Nachdruck mit freundlicher Genehmigung
SCHACH BESSER ALS KINO
Heute schon an die Zeit nach Mexiko 2007 denken: Sieht so die WM der Zukunft
aus?
Zwei Wochen lang haben sie ihre altmodisch
gedrechselten Figuren über die Bretter geschoben: Viswanathan Anand, der
neue Champ der Champs, und seine Konkurrenten Wladimir Kramnik und Co.
während der Weltmeisterschaft 2007 in Mexico City. Aber vielleicht wird der
Modus, wie Titelkämpfe heute noch, im ersten Jahrzehnt des dritten
Millenniums, ausgefochten werden, späteren Generationen als rührend
antiquiert erscheinen. Kreative Geister arbeiten längst mit Hochdruck daran,
Schach für die Zukunft fit zu machen und dabei die spannenden Möglichkeiten
zu nutzen, die von der digitalen Technik bereitgestellt werden. Den bisher
radikalsten Vorschlag macht jetzt der kanadische Software-Spezialist DAVE
POTTER (58) aus Toronto: Ohne an den Basics zu manipulieren - die
Gangarten der Figuren und die bewährte Größe des Theatre of Operations
bleiben unverändert - , ist es dem IT-Berater gelungen, das für die meisten
Außenstehenden eher behäbige Schach in ein temporeiches Echtzeitspiel zu
verwandeln. Der Clou: Die Sicht auf das Feld wird eingeschränkt, der Spieler
erkennt nur diejenigen Einheiten der feindlichen Armee, die auch seine
Männer orten können; Maßstab ist dabei der Einwirkungsradius der eigenen
Leute. Damit wird die Sache richtig spannend: Jederzeit kann eine Attacke
losbrechen wie aus dem Nichts, schließlich verbirgt sich ein Teil des
Gegners hinter einer virtuellen Nebelwand. „Verve Chess“, so heißt das
Projekt, bei dem jede Partie wie ein interaktiver Action-Film abläuft. Der
Hamburger Autor DR. RENÉ GRALLA hat sich für die Tageszeitung „Neues
Deutschland“ von Dave Potter erklären lassen, wie „Verve Chess“
funktioniert.
DR. RENÉ GRALLA: "Verve Chess" ist ein
Echtzeit-Spiel. Während beim üblichen Schach Weiß und Schwarz abwechselnd
ziehen, operieren im "Verve"-Szenario die zwei Parteien unabhängig
voneinander. Falls ich in eine Mattfalle tappe, das aber merke, bevor der
Gegner meinen König gefangen nimmt: Darf ich folglich schnell abhauen,
bevor sich die Schlinge zuzieht?
DAVID POTTER: Sie müssen Ihrem Kontrahenten für die
Reaktion 30 Sekunden Zeit lassen; eine Regel, die notwendig ist, damit
"Verve" Schach bleibt und nicht zu einem simplen Wettlauf ausartet. Holt
aber der andere nicht rechtzeitig zum entscheidenden Schlag aus, sind Sie
nach den besagten 30 Sekunden wieder handlungsfähig - und sollten
tatsächlich schleunigst das Weite suchen.
DR. R.GRALLA: Ich muss also nicht da hocken gelähmt wie
ein Kaninchen, das vom Blick der Schlange hypnotisiert ist und ergeben sein
Schicksal erwartet? Sofern mir noch eine wenigstens theoretische Option
bleibt, kann ich im „Verve Chess“ blitzartig zu reagieren versuchen?
D.POTTER: Ja. Vorausgesetzt, Sie haben die Zwangspause
von 30 Sekunden bis zum nächsten Zug überlebt.
Dr. R.GRALLA: Ein Plus für Amateure, die gern mal
etwas übersehen. Denen geben Sie wenigstens eine Chance, peinliche Patzer
nach 30 Sekunden Schamfrist doch noch zu korrigieren. Das ist die gute
Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass "Verve" das Brett nur in einem
mehr oder minder großen Ausschnitt zeigt, nämlich abhängig vom Blickfeld
meiner Leute. Wie wird das ausgerechnet?
POTTER: Ihre Truppe erkennt alle Felder, die von den
jeweiligen eigenen Einheiten potenziell besetzt werden können. Hinzu kommen
bestimmte angrenzende Positionen: "Verve Chess" soll zu keinem allgemeinen
Rätselraten ausarten, sondern spielbar bleiben.
DR. R.GRALLA: Nehmen wir einen Läufer. Im Abstand
von bloß drei Diagonalschritten baut sich drohend eine feindliche Dame auf
...
POTTER: ... und die versperrt Ihrem Mann den Ausblick
auf das Areal hinter der angreifenden Königin. Das Computerdisplay bildet
die betreffenden Abschnitte als trügerisch leere Zonen ab.
DR. R. GRALLA: Wie weit schaut – um ein weiteres
Beispiel zu nehmen – der Weißspieler nach den Anfangszügen 1.e4 e5, wenn
beide Parteien zunächst ihren Bauern, der ursprünglich direkt vor dem
jeweiligen König postiert gewesen ist, um zwei Schritte Richtung Zentrum
marschieren lassen?
POTTER: Sie verfügen über das Ergebnis der Aufklärung,
die sich aus den Informationen zusammensetzt, die Ihre Armee auf dem
Gefechtsfeld sammelt, und zwar in der Gesamtheit der kombinierten
Truppenteile. Sie „sehen“ nicht bloß so weit wie ein einzelner Mann, mit dem
Sie gerade vorgehen wollen. Nun zum von Ihnen beschriebenen Fall: Der weiße
und der schwarze Königsbauer sind per Doppelschritt vorgeprescht und rempeln
sich auf den Positionen e4 beziehungsweise e5 an. Kommandieren Sie die
weißen Verbände, sind alle Felder bis zur fünften Reihe für Ihre Bauern
sichtbar. Warum? Da alle Infanteristen, nicht nur der Leibgardist des Königs
auf der e-Linie, die Fähigkeit zum einleitenden Riesenschritt über zwei
Felder gleichzeitig haben, erkennen Ihre Fußsoldaten auch die vierte Reihe.
Hinzu kommt die Erweiterung des Blickfeldes auf das unmittelbar angrenzende
Terrain: Dieser optische “Kordon”, wie ich ihn nenne – weil er sich um die
jeweiligen Zielpositionen legt – , befähigt die Bauern, bereits aus der
Startposition heraus feindliche Kräfte zu orten, die sich in der Ferne auf
der fünften Reihe sammeln.
Ferner hat der weiße Auftaktschlag mit dem e-Soldaten
die Diagonale des eigenen rechten Läufers auf f1 geöffnet. Dieser Offizier
behält in der Folge die Diagonale von f1 bis a6 im Auge. Den Endpunkt a6
umgibt der erwähnte Kordon der Sichtbarkeit, so dass der weiße Generalstab
weiß, was sich auf der schwarzen Infanterie-Stellung b7 und dem Punkt c6
tut.
Die Dame beobachtet von ihrer Base d1 aus die Diagonale
d1 bis h5 sowie die Kordon-Koordinate h6. Der schwarze König zeichnet sich
auf dem Kontrollschirm als schemenhafte Marke ab. Diese dokumentiert, wo der
Monarch zum letzten Mal gesichtet worden ist, und das ist in dieser frühen
Matchphase eben die regelkonforme Startposition.
DR. R.GRALLA: Bekannt und gefürchtet ist die
Schach-"Blindheit". Ich starre auf das Brett - und schicke einen Offizier
ausgerechnet auf den einen Punkt, wo der Unglückliche die Mistgabel eines
aufgehetzten Farmers in die Seite gerammt kriegt. "Verve" ist noch schwerer,
manche Regionen hüllen sich in Nebel.
POTTER: "Verve" ist eine echte Challenge, die
vergleichbar ist mit dem Unsicherheitsfaktor bei Bridge. Aber gerade der
Erfolg von Bridge beweist, dass Spieler an solchen Herausforderungen wachsen
- und diese dann auch lieben: den Reiz am Verbergen und Entdecken, am
Täuschen und Überraschen.
DR. R.GRALLA: Nicht nur Hobbyspieler, sondern auch
Topstars tappen manchmal in ganz primitive Fallen. Besonders krass war der
spektakuläre Aussetzer von Weltmeister Wladimir Kramnik in Bonn 2006 während
seiner zweiten Partie gegen das deutsche Computerprogramm „Deep Fritz“, als
der Moskauer ein einzügiges Matt übersah. Wird "Verve Chess" mit seinem
eingeschränkten Gesichtsfeld zu einer Kette von vergleichbaren Patzern
führen?
POTTER: Keine Frage, "Verve" ist anspruchvoll. Selbst
starke Leute werden da auch mal grobe Fehler machen.
DR. R.GRALLA: Und?! Fürchten Sie nicht, dass diese
Flops bei "Verve Chess" das Geschehen bestimmen werden? So dass Schach zu
einer Glückssache wird?
POTTER: Das nun auch wieder nicht. Zweifellos benötigen
manche etwas mehr Zeit, um "Verve Chess" zu beherrschen. Doch das ist zu
schaffen: Obwohl Ihnen nicht der gesamte Aufmarsch des Gegners auf dem
Präsentierteller serviert wird, können Sie doch mit Logik und
Wahrscheinlichkeitsrechnung herausfinden, wie und wo Sie den Anderen zu
fassen kriegen. Wie beim Bridge werden gute Spieler am Ende so agieren, als
ob die gesamte "Verve"-Arena vor ihnen offen zutage liegt.
DR. R.GRALLA: Wie viel Entwicklungsarbeit steckt in
"Verve Chess"?
POTTER: Seitdem ich in den frühen 80-ern meinen ersten
Apple II-Computer gekauft habe, begleitet mich die Vision einer neuen Klasse
von Spielen in Echtzeit. Mich fasziniert der Gedanke, dieses Prinzip auch
auf Schach zu übertragen - kombiniert damit, dass die Gegner künftig nur
noch begrenzt auf die relevanten Daten zugreifen können. Innerhalb von 25
Jahren ist das Konzept Schritt für Schritt gewachsen; aber erst vor ungefähr
drei Jahren habe ich ernsthaft begonnen, "Verve Chess" zu programmieren.
DR. R.GRALLA: Gegenwärtig äußerst beliebt sind
virtuelle Schlachten am PC, und Kulturpessimisten machen sich Sorgen wegen
der Suchtgefahr. Da könnte "Verve Chess" vielleicht einen Ausweg zeigen,
indem es das Beste aus beiden Spielwelten vereinigt: den Kick der
Echtzeit-Duelle am PC sowie die mathematische Eleganz und den kulturellen
Wert von Schach.
POTTER: Genau das ist es, was mich zu "Verve"
inspiriert hat. Zielgruppe sind weniger die ernsthaften Denksportler
als vielmehr solche Schachfans, die Spaß haben an Varianten; dazu ehemalige
Spieler, die zurück gewonnen werden durch eine neue Herausforderung.
Außerdem hat "Verve" das Potenzial, Menschen für Schach zu begeistern, die
zuvor allein auf PC-Spiele fixiert gewesen sind.
DR. R.GRALLA: Zum Abschluss die Frage, die uns die
ganze Zeit umtreibt: Warum eigentlich nennen Sie Ihr Echtzeit-Schach "Verve
Chess"?
POTTER: "Verve" - das ist eine Geisteshaltung, die
Wagemut und Kühnheit in sich vereinigt. Unter dem Druck, in Echtzeit die
richtigen Entscheidungen zu treffen und sich auch in ungewisser Lage den
Schneid nicht abkaufen zu lassen, sollen die Spieler trotzdem mutig und
niemals verzagt agieren.
DR. R.GRALLA: Das normale Schach hat ein PR-Problem:
Schach ist dramatisch, voll wilder Aktionen, aber nur Fachleute kriegen das
mit. Könnte "Verve Chess" ein Weg sein, der auch dem Laien beweist: Jede
Partie ist ein kleiner Actionfilm?! Spannend und voller Überraschungen: zwei
Heere, die sich abtasten, bis aus dem Hinterhalt plötzlich die Angreifer
hervorbrechen?
POTTER: Eigentlich ist "Verve Chess" viel besser als
Kino.
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Weitere Infos zu „Verve Chess“:
www.vervechess.com
WM-Bilderbuch
Mit der Weltmeisterschaft in Mexiko hat das Schachjahr 2007 seinen Höhepunkt
bereits hinter sich. Im Verlauf von drei Wochen standen sich acht der besten
Spieler der Welt gegenüber, um in einem doppelrundigen Turnier den
Weltmeister zu ermitteln. Viswanathan Anand war unbezwingbar und holte sich
den Titel. Für die Spieler blieb zwischen den Runden wohl kaum Zeit, viele
Eindrücke aus dem Gastland zu sammeln. Hans-Walter Schmitt als Zuschauer
hatte da bessere Möglichleiten. In seinem WM-Bilderbuch lässt er die
Geschehnisse och einmal Revue passieren.
WM-Bilderbuch...