Doch taugt das Schachspiel überhaupt als Sozialisations-Muster oder Allegorie des Lebens? Als John Healy, 1943 als Sohn irischer Einwanderer in London geboren, Alkoholiker, jahrelang obdachlos und wegen diverser krimineller Delikte mehrmals im Knast, im Pentonville-Gefängnis vom Knastbruder Harry "The Fox" das Schachspielen erlernte, war dies für ihn ein Erweckungserlebnis, das sein Leben grundlegend veränderte: "Schach ist ein eifersüchtiger Liebhaber und duldet keine Rivalen neben sich" schrieb er in seiner zuerst 1985 veröffentlichten Autobiografie "The Grass Arena", die nun auch als "Penguin New Classic" erschien.
Für ihn hatte das Spiel einen starken Suchtfaktor, den er bereitwillig akzeptierte, weil er beim Grübeln am Brett ziemlich unproblematisch vom Alkoholismus loskam. Als er im Januar in die großartige BBC- Radiosendung "Across the Board" mit vier anderen prominenten Schachspielern - darunter auch der ehemalige Boxweltweister Lennox Lewis - eingeladen wurde, bekannte er bei einer Partie gegen den Moderator Dominic Lawson: "Schach hat mein Leben verändert - ich war wie elektrisiert, brauchte keinen Alkohol mehr und wollte unbedingt Großmeister werden". Das schaffte er wegen der allzu großen nervlichen Anspannung zwar nicht, aber Healy spielte erfolgreich gegen bekannte Großmeister und kaprizierte sich sogar auf Blind-Simultanspiele. Im Biopic "Barbaric Genius" wurden die dramatischen Wendungen seines Lebens beschrieben, zu denen auch seine erfolgreiche Boxerkarriere während seiner Militärzeit gehörte, die mit seiner unehrenhaften Entlassung endete.
Filmplakat Barbaric Genius
Das große Faszinosum Schach bestand für Healy aus mehreren Faktoren: "Einen Plan entwickeln, alles im voraus berechnen und vorhersehen, das war einfach Wahnsinn! Den König killen, die Dame klauen, einige Bauern erobern, all das elektrisierte mich einfach, ich lebte nur noch für das Schach". Seine eigenen Defizite, die er am Brett reduzieren konnte, kannte der unangepasste Kämpfer genau: Eine aufsässige Haltung gegenüber Vorgesetzten und Autoritäten, Disziplinlosigkeit, Egoismus und die Ablehnung eigener Verantwortung. Die permanente soziale Ausgrenzung fraß an seinem Selbstwertgefühl, was er jahrelang mit delinquentem Verhalten kompensiert hatte. Aber am Schachbrett konnte er die meisten Schwächen beheben: Mit den ersten Siegen kam die Anerkennung der Peergroup und dann auch außerhalb der Gefängnismauern in den Vereinen. Nicht mehr die "instant gratification", die Spontanbefriedigung, das lernte er schnell, führte zum Ziel, sondern das geduldige Vorbereiten gut organisierter Attacken sowie die Zuversicht, dass ein guter Plan sich letztlich auszahlen würde.
John Healy
Diesen therapeutischen und gleichzeitig auch etwas theatralisch wirkenden Effekt des Schachspiels als "Lebensretter" hat nun auch Hollywood entdeckt: "Life of a King" heißt der auf einer wahren Geschichte basierende Film (Regie: Jake Goldberger), in dem Cuba Gooding Jr. den ehemaligen Bankräuber John Browne spielt, der im Gefängnis das königliche Spiel kennenlernt und sich nach seiner Entlassung als geläuterter Sozialarbeiter um Problem-Kids kümmert, die er von der Straße holen und zu sozial verantwortlichen, motivierten Mitbürgern machen möchte - in seinem "Big Chair Chess Club" mit seiner speziellen "Schachtherapie".
Schauspieler Cuba Gooding Jr (links) und der von ihm verkörperte Eugene Browne (rechts)
Ähnlich wie John Healy hatte auch Browne Schach als eine Art Allheilmittel entdeckt: Konzepte entwickeln, erst denken, dann handeln, Aggressionen gezielt kanalisieren und sublimieren, zu seinem anvisierten Plan stehen und Niederlagen ohne Wutausbruch wegstecken: All diese wichtigen Lektionen fürs Leben lernte der jetzt als Immobilienmakler tätige Browne am Schachbrett. Dass der Film nicht als langweiliges Moral-Märchen einschläfernd wirkt, liegt am dramatischen Konflikt, den Browne mit dem talentierten, aber völlig disziplinlosen und renitentem Spieler Tahime (Malcolm M. Mays) austragen muss: Der meistert zwar alle komplizierten Varianten und Kombinationen auf dem Brett, doch er kann keine Zukunftsperspektive für sich entwickeln und will weiter seine kriminellen Deals durchziehen: "Wer stellt denn schon einen vorbestraften Typen wie mich ein?" lautet seine defätistische Begründung. Aber das Motto "Schach der Resignation" obsiegt natürlich in diesem Film.
Schach als Therapie - das ist schon seit Jahren ein abendfüllendes Thema. Denn für fast alle Wehwehchen - ähnlich wie früher das Allzweckmittel "Klosterfrau Melissengeist" - scheint Schach heutzutage als Vademecum anwendbar zu sein. Der Arzt und GM Dr. Helmut Pfleger, der in mehreren Beiträgen im "Deutschen Ärzteblatt" diverse Studien und Therapie-Ansätze beschrieb, bei denen Schach im Mittelpunkt stand, bezeichnete sich dabei selbstironisch sogar als Prediger auf einem "Missionierungstrip" zur Verkündung der Wohltaten des königlichen Spiels.
ChessBase Autor Dr. Helmut Pfleger
Er ging auf eine spanische Studie ein, in der die Neuropsychologin Isabel de la Fuente die segensreiche Wirkung des Brettspiels für die Demenzverhütung und die Steigerung kognitiver Fähigkeiten nachwies (Vgl. Deutsches Ärzteblatt, 19.11.2010) und er erwähnte Versuche von Ärzten am Einstein College in New York, die erwiesen hatten, dass Schachspielen Morbus Alzheimer vorbeugt - mit körperlichen Aktivitäten allein wären ähnlich erfolgreiche Resultate nicht gelungen. Aufmüpfig wurden immerhin einige deutsche schachresistente Probanden, die bei einem Versuch zur Behandlung von ADHS-Symptomen (hyperaktives Zappeln, Impulsivität, Konzentrationsschwächen) und dem Erlernen sozialer Kompetenzen (Antizipieren der Absichten des Partners, Ertragen von Niederlagen usw.) vor ein Schachbrett gesetzt wurden und sich beim Spiel in Ruhe auf eine Partie konzentrieren sollten. Bei einigen Teilnehmern führte das tatsächlich zum Erfolg, doch andere protestierten im Blog "ADHS-Spektrum": Schach...puh! Dafür habe ich definitiv keine Geduld! Das ewige Warten, bis der Gegenspieler fertig überlegt hat, eine Qual!" Ein anderer Blogger bemerkte dazu: "Schach war mir zu demotivierend. Lieber Patiencen am PC. Man kann Patiencen (Solitaire) kaufen, bei denen man aussuchen kann, ob man Lösbare spielen möchte und welche Schwierigkeitsstufe. Das ist sehr motivierend! Weil man sich steigern kann, weil man lernt, ein Spiel immer wieder neu zu beginnen, bis man es endlich schafft".
Ist Schach vielleicht auch ein wirksames Mittel gegen Depressionen? Eine vom Schachklub Langen betreute Gruppe psychisch Kranker spielte im Frühjahr 2011 einmal wöchentlich regelmäßig Schach und nahm das von der Asklepios-Klinik für Psychische Gesundheit arrangierte Angebot mit großem Interesse an - aber inwieweit die Depressionen tatsächlich langfristig therapiert werden konnten, lässt sich nicht überblicken. Die Erfahrungen mit der Schachgruppe beschrieb der für den Versuch zuständige Frank Schmitz als sehr vielversprechend, weil die Eigenverantwortung der Teilnehmer und ihre Motivation verstärkt und über den Schachverein soziale Kontakte neu geknüpft würden. Schon der amerikanische Psychiater und GM Reuben Fine, der von Bobby Fischers Mutter ja konsultiert wurde, als sie bei ihrem jungen Sohn eine extreme Fixierung aufs Schach und Symptome einer Verhaltensstörung entdeckte, weist in seinem Buch "Die Psychologie des Schachspielers" auf eine Studie des Psychologen Milton Gurvitz hin, der als Gefängnisarzt registriert hatte, dass schachspielende Straftäter nicht so häufig rückfällig wurden wie andere, die das Spiel nicht beherrschten. "Sie lernten offenbar, ihre Aggressivität besser zu handhaben", kommentiert Fine und folgert außerdem: "Auch die Ich-Stärke, die zum Schachspiel nötig ist, muß hier eine Rolle spielen". Man hätte sich als Leser noch konkretere Hinweise auf tatsächliche Veränderungsprozesse im Verhalten gefährdeter Schachspieler gewünscht, doch der hauptsächlich auf Penis-Symbole fixierte Alt-Freudianer Fine konzentriert sich in seinen abschweifenden, redundanten und auf hauptsächlich auf die eigene Selbstverherrlichung bedachten Bemerkungen meistens nur auf vage Anspielungen hinsichtlich sexueller Konnotationen oder er kapriziert sich auf paranoide Aspekte in den Biografien berühmter Schachmeister.
Dr. Reuben Fine, Psychoanalytiker und Großmeister, gehörte in den 30er Jahren zu den besten Spielern der Welt (Foto: Wikipedia)
Der Hamburger HSK-Schachtrainer und Leiter der Hamburger Schachschule Andreas Albers, 35, hatte von 2008 bis 2010 eine Gruppe 17- bis 22-jähriger Insassen - die meisten davon "schwere Jungs" - der JVA Hannöversand im Schach (wöchentlich zwei Stunden) unterrichtet. Der extrem locker und entspannt auftretende Andy Albers wollte nicht genau wissen, wer von ihnen besonders gewalttätig oder gefährlich war, er war gegenüber allen sehr offen und umgänglich und hatte den Eindruck, dass Schach als anspruchsvoller Zeitvertreib sehr willkommen war - mehr aber auch nicht. "Um irgendwelche charakterlichen Veränderungen zu registrieren, fehlten mir längere Zeiträume als Vergleichsmöglichkeit."
Das übliche Macho-Gehabe mit Einschüchterungsmechanismen, Gewaltexzessen usw. musste von den JVA-Insassen am Brett umgepolt werden; wichtig war nun das halbwegs ruhige Ertragen von Niederlagen, was eigentlich ziemlich unproblematisch gelang. Die Tendenz, für unterlaufene Fehler äußere Faktoren verantwortlich zu machen, war trotzdem auffällig: "Manche Spieler kamen mit der völlig ungewohnten Entscheidungsfreiheit, mit der Konzeption eigener Strategien und dem langfristig angelegten Durchziehen dieser Pläne nicht so richtig klar und wollten dann doch oft irgendwelche äußeren Störfaktoren für einen Partieverlust verantwortlich machen", erklärt Andy Albers. Auch wenn er die auf dem Brett ablaufenden Prozesse - von der Eröffnung und den Entwicklungszügen bis zum koordinierten Angriff und dem Endspiel - locker auf Vorgänge im normalen Leben übertragen kann, so will der sympathische Trainer die Allegorie Schach=Leben doch nicht überreizen. "Insgesamt überwiegen die positiven Erfahrungen mit dieser Schachgruppe, aber ich würde für eine abschließende Bewertung von Schach als Therapie-Methode den Ball doch eher flach halten. Die Gruppe war einfach froh, dass ich kein autoritärer Beamter war und ich mich gern mit ihnen beschäftigte - sie kamen so aus ihrer Zellen-Monotonie heraus und konnten nun eine interessante, herausfordernde Freizeitaktivität wahrnehmen. Aber niemand mutierte durch das Schachspiel zu einem neuen Menschen oder hatte plötzlich ein fundamentales Erweckungserlebnis." Eine Wiederbelebung dieser inzwischen eingestellten Schachförderung in Gefängnissen würde Andreas Albers jedenfalls mit Nachdruck unterstützen.