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Der erste offizielle Schachweltmeister Wilhelm Steinitz (1836 – 1900) gilt als Begründer der sogenannten „modernen“ Schule. Manche verübeln ihm, dass er mit seinen Theorien das romantische Angriffsschach aus den Turniersälen vertrieb und stattdessen eine Spielweise predigte, die mit ihren Werten geizt, anstatt großzügig Bauern und Figuren im Sinne des Angriffs zu opfern. Was leicht vergessen wird in diesem Zusammenhang: Viele Jahre lang war Steinitz selbst ein Romantiker reinsten Wassers. Das zeigen seine Partien aus der Zeit bis einschließlich 1872 ganz deutlich. Mit dieser ersten Phase seines Wirkens möchte ich mich in diesem Beitrag beschäftigen.
Wilhelm Steinitz wurde am 14. Mai 1836 in Prag geboren, eine Stadt, welche damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Als Zwölfjähriger erlernte er das Schachspiel von einem Schulkameraden. Bald schon besiegte er seinen Lehrer und nach eifrigem Studium des Spiels konnte er es erfolgreich mit den Prager Kaffeehausspielern aufnehmen. Seine Eltern wollten, dass er Rabbi wird, doch stattdessen ging Steinitz 1858 nach Wien, um Mathematik zu studieren. Er schrieb auch Artikel für eine Zeitung, verlegte sich aber mehr und mehr darauf, sein Geld als gefürchteter Kaffeehausspieler zu verdienen. Bald war er so erfolgreich, dass er beschloss, Schachprofi zu werden.
Die besten Bedingungen für Berufsschachspieler bot die englische Hauptstadt London. Also ließ sich Steinitz 1862 dort nieder, so wie es zehn Jahre später auch Johannes Hermann Zukertort tat. 1862 traten dort 14 Teilnehmer in einem internationalen Schachturnier gegeneinander an. Die Bedenkzeit betrug 2 Stunden für je 20 Züge. Zur Zeitmessung wurden Sanduhren verwendet. Jeder spielte gegen jeden, wobei unentschiedene Partien so oft wiederholt werden mussten, bis ein Sieger feststand. Steinitz erreichte nur 6 von 13 möglichen Punkten und wurde damit Sechster. Überlegener Sieger wurde Adolph Anderssen mit 11 aus 13 vor Louis Paulsen (9), die sich auch im direkten Vergleich gegen Steinitz durchsetzten. Anderssen war damals 44 Jahre alt, Steinitz 18 Jahre jünger. Vier Jahre später sollten sie in einem Wettkampf erneut aufeinandertreffen.
Steinitz ließ sich von dem durchwachsenen Beginn seiner internationalen Turnierlaufbahn nicht beeindrucken. Schon bald zeigte er sich allen englischen Schachspielern überlegen. Am erfolgreichsten erwies er sich in Wettkämpfen. Schon Morphy hatte es meisterhaft verstanden, sich auf einen Wettkampfgegner einzustellen. Als er 1858 in Paris gegen Harrwitz zum Auftakt eine freie und zwei Wettkampfpartien hintereinander verloren hatte, sagte er voraus, dass Harrwitz gegen ihn keine einzige Partie mehr gewinnen werde, und genauso kam es. Und Steinitz, der „österreichische Morphy“ tat es ihm nach. 1862/63 walzte er Joseph Henry Blackburne mit 7:1 bei 2 Remisen nieder. Siegreich blieb er auch in Wettkämpfen gegen Serafino Dubois, Frederic Deacon und Valentine Green. Am relativ besten schlug sich 1866 der Engländer Henry Edward Bird. Obwohl Steinitz von Anfang an die Initiative übernahm und seit dem Gewinn der ersten Partie beständig in Führung lag, lautete das Endergebnis „nur“ 7:5 bei 5 Remisen.
Sein bis dahin größter Erfolg gelang Steinitz 1866 gegen Adolph Anderssen, der mit London 1851 das erste große internationale Schachturnier der Neuzeit gewonnen hatte und 1858 von Morphy mit 7:2 bei 2 Remisen klar geschlagen worden war. In Turnier von London 1862 hatte Anderssen noch dominiert und sich auch Steinitz gegenüber überlegen gezeigt. Auch bei dem vom 18. Juli bis zum 10. August in London ausgefochtenen Wettkampf ging er zunächst mit 1:0 in Führung, musste anschließend aber vier Niederlagen hintereinander einstecken. Überraschenderweise verlor danach Steinitz die nächsten vier Partien. Doch von den noch folgenden fünf gewann der 48-jährige deutsche Altmeister nur noch eine, so dass es am Ende 8:6 für Steinitz stand. Keine einzige der insgesamt 14 Partien war remis ausgegangen! Von da an betrachtete sich Steinitz als Weltmeister, denn er hatte denjenigen Spieler geschlagen, der nach dem Rückzug Paul Morphys wieder als der stärkste Spieler der Welt galt. Morphy beteiligte sich schon seit 1860 nicht mehr an Turnieren oder Wettkämpfen. Wie schade, dass kein Match mit Steinitz zustandekam! Es wäre mit Sicherheit sehr spannend geworden.
1867 fand in Paris ein großes internationales Turnier statt. Die Zeitkontrolle schrieb 10 Züge pro Stunde vor. Für 20 Franc konnten sich die Spieler jedoch 15 Minuten zusätzliche Bedenkzeit hinzukaufen. Wie schon in London 1862 zählten unentschiedene Partien nicht. Steinitz wurde Dritter hinter v. Kolisch und Winawer. In Baden-Baden 1870 siegte Adolph Anderssen mit 11 aus 16, aber Steinitz wurde mit nur einem halben Punkt Rückstand Zweiter vor den punktgleichen Gustav Richard Neumann und Joseph Henry Blackburne (je 10). In diesem Turnier revanchierte sich Anderssen für die Matchniederlage vier Jahre zuvor, indem er beide Partien gegen Steinitz für sich entscheiden konnte. In Wien 1873 sehen wir zum ersten Mal einen anderen Wilhelm Steinitz, der sich vom romantischen Schach abgewandt hat und seine Partien nun anders anlegt. Mit Erfolg, denn er gewinnt das Turnier und auch beide Partien gegen Adolph Anderssen.
Steinitz und sein späterer WM-Gegner Johannes Herrmann Zukertort waren bei einem Turnier in London 1872 zum ersten Mal aufeinandergetroffen. Auch hier mussten Remispartien wiederholt werden, was in diesem Falle Steinitz zugutekam, nachdem seine erste Partie gegen Zukertort remis ausgegangen war. Er gewann die Wiederholungspartie gegen Zukertort ebenso wie auch alle übrigen sechs Partien und triumphierte mit einem Traumergebnis von 7:0 überlegen vor Blackburne und den punktgleichen Zukertort, MacDonnell und de Vere.
Nach diesem Turnier wurde ein Wettkampf Steinitz gegen Zukertort vereinbart. Sieger sollte sein, wer zuerst sieben Partien für sich entscheiden konnte. Der Wettkampf dauerte vom 6. August bis zum 5. September und wurde wiederum in London ausgetragen. Steinitz gewann die ersten beiden Partien, die nächsten zwei gingen unentschieden aus. Dann folgten wieder zwei Siege für Steinitz und ein Remis, ehe Zukertort die erste Partie für sich verbuchen konnte. Das sollte aber auch sein einziger Sieg bleiben, denn von den nächsten vier Partien gewann Steinitz 3, so dass es am Ende 7:1 stand. 4 Partien waren unentschieden ausgegangen. Das hatten sich die Londoner Schachfreunde, die Zukertort mit dem Hintergedanken nach England geholt hatten, um Steinitz eine Niederlage beizubringen, sicher anders vorgestellt.
Bemerkenswert an der ganzen Geschichte ist, dass der „Romantiker“ Steinitz die Nr. 1 der Schachwelt geworden war. Er hatte nicht nur Anderssen, Zukertort und Blackburne geschlagen, sondern auch alle anderen starken Meister, die gegen ihn angetreten waren. Und das alles geschah im „romantischen“ Spielstil mit Gambits, tollkühnen Opfern und Königsangriffen. Dass er in Paris 1867 „nur“ Dritter und in Baden-Baden 1870 „nur“ Zweiter geworden war, soll einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Steinitz seine bis dahin gespielten Partien einer kritischen Analyse unterzog. Was dabei herauskam und welche Folgen dies hatte, soll Gegenstand eines gesonderten Beitrags sein. Eines jedoch sollten wir in diesem Zusammenhang nicht vergessen: Als Steinitz 1873 seinen Spielstil änderte, war er bereits 37 Jahre alt. Die meisten Großmeister haben in diesem Alter ihren Zenit bereits überschritten. Wäre Steinitz jung gestorben oder hätte sich vor dem Wiener Turnier von 1873 vom Schach zurückgezogen, so wäre er als Kombinationsspieler und typischer Vertreter des romantischen Schachs in die Schachgeschichte eingegangen.
Zum Glück sind uns viele Partien des „Romantikers“ Steinitz erhalten geblieben. Die MEGA Database von ChessBase enthält aus der Zeit von 1859 bis 1872 etwa 250 von ihm gespielte Partien!
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In vielen von ihnen sehen wir die typischen Eröffnungen jener Zeit wie Königsgambit, Evans-Gambit, Italienisch oder die Wiener Partie mit frühzeitigem f2-f4. Aber Steinitz spielte auch riskante Gambits mit Schwarz wie z. B. 1.e4 e5 2.Lc4 f5?!. Korrekte und unkorrekte Opfer, solide wie auch unsolide Angriffe und sogar Königsjagden über das ganze Brett kommen darin vor. In Partie 6 z. B. sehen wir, wie Steinitz mit Schwarz den gegnerischen König von g1 bis nach h7 lotst, um ihn dort mattzusetzen. Noch kurioser ist die freiwillige weiße Königswanderung auf vollem Brett von e1 bis nach a3 vor die eigenen Bauern in einer Partie gegen J. H. Zukertort (Nr. 8). Insgesamt zehn Partien habe ich ausgewählt und zwei davon kommentiert.