dörfer. Stefan wechselte daher 1987 zu den Schachfreunden Schöneck und schlug sich im Jahr darauf im Schönecker GM-Turnier achtbar. Im gleichen Jahr machte eine Partie, die er Dortmund gespielt hatte, die Runde und wurde unter anderem im Stern veröffentlicht. In dieser Partie spielte Stefan einen der teilnehmenden Schachcomputer an die Wand, aber verlor dann in Gewinnstellung die Kontrolle über die Partie und verlor am Ende noch.

Den FM-Titel konnte er 1990 realisieren, und seine Präsenz und seine guten Ergebnisse bei Open und Blitzturnieren sprachen sich herum und ließen Bundesligavereine aufhorchen. Koblenz lockte und Stefan wechselte erneut.

1994 holte mit dem Gewinn des IM-Turniers in Gießen auch den lange ersehnten Titel eines Internationalen Meisters und überschritt die Elo-Schallmauer von 2400. Spätestens jetzt zeigten auch die großen Klubs aus Liga 1 Interesse an ihm.

Beim Hofheimer Elo-Turnier verfehlte er 1995 nur knapp eine Turnierleistung von DWZ 2700. Die SG Bochum wird schließlich die sportliche neue Heimat, wo er als Halbprofi seine Elo auf 2415 schraubt, die höchste Elo-Zahl die er je erreicht hat. 1999 wechselt er zum SV Oberursel, wo er sieben Jahre spielt, um dann nach Offenbach zu gehen. Dort bleibt er sechs Jahre und geht dann nach Oberursel zurück.

Ende der Neunziger Jahre ist auch die Zeit, in der er sich wieder häufiger bei hessischen Turnieren blicken lässt, und zu meiner persönlichen Freude wird er die Frankfurter Stadtmeisterschaft die nächsten 20 Jahre beehren und auch bereichern.

Doch nach seiner schweren Erkrankung verabschiedete er sich aus dem Bereich der Oberligen und Bundesligen und wechselt zurück in die alte Heimat, die jetzt aber Teil des SC Frankfurt West geworden ist. Damit spielte er wieder im gleichen Klub wie sein Bruder Thomas. Der Kreis hatte sich geschlossen, denn eigentlich war der Frankfurter Westen immer seine Heimat.

Im Jahr 2000 ist es dann soweit und er gewinnt dieses Turnier zum ersten Mal. Zwei weitere Titel in den Jahren 2002 und 2003 folgen. Insgesamt gehört Stefan zu den erfolgreichsten Teilnehmern dieses traditionsreichen Turniers. Nur zweimal kommt er hier nicht in die Top 10, doch nicht weniger als sechzehn Mal platziert er sich in den Top 4. Bei seinem letzten Einzelturnier 2016 verabschiedet er sich mit Platz 10 von dieser Bühne.

Stefan machte nie einen Hehl daraus, dass die Vereinszugehörigkeiten, die auf Sindlingen folgten, ihn entweder sportlich weiterbringen mussten, oder dass die Leistung, die er brachte, auch vergütet werden sollte. Schließlich gab er eine Menge Geld aus, um theoretisch auf dem Laufenden zu bleiben.

Dabei beobachtete er nicht nur den Schachbuchmarkt genau, sondern besaß auch eine Menge der neuesten Veröffentlichungen. Seine Rezensionen zahlreicher Eröffnungsbücher kann man durchaus als legendär bezeichnen, denn er urteilte sehr streng. Tatsächlich gehörte er aufgrund seines umfassenden Wissens auf diesem Gebiet der Schachliteratur zu den drei Personen, die von der FIDE Trainerkommission eingesetzt wurden, um eine Liste der hundert empfehlenswertesten Schachbücher zu erarbeiten.

Ab Mitte der Neunziger Jahre engagierte sich Stefan auch sehr stark im Bereich der Förderung und Ausbildung junger Talente und wird später auch A-Trainer. Der Hessische Schachverband stellte ihn als Trainer für seinen Leistungskader ein und zahlreiche Erfolge hessischer Talente gegen auf Stefans Mitwirken zurück. Besonders an den Erfolgen von Alexander Donchenko, der heute in der Weltspitze spielt und sich auch nicht scheute, Stefan als Trainer zu erwähnen, hatte er viel Freude.

Stefan bewertete seine eigenen Leistungen stets objektiv und ehrlich und auch in seinen Einschätzungen der Leistungen anderer war er ehrlich. Das hat viele Spieler motiviert, aber durch diese Ehrlichkeit ist er gelegentlich auch angeeckt und hat, wie er selbst sagte, "Freunde" verloren. Im Leistungskader waren es oft Eltern, die mit seinen Einschätzungen nicht immer übereinstimmten.

"Schach hat mir viel gegeben, aber ich habe auch selbst gegeben", war einer seiner Sätze, die mir in Erinnerung geblieben sind. Tatsächlich hat er nicht nur jahrzehntelang sein umfangreiches Wissen weitergegeben, sondern hat mit einer großzügigen Spende an den Leistungskader des Hessischen Schachverbandes auch dafür gesorgt, dass es möglich wurde, zum ersten Mal ein Normenturnier für den Nachwuchs anzubieten. Ein solches Turnier war schon lange geplant gewesen, aber pandemiebedingt immer wieder verschoben worden. Wenige Monate vor seinem Tod fand es dann endlich statt, und Stefan konnte es aus der Ferne verfolgen und zeigte sich zufrieden.

Zuvor war Stefan bereits schon als langjähriger und erfolgreicher Kadertrainer mit der Verbandsehrennadel in Silber ausgezeichnet worden. Er hätte sicher Platin verdient gehabt.

Stefans Schachleidenschaft war bekannt, aber die wenigsten wissen, dass Stefan auch ab Ende der achtziger Jahre, also sehr früh, das Genre des Rollenspiels für sich entdeckt hatte. Und es war typisch für ihn, dass er es auch hier bis in die deutsche Spitze brachte. Seine Regale waren voll mit Literatur dazu, wenngleich Schachbücher deutlich mehr Raum einnahmen.

Außerdem standen in seinen Regalen etliche Meter mit DVDs! Stefan war Film-Fan, und Eastern und die Filme von Quentin Tarantino standen auf der Liste seiner persönlichen Favoriten weit oben.

Nach einem schweren, traumatischen Autounfall in jungen Jahren, bei dem er als Mitfahrer betroffen war und nach dem er erst im Krankenhaus wieder aufgewacht ist, hat er sich entschieden, nie einen Führerschein zu machen - wegen der damit aus seiner Sicht zu hohen Verantwortung.

So hatte ich oft genug Gelegenheit, als Fahrer mit Stefan unterwegs zu sein und so kamen auch viele gemeinsame Kinobesuche zu Stande.

Anfang 2013 traten bei Stefan gesundheitliche Probleme auf. Eine Stoffwechselerkrankung führte er dazu, dass er innerhalb kurzer Zeit 50 Kilogramm abnahm. Im März 2017 spielte Stefan seine letzte Elo-gewertete Partie und 2019 ging es ihm so schlecht, dass er ins Pflegeheim kam. Im Mai 2020 verschlimmerte sich sein Zustand so sehr, dass er seine Wohnung auflösen ließ.

Eine wichtige Stütze in Stefans letzten Lebensjahren, wo er kaum noch das Bett verlassen konnte, war sein Bruder Thomas. Die vielen Formalitäten und Gänge, die es zu erledigen galt, wurden von ihm übernommen, und mit Sicherheit war Thomas in den letzten Jahren auch ein wichtiger und wertvoller Gesprächspartner.

Der Kontakt zur Außenwelt stellte Stefan in diesen Jahren vor allem über sein Notebook her, und Lichess wurde zum Ersatz für Live-Turniere. Sah er seine ehemaligen Schüler spielen, sparte er nicht mit bissigen Kommentaren, wenn sie daneben griffen. Auch Thomas musste sich da einiges anhören, wenn mal wieder ein Best-of-Three zu eindeutig verloren ging.

Wenige Stunden vor seinem Tod meldete sich Stefan bei mir am Abend, als ich gerade in eisiger Kälte mit meinem Hund unterwegs war. Das Handy bekam ich nicht schnell genug aus dem Mantel, und ich beschloss ihn später noch zurückzurufen. Aus irgendeinem Grund kam es jedoch nicht mehr dazu.

Am Morgen des 13. Dezember 2022 rief, was sonst eher sehr selten der Fall war, Stefans Bruder Thomas an. Als es klingelte, sah ich die eingespeicherte Nummer, und zögerte erst, anzunehmen. Doch was hätte das gebracht. Und so erhielt ich sie, die ungewollte Nachricht. Erst danach bemerkte ich, dass Stefan noch eine Voicemail hinterlassen hatte. Er bat um einen Rückruf, und sicher wären die aktuellen Schachereignisse im Mittelpunkt gewesen.

Und es gibt sie doch, diese Lücken, die plötzlich entstehen.

Dieser Nachruf erschien zuerst am 17. Dezember 2022 bei schach-chroniken.net. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

Stefan wird am kommenden Freitag, seinem 57. Geburtstag, um 12 Uhr auf dem Friedhof Frankfurt-Sindlingen, (Höchster) Farbenstr.104, beerdigt.

schach-chroniken-net


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