
Tal unter Drogen
Von Conrad Schormann
Bei der
Weltmeisterschaft in der Schweiz wird das Thema „Doping im Schach“ nicht erneut
hoch kochen. Dennoch dürften weiterhin alle Schachspieler dankbar sein, sollte
jemand ein (legales) Mittel gegen Müdigkeit und Erschöpfung finden.
Weltmeistertrainer Alexander Koblenz hat schon vor 47 Jahren auf diesem Gebiet
geforscht und sich dem Verdacht ausgesetzt, Michail Tal (Weltmeister 1960/61) zu
dopen.
Bei der 25.
Meisterschaft 1958 in Riga stand Tal doppelt unter Druck. Er trat an als
Titelverteidiger, und er spielte in Lettland, seiner Heimat, wo er bis heute
verehrt wird (und nicht nur da). Laut Koblenz fing sich sein Schützling beim bis
dahin wichtigsten Turnier seiner Karriere eine Grippe ein und trat geschwächt
an. Offenbar waren in den Augen des Trainers Kaffee und Koffeintabletten das
falsche Mittel gegen grippale Erschöpfung. Vor jeder
Partie überließ Koblenz daher seinen Meisterschüler der Obhut einer
Krankenschwester der Poliklinik. Die Gesundheitsfrau spritzte dem Schachmeister
einen Vitamincocktail, der Tal fit machen sollte für die Partie. Für den
22-jährigen Lokalmatador begann die Meisterschaft trotz Vitamindoping
bescheiden. Vor der Partie in der zehnten Runde, mit Schwarz gegen Anatoly
Bannik, hatte Tal 4,5 Punkte aus neun Runden gesammelt. Nach dem vermeintlichen
Vitaminpieks setzte sich Tal ans Brett und überraschte den „recht starken, aber
leicht schablonenhaft denkenden Gegner“ (Koblenz) mit der Französischen
Verteidigung. Am nächsten Tag
stellte sich heraus, dass die Krankenschwester Tal die falsche Spritze
verabreicht hatte. Statt Vitaminen hatte sie ihm vor der Partie das Schlafmittel
Nembutal gespritzt, eines der Mittelchen, die Marilyn Monroe ins Jenseits
befördert haben. Mit einem famosen Endspurt gewann Tal trotz dieses
Missgeschicks die 25. Meisterschaft der UdSSR.
Erschöpft
fühlten sich die Herren Leko und Kramnik nach der umkämpften ersten Partie – das
sei ein Grund gewesen für das schnelle Remis in der zweiten, das beide in der
anschließenden Pressekonferenz umständlich rechtfertigten.
Koblenz
berichtet in seinen Erinnerungen („Schach lebenslänglich“), wie er seinen
Schützling bei der 24. UdSSR-Meisterschaft 1957 in Moskau immun gegen Müdigkeit
machte. Ging Tals Partie in die vierte Stunde, reichte ihm Koblenz eine
Koffeintablette, und seine Frau brachte ihm Kaffee. Tal gewann die mit Abstand
bestbesetzte Landesmeisterschaft der Welt. „Der Beginn seines glanzvollen
Aufstiegs“, schreibt Koblenz, der das Tuscheln im Turniersaal hinnahm. Die
anderen Teilnehmer sollen wegen des Tablettenrituals angenommen haben, „dass ich
meinem Schutzbefohlenen heimlich ein Doping gebe“.
Nach dem dreißigsten Zug bemerkte ein anderer Sekundant, dass Tal „schwankt wie
ein Mondsüchtiger“: „Gleich schläft er ein.“ Tal blieb zwar wach, schwankte aber
weiter, und die Stellung entglitt ihm spätestens nach einem Fehler im 36. Zug.
Die Partie wurde in Verluststellung abgebrochen.