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1970 veröffentlichte der 1914 geborene deutsche Schriftsteller Arno Schmidt sein Hauptwerk Zettel’s Traum, ein sprachlich und formal kühnes Werk. Es bestand aus 1334 mit Schreibmaschine und mit Hand beschriebenen DIN-A3-Seiten und war von zahllosen Quellen, aber vor allem von Schmidts Auseinandersetzung mit James Joyce, Sigmund Freud und Edgar Allan Poe inspiriert.
Doppelseite der Erstausgabe von Arno Schmidts Zettel's Traum | Foto: Klaus Bailly | Quelle: Wikipedia
Von der Erstauflage erschienen 2000 Stück, zu einem Preis von 345 Mark pro Buch. Schmidt, der damals mit seiner Frau Alice in einer 50 qm großen Wohnung zurückgezogen in dem kleinen Ort Bargfeld in der Lüneburger Heide lebte, hatte über zehn Jahre an seinem Mammutwerk gearbeitet. Mit fanatischer Monomanie, wie Alice Schmidt später berichtete:
"Keine Spaziergänge mehr - kein Sitzen im Garten - kein Sonntag - kaum die Möglichkeit eines Gespräches : Auf Fragen nur abwesend nervöse Antworten : bestenfalls. - In ständigem Gemurmel, wortprobierend, bewegten sich seine Lippen. Völlige Vernachlässigung der eigenen Gesundheit. Völlige Gleichgültigkeit gegen alles, was nicht ZT betraf. Er nahm von keinem Brief Kenntnis. Schrieb keinen: jahrelang." (Zitiert in Stephan Wackwitz, "Arno Schmidts Zettel’s Traum: Neuentdeckung eines Dinosauriers", taz, 10.11.2010)
Das Wohnhaus von Arno und Alice Schmidt | Foto: Sören Brandes | Quelle: Wikipedia
Bis heute spaltet das monumentale Werk die Geister. Manche halten es für einen Geniestreich, der die deutsche Sprache und Literatur erneuert hat, andere spotten über "Schmidts verzetteltes Trauma".
Schmidt war lange leidenschaftlicher Schachspieler und das von Alice Schmidt geschilderte Verhalten ihres Mannes bei seiner Arbeit an Zettel's Traum erinnert an Schachspieler, die gerade ein wichtiges Turnier spielen oder komplizierte Eröffnungsvarianten analysieren. Aber wahrscheinlich dachte Schmidt nicht an das Schach, als er den Begriff "SMadness" prägte, den man auf Seite 1196 von Zettel’s Traum entdecken kann.
Doch Michael Ehn, Wiener Schachhistoriker und Autor von mehr als einem Dutzend Bücher zur Schachgeschichte, und Ernst Strouhal, der in Wien an der Universität für angewandte Kunst lehrt und Autor bzw. Kurator mehrerer Bücher und Ausstellungen zum Thema Spiel ist, erinnerte dieses Kunstwort von Schmidt an das Schach und so entschieden sie sich, es als Titel für ihr kürzlich erschienenes Buch SMadness – Von Schönheit und Schrecken des Schachs zu verwenden.
SMadness versammelt 180 Kolumnen, die von Schachspielern, Schachspielerinnen, berühmten Partien, wunderbaren Studien und kniffligen Schachproblemen erzählen und dabei immer wieder zeigen, was Schach mit Mathematik, Kunst, Literatur, Musik, Philosophie und vielem anderen verbindet. In der Einleitung mit dem Titel "Über Schach & die Welt & und das Buch & alles andere", der an Schmidt & seine eigenwillige Art, das "und" zu verwenden, erinnert, schreiben Ehn und Strouhal über den Begriff "SMadness":
"[E]in Wort, das gleichzeitig lesbar ist als Verrücktheit und Melancholie. Wie kein anderes charakterisiert es in idealer Weise auch das Schachspiel: Es vermittelt die Simultaneität von Überschwang und Traurigkeit, es ist gefährliche Leidenschaft und pure Freude, in manchen Lebenslagen Trost, in anderen Droge" (S.7)
Die in dem Buch versammelten 180 Kolumnen, die Ehn und Strouhal im Laufe von 30 Jahren in einer Reihe von Schachzeitschriften und vor allem im Wiener Standard veröffentlicht haben, laden zu einem zwanglosen und unterhaltsamen Spaziergang durch die bunte Welt des Schachs ein. Sie behandeln die Entstehung und die Geschichte des Spiels und erzählen von bekannten Schachspielern und prominenten Persönlichkeiten wie Alexander Aljechin, Adolph Anderssen und Ulf Andersson, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, James Joyce, Janis Joplin, Ernst Jünger, Bobby Fischer, Sigmund Freud, Gustave Flaubert, Boris Spassky, Mr. Spock und Bugsy Siegel, Charlie Parker, Fernando Pessoa, Dizzie Gillespie und Anish Giri, um nur ein paar zu nennen.
Man erfährt unter anderem, dass Ernst Jüngers Vater gut und stark gespielt hat und Jünger selbst Schachunterricht von Gersz Rotlewi erhielt, dem Verlierer der berühmten Partie Rotlewi – Rubinstein, dass Gustav Meyrink, Autor von Der Golem, einem Klassiker der phantastischen Literatur ein leidenschaftlicher Schachspieler war, und was die Bücher von James Joyce und Gustave Flaubert mit dem Schachspiel verbindet.
Gustav Meyrink | Foto: Wikipedia
Doch wie Ehn und Strouhal in der Einleitung schreiben, haben sie sich bei aller oben aufgezählten Prominenz in ihrer
"Darstellung eher auf die Hinterhöfe des Spiels konzentriert – einerseits weil sie weniger beleuchtet wurden, andererseits weil dort erfahrungsgemäß die interessanteren Geschichten erzählt werden. Sie handeln zum Beispiel vom Schicksal des Wiener Taxichauffeurs, Gewichthebers und Boxers Hermann Bermadinger, der sich spät in seinem Leben das Ziel setzte, Großmeister zu werden (und natürlich scheiterte); sie handeln von Trinkern wie James Mason, und von Menschen, die sich ihre Freiheit nehmen. … Erzählt wird vom Überschreiten der Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn, vom Überleben reisender Spieler, von den Politiken des Spiels und – nicht zuletzt – vom Kampf der Geschlechter."
Jede Kolumne besteht aus einer Geschichte und einer kurz und unterhaltsam kommentierten Partie. Manche dieser Partien sind bekannte Klassiker der Schachliteratur, viele hingegen Entdeckungen.
Der Titel SMadness klingt düster, aber es macht Spaß, die hier präsentierten Geschichten zu lesen – wegen der dramatischen und ungewöhnlichen Biographien vieler Schachspieler, an die hier noch einmal erinnert wird, aber auch und vor allem, weil Strouhal und Ehn die Kunst beherrschen, in wenigen Absätzen prägnant zu erzählen und geschichtliche Ereignisse und kulturelle Zusammenhänge anschaulich auf den Punkt zu bringen und ihren Bezug zum Schach darzustellen.
Auf eine strenge Anordnung der Geschichten und der Themen, die in ihnen behandelt werden, haben Strouhal und Ehn verzichtet. Doch die Vielfalt der Themen und der erzählten Schicksale von Schachspielern und Schachspielerinnen aus mehreren Jahrhunderten und unterschiedlichen Kulturen sorgen für einen unsystematischen, spielerischen und inspirierenden Einblick in Schachgeschichte und Schachkultur.
Zu der Freude am Buch trägt auch das sorgfältige Lektorat von Andreas Deppe bei. Deppe war selbst leidenschaftlicher Schachspieler und ist leider kurz nach Erscheinen von SMadness gestorben.
SMadness – Von Schönheit und Schrecken des Schachspiels
Von Michael Ehn und Ernst Strouhal
Album Verlag, Wien 2022, 608 Seiten
Grafik: Michael Karner, Nina Sponar
In Kooperation mit der Universität für Angewandte Kunst, Wien
Preis: 36 Euro
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