Immer wieder überraschend: Tals Blick für Taktik

von Johannes Fischer
08.10.2018 – Mihail Tal war ein begnadeter Taktiker. Er sah Kombinationen, die kein anderer sah und bei vielen seiner Opfern scheinen die Regeln über den Wert der Figuren aufgehoben zu sein. Tal starb am 27. Juni 1992 und seine schönsten Partien sind mittlerweile Klassiker. Aber wenn man in alten und neuen Büchern blättert oder sich Tals Partien auf dem Computer anschaut, verblüfft sein taktischer Scharfblick immer wieder.

Master Class Band 2: Mihail Tal Master Class Band 2: Mihail Tal

Dorian Rogozenco, Mihail Marin, Oliver Reeh und Karsten Müller stellen den 8. Schachweltmeister und seine Eröffnungen, sein Verständnis der Schachstrategie, seine Endspielkunst und nicht zuletzt seine unsterblichen Kombinationen in Videolektionen vor.

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Ein Beispiel

Mihail Tal gegen Arthur William Feuerstein, Stuttgart 1958 (Simultan)

 

Weiß hatte soeben 14.g5 gezogen, um den schwarzen Springer von f6 zu vertreiben. Schwarz spielte jetzt 14...hxg5 15.hxg5 Txh1?

 

Die meisten Spieler hätten hier wahrscheinlich ohne lange nachzudenken den Turm mit 16.Txh1 zurückgenommen, denn wenn Weiß mit 16.gxf6 den Springer auf f6 nimmt, schlägt Schwarz den weißen Turm auf d1 mit Schach. Danach nimmt Schwarz auf f6 und behält eine Qualität mehr. Aber Tal hatte tiefer gerechnet. Er spielte:

16.gxf6! Txd1+ 17.Sxd1 Dxd2 18.fxg7!

 

Schwarz hat die weiße Dame geschlagen und was liegt näher, als jetzt die schwarze Dame zu nehmen? Aber Weiß verzichtet auf das automatische Schlagen und spielt stattdessen einen weiteren Zwischenzug – und der entscheidet die Partie. Denn nach 18.fxg7 droht der weiße Freibauer auf g7 zur Dame zu gehen und Schwarz mit 19.g8D# Matt zu setzen. Das Matt kann Schwarz verhindern, aber den Bauern aufhalten kann er nicht. Weiß steht auf Gewinn.

In der Partie folgte noch 18...Kd8 19.g8D+ Kc7, aber nach 20.Dxc8+ Kxc8 21.Lxd2 gab Schwarz auf.

Die meisten Schachspieler wären froh, eine solche Kombination in einer Partie mit klassischer Bedenkzeit zu finden. Tal hat sie in einer Simultanpartie gesehen!

Ein Blick in die ChessBase MegaDatabase verrät, dass Albin Pötzsch diese Kombination 1994 in der Zeitschrift Schach vorgestellt hat, aber neu entdeckt hat dieses Beispiel Talscher Kombinationskunst der slowakische Großmeister Jan Markos in seinem 2018 bei Quality Chess erschienenen Buch Under the Surface.

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Markos wurde am 2. Juli 1985 in Banksá Bystrica in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren. Im Jahr 2000 gewann er die Jugendeuropameisterschaft U16, später hat er in Prag Philosophie und Evangelische Theologie studiert. In Under the Surface lädt Markos mit originellen Ideen dazu ein, einen neuen Blick auf das Schach, schachliches Denken oder Schachtraining zu werfen. Seine Ideen illustriert der slowakische Großmeister mit gut ausgewählten Partien und Stellungen, ungewöhnlichen Vergleichen und einprägsamen Geschichten.

Markos hat Spaß am Schach, und den möchte er teilen. Im Vorwort seines Buches schreibt er: "Dieses Buch lädt dazu ein, Schach in seiner Tiefe zu studieren. Es lädt Sie unter die Oberfläche ein. Ich möchte Ihnen zeigen, wie ein starker Spieler Schach versteht, worauf er sich konzentriert und wie er über eine Stellung denkt. Etwas zu verstehen bedeutet reine Freude, und diese Freude möchte ich mit ihnen teilen."

Ein anderes Beispiel für Tals scharfen taktischen Blick zeigt Trainerlegende Mark Dvoretsky in seinem 1992 erschienenen Buch Secrets of Chess Tactics:

Tal – NN, Riga 1958, Uhrensimultan

 

In dieser Stellung liegt die Fortsetzung 18.Sxf7 auf der Hand. Aber wie geht es nach 18...Kxf7 19.Dxe6+ Kf8 weiter? Kann Weiß den Angriff erfolgreich fortsetzen, und wenn ja, wie?

Bei seinen Vorausberechnungen entdeckte Tal hier den paradoxen Läuferrückzug 20.Lc1!!. Weiß droht jetzt 21.Tf3+ Lf6 22.La3+ und gegen diese Drohung hat Schwarz keine gute Verteidigung. Es folgte noch 20...Lf6 21.La3+ Te7 22.Te4 Ke8 23.Lxe7 Sxe7 24.d5 Lb5 25.d6! Ein stilvoller Abschluss der Partie. 25...Lxd3 26.d7+! Dxd7 27.Dg8#.

Wie Dvoretsky schreibt, fand Arthur Jussupow, Dvoretskys wohl bekanntester Schüler, später noch eine andere Möglichkeit zum Sieg. Sie ist direkter als der Läuferrückzug nach c1, aber genauso effektiv:

20.Lxe7 Txe7 21.Tf3+ Ke8 22.Df7+ Kd7 23.Txe7+ Sxe7 (23...Dxe7 24.Lxd5) 24.De6+ Ke8 25.Tf8+! Kxf8 26.Df7#.

Wer Tals phantastische Opfer und seine taktischen Fähigkeiten verstehen und genießen will, findet auf der ChessBase Masterclass über Tal reichlich Material. Die DVD enthält Analysen der verschiedenen Aspekte von Tals Spielstil, alle bekannten Partien von Tal – viele davon analysiert – und ausgewählte Kombinationen, mit denen der Leser sein taktisches Können testen kann.

Master Class Band 2: Mihail Tal

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Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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