Studie der New York University: Eltern und Mentoren unterschätzen das Potenzial von Mädchen

von Tatiana Flores
10.10.2023 – In einer Studie haben Psychologen und Psychologinnen der renommierten New York University Auswirkungen des sogenannten "Gender Bias" im Schach wissenschaftlich untersucht und dabei festgestellt, dass Eltern und Mentoren die Fähigkeiten und das Potenzial junger Schachspielerinnen systematisch unterschätzen. | Bild: Logo der New York University

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Die Autoren und Autorinnen der Studie, die in voller Länge unter dem Titel "Checking Gender Bias: Parents and Mentors Perceive Less Chess Potential in Girls" veröffentlicht wurde, waren Sophie H. Arnold, Wei Ji Ma und Andrei Cimpian vom Fachbereich Psychologie der New York University, April H. Bailey vom Fachbereich Psychologie der University of New Hampshire und die NYU-Absolventin Jennifer Shahade (die als unabhängige Forscherin zur Konzeption der Studie beitrug).

Die Studie untersuchte das Vorhandensein und das Ausmaß von geschlechtsspezifischen Vorurteilen innerhalb der Schachgemeinschaft. Die Studie konzentrierte sich auf die Frage, ob Eltern und Mentoren Vorurteile gegenüber Schachspielerinnen haben, die sie direkt kennen (z.B. Töchter, Schwestern, Nichten usw.). Die zu diesem Zweck befragten Erwachsenen waren Eltern und Betreuer und Betreuerinnen von Schach spielenden Kindern, die Mitglieder des US-Schachverbands sind. Die Teilnehmer wurden gebeten, ihre Kinder (Eltern) bzw. ihre Schützlinge (Betreuer und Betreuerinnen) auf verschiedenen Ebenen zu bewerten, die von Potenzial und angeborenen Fähigkeiten bis hin zu der Frage reichten, wie viel Geld und Ressourcen sie bereit wären, für die schachliche Entwicklung ihrer Kinder auszugeben.

Das Team befragte 286 Teilnehmer und Teilnehmerinnen, von denen 90,6% Männer waren. Die Studie weist darauf hin, dass die Stichprobe von Müttern und weiblichen Trainern zu klein war, um sie getrennt zu betrachten - wahrscheinlich "eine Widerspiegelung der allgemeinen Unterrepräsentation von Frauen im Schach", so die Autoren und Autorinnen der Studie. Die Eltern und Mentoren wurden vom Schachverband der USA rekrutiert. In der zur Verfügung gestellten Umfrage wurden sie gebeten, ihre Einschätzungen von und ihr Engagement für in etwa 650 jugendliche Spieler und Spielerinnen abzugeben. Eltern und Trainer wurden auch gefragt, "ob sie glauben, dass Talent im Schach Brillanz erfordert". (Ein Kriterium, das Cimpian und seine Kollegen in der Vergangenheit erfolgreich zur Identifizierung von Stereotypen und geschlechtsspezifischen Vorurteilen in akademischen Bereichen verwendet haben.)

"Diese Überzeugungen sind wahrscheinlich sowohl für Mädchen, die bereits Schach spielen, als auch für solche, die es gerne spielen wollen, schädlich: Würden Sie etwas tun wollen, bei dem Ihr Potenzial von Ihren Eltern und Trainern herabgestuft wird, bevor Sie überhaupt angefangen haben?" fragt die ehemalige US-Schachmeisterin Jennifer Shahade rhetorisch in der offiziellen Veröffentlichung der NYU-Studie."

Die Studie verweist auf das fiktionale Phänomen der weiblichen Schachspielerin Beth Harmon in der Netflix-Miniserie "The Queen's Gambit", die 2020 unglaublich populär war und Schach in den Mainstream brachte. "Während es inspirierend ist, eine fiktionale Frauenfigur in einem von Männern dominierten Gebiet gewinnen zu sehen, bleiben Frauen in der realen Welt im Schach unterrepräsentiert", schreibt Sophie Arnorld, Doktorandin an der NYU und Hauptautorin der Studie. Sie erklärt weiter, dass die Studie - veröffentlicht im "Journal of Experimental Psychology: General" - das Ziel hatte, mögliche Gründe dafür zu herauszufinden. Das Ergebnis wird für die meisten erfahrenen Schachspielerinnen wahrscheinlich keine Überraschung sein: Eltern, Trainer und Trainerinnen haben Vorurteile gegenüber Jugendspielerinnen und unterschätzen so deren Potenzial. Zugleich sind sich diese Eltern, Trainer und Trainerinnen über den Schaden, den sie damit bei den Mädchen in ihrem eigenen Umfeld anrichten, absolut nicht im Klaren."

Eine Grafik, die die Ergebnisse der Einschätzung des Schachinteresses von jungen Spieler und Spielerinnen zeigt. | Mit freundlicher Genehmigung von Sophie Arnold, NYU.

Während sich frühere wissenschaftliche Beobachtungen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden im Schach vor allem darauf konzentrierten, ob die Überrepräsentation von Männern unter den besten Spielern auf geschlechtsspezifische Unterschiede zurückzuführen ist, die sich auf ihre Spielleistung auswirken, haben weitaus weniger Arbeiten untersucht, wie strukturelle Faktoren wie Voreingenommenheit und Diskriminierung (die von weiblichen Spielerinnen am häufigsten genannten Gründe für die Aufgabe des Schachspiels) zur Unterrepräsentation von Frauen im Schach beitragen. Beispielsweise wurde die Rolle der Führung durch Erwachsene weitgehend vernachlässigt, sagen die Psychologen. "Diese Forschungsrichtung kann dazu führen, dass die Überrepräsentation von Männern im Schach als ein 'Mädchen- und Frauenproblem' und nicht als ein 'Schachproblem' angesehen wird", betont Arnold. Aus diesem Grund baute das NYU-Team seine Studie auf zuverlässigen früheren Forschungen auf, die "die erste groß angelegte quantitative Untersuchung der Hindernisse darstellen, mit denen Mädchen und Frauen im Schach konfrontiert sind". Die Studie untersuchte auch, ob Eltern und Mentoren ein voreingenommenes Umfeld gegenüber jungen Schachspielerinnen wahrnehmen oder nicht.

Die Grafik zeigt, wie die Studienteilnehmer und -Teilnehmerinnen das Potenzial von Jugendspielerinnen und -Spielerinnen eingeschätzt haben. | Quelle: Sophie Arnold, NYU.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie:

  • Die Vorurteile gegenüber den Mädchen wurden bei einer Reihe von Maßnahmen bestätigt.
  • Eltern, Betreuer und Betreuerinnen schätzen Jugendspieler positiver ein als  Jugendspielerinnen.
  • Eltern, Trainer und Trainerinnen von jugendlichen Schachspielern und Schachspielerinnen sorgen dafür, dass das höchste potenzielle Rating von Jungs im Durchschnitt höher eingeschätzt wird als das von Mädchen.
  • Mentoren und Mentorinnen, die glauben, dass "Brillanz" erforderlich ist, um gut im Schach zu sein, sind davon überzeugt, dass ihre weiblichen Schützlinge eher als ihre männlichen Schützlinge wegen mangelnder Fähigkeiten aufhören würden, Schach zu spielen: Brillanz = männliche Stereotypen.
  • Trainer, Trainerinnen und Eltern glauben nicht, dass Mädchen im Schach ein weniger förderliches Umfeld vorfinden als Jungen und dass Mädchen deshalb eher mit dem Schach aufhören (= blinder Fleck für Hindernisse, mit denen jugendliche Spielerinnen konfrontiert sind).
  • Alle befragten Trainer, Trainerinnen und Eltern erkennen nicht, dass ihre eigenen Überzeugungen ein Hindernis für den Erfolg von Mädchen im Schach sein könnten.
  • Bei der Messung des Engagements von Eltern, Mentoren und Mentorinnen in junge Spieler und Spielerinnen wurden keine Hinweise auf eine geschlechtsspezifische Verzerrung gefunden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die besprochene Forschung einen wichtigen wissenschaftlichen Einblick in das Phänomen gegeben hat, warum Frauen und Mädchen im Schach immer noch unterrepräsentiert sind. Es wurde untersucht, wie geschlechtsspezifische Vorurteile dazu beitragen, insbesondere wie "Erwachsene, die die Macht haben, die Schachkarriere von jungen Spielern zu lenken und die Motivation haben, die Fähigkeiten von jungen Spielern richtig einzuschätzen", ihre Vorurteile auf junge weibliche Spieler projizieren, was sich negativ auf ihr Potenzial auswirkt. Darüber hinaus wurden wertvolle Daten darüber gesammelt, "ob diese Voreingenommenheit durch die Überzeugung verstärkt wird, dass Brillanz erforderlich ist, um im Schach erfolgreich zu sein, und dass Männer im Schach brillanter sind als Frauen", und der Öffentlichkeit über das "Journal of Experimental Psychology: General" zugänglich gemacht. Die vollständige Studie ist hier verfügbar.

Die Ergebnisse der hier vorgestellten Studie zeigen deutlich, dass bereits sehr junge Schachspielerinnen aufgrund ihres Geschlechts mit Herausforderungen und Hindernissen konfrontiert sind, die männliche Spieler nicht haben. Die Beweise, die in dieser Studie präsentiert werden, weisen auf die dringende Notwendigkeit hin, "das Bewusstsein und die Bemühungen zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter" im Schachspiel zu erhöhen. Wenn wir diese Vorurteile erkennen und angehen, kann es uns gelingen, ein integrativeres und unterstützenderes Umfeld für Spielerinnen zu schaffen und langfristig das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern im Schach zu verringern", so die Schlussfolgerung der Studie "Checking Gender Bias: Parents and Mentors Perceive Less Chess Potential in Girls".

Die Autorin dieses Artikels bedankt sich bei der NYU und allen Beteiligten für das entgegengebrachte Vertrauen und die reibungslose Zusammenarbeit bei dieser Arbeit.


Tatiana Flores wurde 1998 in Andorra geboren und zog, als sie 14 war, mit Ihrer Familie nach Deutschland. Sie arbeitet als Schach-Journalistin, Dichterin und mehrsprachige Autorin. Sie begeistert sich neben dem Schachspielen auch für Literatur und Musik. Tatiana Flores, International Chess Journalist https://tatianaflores.de/en/home/