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Es ist eine der ersten Szenen im „Bauernopfer“-Film: Der junge Bobby Fischer will in seinem Zimmer nur in Ruhe die neuesten, in russischen Schachmagazinen veröffentlichten Turnierpartien studieren, doch das laute Gekicher seiner Mutter Regina im Nebenraum lenkt ihn zu sehr ab- sie ist beim Schäferstündchen mit einem Liebhaber, was Bobby ausrasten lässt: „Am besten, Du verschwindest hier“, blafft er sie an. So kam es dann ja auch: Die dynamische, alleinerziehende Regina Fischer hatte ihren Sohn zwar immer gefördert, aber sie zog aus ihrem Apartment in Brooklyn dann tatsächlich aus, um dem exzentrischen Wunderkind mit einem IQ von 181 einen auf seine Marotten zugeschnittenen Lebensstil zu ermöglichen. Von der Schule hielt Fischer nichts, der Monomane wollte sich nur auf die 64 Felder konzentrieren, die ihm die Welt bedeuteten. Aber bei den großen Turnieren gab es dann immer wieder Dispute mit den Organisatoren, weil Fischer sich von den Russen betrogen fühlte: Wie Petrosjan später zugab, hatten sie sich tatsächlich oft untereinander auf frühe Remisen vereinbart, um sich ihre Energien für harte Kämpfe gegen ausländische Spieler aufzusparen. Fischers Abbrüche bei einigen Turnieren waren durch diese Absprachen und Mauscheleien ausgelöst worden; aber seine kapriziösen Ideen und Alternativ-Vorschläge gingen dann auch vielen Spielern auf die Nerven, die ursprünglich mit dem Amerikaner sympathisierten. Welcher Spieler kann sich für ein normales Turnier schon einen Monat frei nehmen, wie es Bobby Fischer einmal für ein normales US-Turnier vorschlug? Selbst der gutmütige Bent Larsen schreibt in seinem Band „Alle Figuren greifen an“: „Warum sollte ihm denn eine Extrawurst gebraten werden?“
Die success-story bis zum Sieg gegen Spasski 1972 setzt sich im „Bauernopfer“ (Regie: Edward Zwick, Fischer: Tobey Maguire, Spasski: Liev Schreiber) aus markanten Episoden zusammen, die das Fischer-Enigma und die Genese einer massiven Paranoia illustrieren sollen. Eine dieser Szenen spielt während des Interzonenturniers am Strand von Santa Monica, wo sich Fischer nachts im Anzug in den Sand legte und erst beim Morgengrauen aufwacht. Er blinzelt verwirrt in die Sonne, blickt auf die Wellen und dort erscheint ihm ein aus den Fluten auftauchender Spasski, der von seinen Sekundanten mit ausgebreiteten Handtüchern empfangen wird. Auf Fischers aufgeregte, empörte Flüche und Rufe antworten die Russen nicht- dann bricht es aus ihm heraus: „Verfolgen Sie mich? Ich mache nichts allein! Du bist eine Marionette! Ich mache dich fix und fertig!“
Das zur massiven Konfrontation hochgejubelte Kalte-Kriegs-Szenario „Russen-Bär gegen Brooklyn-Wolf“, wie es die „New York Times“ vor der WM damals ausmalte, wurde von den Russen auch deswegen als bedrohlich empfunden, weil ihre Vormachtstellung ja plötzlich extrem fragil geworden war. Botwinniks aberwitziger Essay zur Überlegenheit der sowjetischen Schachschule dank marxistisch-leninistischer Prinzipien war zwar schon 1945 (Chess Review 13) erschienen, aber diese Sieger- Mentalität versuchten russische Spieler noch in den 1970er Jahren weiterhin zu internalisieren, obwohl ihre Turnier-Resultate immer dürftiger geworden waren. Beim großen Turnier Sowjetunion gegen den Rest der Welt gewann die Sowjetunion 1970 nur noch knapp mit einem Punkt Vorsprung (20,5:19,5). Wie Reuben Fine („Die Psychologie des Schachspiels“, 1972) meint, hatten die Ungarn sogar noch Rücksicht auf die Russen genommen: Der Ungar Portisch hatte vor einem möglichen Gewinnzug gegen seinen russischen Gegner den ungarischen Botschafter konsultiert und den Gewinnzug dann „übersehen“.
Im Spasski-Team hatten die Russen 1972 neben zwei Großmeistern und diversen Sekundanten auch einen Psychologen, dessen Aufgaben nie klar umrissen waren. „Er dürfte Spasski bei der Bewältigung der Situationen geholfen haben, in die er mit Fischer geriet“, schreibt Reuben Fine und fügt süffisant hinzu: „Offenbar ist dieser Versuch fehlgeschlagen“. Fine sieht in seinem Rückblick übrigens Spasski „aufgrund der sowjetischen Haltung zum Schach und zu den Schachmeistern“ unter einem stärkeren Druck als Fischer mit seinen „kindischen Eskapaden“. Fine, der Bobby ja gut kannte und bei vielen Matches erlebte, übernimmt Fischers Verdikt, das Schachspiel sei für die sowjetischen Meister „ein Beruf, dem sie von neun Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags nachgehen. Mit dem Herzblut sind sie nicht dabei“. Bobby dagegen war nicht nur mit dem Herzblut dabei- er brannte regelrecht.
„Bauernopfer“ zeigt die Irrungen/Wirrungen hinter den WM-Kulissen, Bobbys Lärmempfindlichkeit, das Zusammenzucken beim Surren der TV-Kameras, die schreckhafte Reaktion angesichts des Zuschauerlärms, seine neurotische Überwachungsphobie, die zum Herumschrauben an Telefonen führte. Der groteske Umzug der beiden WM-Kämpfer in ein kleines Kabuff, das gerade mal Platz für eine Tischtennisplatte bietet- das alles zeigt der Film ohne übertriebene Effekthascherei, realistisch und glaubwürdig und daher besonders wirksam. Grotesk-unrealistisch wirkt dabei nur das Hantieren der russischen Sekundanten im Nebenraum, die alle Partien an ihren Brettern mitverfolgen, dabei aber auch noch Schachuhren betätigen. Liev Schreiber ist ein zwischen Souveränität und panischer Angst vor den eigenen Bürokraten pendelnder, sehr überzeugender Spasski - in einem wunderbaren Moment offenbart er auch seine paranaoiden Attacken und zeigt nach einer demolierten Lampe, dass er tatsächlich überwacht wird und sich eigentlich mehr Sorgen um Verfolger und Geheimagenten machen müsste als Fischer.
Ein großer Moment des Films ist Spasskis Applaus nach der 6. Partie: Fischer hat mit einer gelungenen Kombination im sonst von ihm nie gespielten Damengambit nach 41 Zügen souverän gewonnen - und Spasski steht auf und applaudiert vor einem begeisterten Publikum. Zu solch einer noblen Geste war Fischer leider nie fähig gewesen. Toby Maguire zeigt einen getriebenen, gejagten Bobby, der zwischen introvertierter Nabelschau und exzessivem Größenwahn pendelt- er ist nicht nur auf der Suche nach dem richtigen Zug, sondern er sondiert in seiner Umwelt, um rechtzeitig auf der Hut zu sein. Misstrauen gehört zu seiner Natur- all das zeigt Maguire mit größter Sensibilität und Glaubwürdigkeit.
Die langjährige FBI-Bespitzelung wird im Film nur kurz angedeutet, was bedauerlich ist, weil die intensive Behörden-Überwachung ja nicht von Bobby imaginiert war. Das FBI hatte Regina und Bobby jahrelang überwacht und umfangreiche Akten über Mutter und Sohn wegen angeblicher „kommunistischer Umtriebe“ geführt. Die bestanden hauptsächlich darin, dass Regina in Moskau Medizin studiert hatte und Bobby stark daran interessiert war, an Turnieren in der damaligen Sowjetunion teilzunehmen.
Die politischen Dimensionen, die damals noch durch Interventionen von Kissinger und Nixon ausgeweitet wurden, als Bobby mal wieder an einen Abbruch dieses WM-Kampfes dachte und das Politiker-Duo von Washington aus den Spasski-Herausforderer zum Durchhalten motivierten, werden hier nicht allzu überhöht dramatisiert. Der Film rafft im Nachklapp Fischers groteskes, beschämendes Ende zu einer kurzen Bilanz zusammen: Verweigern der Titelverteidigung, Abtauchen in Pasadena, Mitglied einer obskuren Sekte, hochdotiertes Rematch 1992 gegen Spasski in Sveti Stefan und die großzügige Aufnahme der Isländer. Sie hatten den Wirrkopf Fischer, der das terroristische Nine-Eleven-Attentat in den USA bejubelte und den Holocaust leugnete, so fürsorglich verwöhnt, weil sie sich dem desorientierten Egomanen verpflichtet fühlten- er hatte das kleine Island ja schließlich auf der großen Weltkarte als globalen Brennpunkt einer illustren Elite aufleuchten lassen.
Bei genauem Hinsehen zeigt der Film, dass beide Protagonisten als Bauernopfer dargestellt werden sollen. Den egomanischen, unberechenbaren und häufig aggressiven Bobby sehe ich eigentlich nicht in einer Opferrolle. Er hat zu oft anderen seine eigenen Vorstellungen aufdrängen wollen, Abmachungen gebrochen und sich seinen Wahnvorstellungen überlassen. Keiner habe Bobby Fischer jemals richtig verstanden, meinte Bent Larsen in seinem Buch. Und er fügt in seinem ausführlichen Kapitel über Bobby Fischer hinzu: „ Aber warum sollte man das auch wollen ? Warum ergötzt man sich nicht einfach an seinen Partien?“ Der Film liefert die überzeugende Antwort: Weil es so ein außergewöhnliches, exzentrisches und kaprizises Talent wie Bobby Fischer bisher noch nicht gegeben hat. Weil ein sportlicher Wettkampf fast die ganze Welt sehr intensiv befeuerte und das Interesse am Schachspiel extrem beflügelte ? Ob die 64 Felder jedoch nur in Krisenzeiten einen größeren Stellenwert einnehmen als in diesen Internet-Zeiten, da man rund um die Welt online spielen kann, ist eine andere Frage. Eine Ost-West-Konfrontation am Brett dürfte heute jedoch kaum so stark polarisieren wie 1972 in Reykjavik.