Unter der Lupe: Alireza Firouzja in Wijk

von Thorsten Cmiel
12.02.2021 – Alireza Firouzja, weltstärkster Junior, gilt vielen als Kronprinz von Magnus Carslen für den Weltmeisterthron. In Wijk aan Zee spielte er um den Turniersieg mit. Am Ende hat es nicht ganz gereicht. Thorsten Cmiel nimmt Firuzjas Auftritt beim Tata Steel Turnier unter die Lupe. | Foto: Tata Steel Chess

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Alireza Firouzja in Wijk 2021

Das Turnier in Wijk an Zee ist das traditionsreichste Ereignis, das sich diesmal zum dreiundachtzigsten Mal jährte. Jedes Jahr spielen hier einige der besten Spieler der Welt mit hoffnungsvollen Youngstern, normalerweise in zwei Gruppen, aber in diesem Jahr war es anders und nur das Masters konnte stattfinden. Wijk bietet in jedem pandemiefreien, also normalen Jahr ohnehin wenig Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung,

In 2021 war es sogar noch etwas langweiliger, da die Spieler zwischen den Runden in Wijk noch weniger tun konnten als sonst. In seinem einzigartigen Reportagestil beschreibt Ulrich Stock seine Eindrücke in diesem Jahr.

Maxime Vachier Lagrave, kurz MVL, scheint vor allem das Essen gehen in Restaurants während der 25 Tage in weitgehender Isolierung vermisst zu haben.

Zu den Höhepunkten gehören für Zuschauer die Interviews mit den Spielern nach den Partien. In einem Jahr beispielsweise befragte ein Interviewer Adhiban Baskaran nach der Berechnung einer längeren Variante, ob er die Folgen sämtlich vorausgesehen habe. Er habe nichts Besseres zu tun in Wijk, so die coole Antwort des Inders. 

Viel Zeit am Brett

Zu den Besonderheiten in Wijk gehört, dass Schach hier in entschleunigter Kadenz gespielt wird: Es gibt zwei Zeitkontrollen, nach vierzig und nach sechzig Zügen. Aber selbst in Wijk kann man sich dem Zeitgeist nicht komplett entziehen. In diesem Jahr fand letztlich die finale Tiebreak-Partie als Armageddon zwischen den beiden führenden Spielern aus den Niederlanden statt. Das war ein Bisschen als würden die Organisatoren in Wimbledon den fünften Satz im Finale durch einen Tiebreak entscheiden lassen, statt an einer verbliebenen Tradition festzuhalten, denn der Sieger muss dort mindestens zwei Spiele vorne liegen.

Tata Steel Chess 2021

Im Vorjahr hatte Alireza in Wijk die Welteelite bereits erstmals aufgeschreckt durch seinen kompromisslosen Stil und seine hohe Zahl an entschiedenen Partien (acht aus 13). Alireza war trotz einer empfindlichen Niederlage gegen Wesley So nach dem Start bei Plus Drei. Dann allerdings verlor er hintereinander gegen Magnus Carlsen, Fabiano Caruana und Vishwanathan Anand. Lehrgeld.

Man durfte also gespannt sein, wie die nächste Ausgabe für Alireza laufen würde. Tatsächlich begann das Turnier mit zwei Schwarzpartien gegen Magnus und Maxime und das war kein Nachteil wie sich herausstellen würde: Alireza zeigte in Wijk 2021 kaum Interesse an der Eröffnungsfeinheiten; mit Weiß wirkte sein Aufschlag keineswegs wie ein Anzugsvorteil. Als Beleg dafür seien zwei Momente aus den Partien gegen Esipenko und Caruana erwähnt.

Firouzja-Esipenko 2021

 

Firouzja-Caruana 2021

 

Alirezas Eröffnungsspiel wurde zum totalen Kontrast zu der Herangehensweise der beiden Niederländer im Turnier. Sowohl Anish Giri als auch der spätere Sieger Jorden von Foreest versuchten aus der Eröffnung heraus Nadelstiche zu setzen und möglichst in Vorteil zu kommen. Der eindrucksvollste Start-Ziel-Sieg gelang dabei Jorden van Foreest gegen Nils Grandelius in der Schlussrunde, als er dessen Najdorf-Sizilianer scheinbar zerstörte.

Vielleicht ist die gute Vorbereitung niederländischer Spieler den großen Vorbildern Max Euwe und Jan Timman geschuldet.

Van Foreest - Grandelius 2921

 

Alireza: Typische Stellungen

Beantworten wir zunächst die Frage, ob bei Alireza bereits in jungen Jahren ein bevorzugter Stellungstyp erkennbar ist. Wer sich mit Partien des gebürtigen Iraners auseinandersetzt, der wird immer wieder entdecken, dass Alireza vor allem das Spiel mit vielen Leichtfiguren mag und anstrebt. Zum Zweck der Illustration schauen wir uns zunächst drei ältere Partien von Alireza an. Zwei davon gegen ein anderes Top-Talent, Praggnanandhaa, kurz "Pragg".

Der Inder ist Jahrgang 2005 und zwei Jahre jünger als Alireza. Die dritte Partie ist die erwähnte Niederlage aus dem Vorjahresturnier und von Wesley So kommentiert. Er wählte gegen Alireza bewusst nicht den Königsbauern, da Najdorf dem Stil von Alireza entgegenkäme. Inzwischen hat dieser sein Repertoire deutlich erweitert und spielte 2021 zweimal Caro-Kann, einmal klassischen Sizilianer und einmal Französisch gegen den Königsbauern. Das macht es den Weißspielern schwierig, zumal Alireza inzwischen sogar die Berliner Mauer gespielt hat.

Pragg – Alireza 2017

 

Dieses frühe Aufeinandertreffen der angehenden Superstars war geprägt durch einen typischen Kampf in einem komplexen Sizilianer. Beide Spieler zeigten sich lange Zeit auf der Höhe, aber im späteren Verlauf ließ der jüngere Spieler etwas nach und verlor. Interessant war zudem, dass Alireza mit 14 Jahren bereits positionell fundiert agierte und vom Spielstil her sehr erwachsen keine Eile erkennen ließ, nachdem er das Kommando der Partie übernommen hatte.

Pragg – Alireza 2019

 

Dieses erneute Aufeinandertreffen der beiden Talente fand vor über anderthalb Jahren bei der asiatischen Kontinentalmeisterschaft statt. Wir sehen wie Pragg dem Iraner unangenehme Fragen stellt, dieser jedoch mit Kreativität antwortet und eine stark gefährdete, hochkomplizierte Stellung letztlich rettet. Das Brett war voller Leichtfiguren und ein Fest taktischer Abhängigkeiten von Figuren. Auffällig ist erneut, das bewegliche, weit vorgerückte Bauernduo am Königsflügel. Es fällt gar nicht auf, dass Alireza einen Bauern weniger hat. Es ist typisch für seinen Spielstil: Bauern sind zum Opfern auf dem Brett. Qualitäten übrigens ebenfalls.

So – Alireza 2020

 

Der Gegenentwurf. Wesley So legte seine Partie gegen Alireza bewusst ruhig an und gewann ein Endspiel in dem sich sein Läuferpaar gegen die Kombination Läufer-Springer durchsetzte. Ein ungeduldiger Bauernvorschub nach e4 begründete die Niederlage des gebürtigen Iraners, der unter neutraler FIDE-Flagge antritt.

Wie lief es also?

Im Schnitt dauerten Alirezas Partien in Wijk 2021 etwa 50 Züge. Verschaffen wir uns zunächst einen Gesamtüberblick über seine Stellungen jeweils mit Weiß (6) und mit Schwarz (7). Dazu können zwei Bilder vergrößert werden.

Dargestellt sind die Stellungen zur Halbzeit, jeweils vor Alirezas 20. Zug und sortiert nach ihrem Auftreten im Turnier. Der 20. Zug markiert meist das frühe Mittelspiel. Auffällig ist, dass es Alireza mit Schwarz besser gelungen ist, „seine“ Stellung auf das Brett zu bekommen. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel: Mit seinem Versuch gegen Anish Giri, auf die Französische Verteidigung zurückzugreifen, war Alireza gescheitert.

In den folgenden Dateien wurden einige wichtige Mittelspielmomente im Sinne des Untersuchungsthemas beleuchtet, diesmal in chronologischer Reihenfolge. Es gab zudem einige wichtige Momente in Endspielen, bei denen ich gerne und dankenswerterweise auf Analysen von Karsten Müller zurückgreifen konnte.

Partien Weiß

 

Partien Schwarz

 

Als Fazit möchte ich festhalten: Die hier vorgestellte Methode des Betrachtens einer Turnierleistung und die zunächst visuelle Inaugenscheinnahme ist natürlich ebenso für den Eigengebrauch gut geeignet. Gelingt es einem Spieler, mir selbst, die gewünschten Stellungen – in denen man sich relativ am stärksten fühlt – zu erreichen? Woran hat es gelegen? Muss ich in Zukunft etwas anders machen? So oder so ähnlich könnten die Fragen lauten, die Spieler bei der Eigenanalyse stellen sollten.

Alireza hat offenkundig die Eröffnungsvorbereitung nicht sehr hoch gelegt. Zumindest mit Weiß war sein Spiel theoretisch betrachtet weitgehend zahnlos. Das kann eine Zeichen von zunehmendem Selbstbewusstsein sein, oder Konzentration auf andere Aspekte bei der Trainingsarbeit. Erkennbar war sein hoher Zeitverbrauch. Zumindest in der ersten Partie gegen Magnus Carlsen erwies sich das als entscheidender Nachteil, da er mit wenig Rest-Zeit eine wichtige Entscheidung treffen musste und daneben griff.

Grundsätzlich kann man sich die Frage stellen, wie hoch der Nutzen von ausufernder Eröffnungsvorbereitung ist, wenn am Ende die Spieler ihre „Notes“ vergleichen. Vielleicht wird der weitgehende Verzicht auf tägliche Eröffnungsduelle ein Markenzeichen beim künftigen Weltmeister sein. 

Aber Vorsicht: Das kann im nächsten Turnier schon wieder anders laufen und Alireza haut einige Verbesserungen im Najdorf-Sizilianer raus. Jedenfalls ist ein breites Repertoire und Spielen vieler Stellungstypen eine gute Vorbereitung für künftige Aufgaben.


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.

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