Verve Chess: Schach als Action-Spiel

von ChessBase
08.10.2007 – Schach erscheint unbelesenen Zuschauern oft als langsam. Langes Nachdenken zwischen den Zügen führt zwar zu Tiefe, aber nicht zu Action. Zur Beschleunigung hat sich Dave Potter deshalb "Verve Chess" ausgedacht - eine Art Egoshooter mit Schachregeln. Wenn der Gegner nicht innerhalb on 30 Sekunden auf den letzten Zug reagiert hat, kann man gleich noch einen ausführen. Zweimal hintereinander ziehen zu dürfen, haben sich viele Schachspieler häufig schon gewünscht. Eine zusätzliche Hürde im Vergleich zum Normalschach besteht jedoch darin, dass der Spieler nur soweit "schauen" kann, wie seine Figuren wirken. Dr. René Gralla sprach mit dem Erfinder. Interview bei Neues Deutschland...Nachdruck...

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Das Interview erschien in

 

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung

SCHACH BESSER ALS KINO
Heute schon an die Zeit nach Mexiko 2007 denken: Sieht so die WM der Zukunft aus?

Zwei Wochen lang haben sie ihre altmodisch gedrechselten Figuren über die Bretter geschoben: Viswanathan Anand, der neue Champ der Champs, und seine Konkurrenten Wladimir Kramnik und Co. während der Weltmeisterschaft 2007 in Mexico City. Aber vielleicht wird der Modus, wie Titelkämpfe heute noch, im ersten Jahrzehnt des dritten Millenniums, ausgefochten werden, späteren Generationen als rührend antiquiert erscheinen. Kreative Geister arbeiten längst mit Hochdruck daran, Schach für die Zukunft fit zu machen und dabei die spannenden Möglichkeiten zu nutzen, die von der digitalen Technik bereitgestellt werden. Den bisher radikalsten Vorschlag macht jetzt der kanadische Software-Spezialist DAVE POTTER (58) aus Toronto:  Ohne an den Basics zu manipulieren -  die Gangarten der Figuren und die bewährte Größe des Theatre of Operations bleiben unverändert - , ist es dem IT-Berater gelungen, das für die meisten Außenstehenden eher behäbige Schach in ein temporeiches Echtzeitspiel zu verwandeln. Der Clou: Die Sicht auf das Feld wird eingeschränkt, der Spieler erkennt nur diejenigen Einheiten der feindlichen Armee, die auch seine Männer orten können; Maßstab ist dabei der Einwirkungsradius der eigenen Leute. Damit wird die Sache richtig spannend: Jederzeit kann eine Attacke losbrechen wie aus dem Nichts, schließlich verbirgt sich ein Teil des Gegners hinter einer virtuellen Nebelwand. „Verve Chess“, so heißt das Projekt, bei dem jede Partie wie ein interaktiver Action-Film abläuft. Der Hamburger Autor DR. RENÉ GRALLA hat sich für die Tageszeitung „Neues Deutschland“ von Dave Potter erklären lassen, wie „Verve Chess“ funktioniert.

DR. RENÉ GRALLA: "Verve Chess" ist ein Echtzeit-Spiel. Während beim üblichen Schach Weiß und Schwarz abwechselnd ziehen, operieren im "Verve"-Szenario die zwei Parteien unabhängig voneinander. Falls ich in eine Mattfalle tappe, das aber merke, bevor der Gegner meinen König gefangen nimmt: Darf ich folglich schnell abhauen, bevor sich die Schlinge zuzieht?

DAVID POTTER: Sie müssen Ihrem Kontrahenten für die Reaktion 30 Sekunden Zeit lassen; eine Regel, die notwendig ist, damit "Verve" Schach bleibt und nicht zu einem simplen Wettlauf ausartet. Holt aber der andere nicht rechtzeitig zum entscheidenden Schlag aus, sind Sie nach den besagten 30 Sekunden wieder handlungsfähig - und sollten tatsächlich schleunigst das Weite suchen.

DR. R.GRALLA: Ich muss also nicht da hocken gelähmt wie ein Kaninchen, das vom Blick der Schlange hypnotisiert ist und ergeben sein Schicksal erwartet? Sofern mir noch eine wenigstens theoretische Option bleibt, kann ich im „Verve Chess“ blitzartig zu reagieren versuchen?

D.POTTER: Ja. Vorausgesetzt, Sie haben die Zwangspause von 30 Sekunden bis zum nächsten Zug überlebt.

Dr. R.GRALLA: Ein Plus für Amateure, die gern mal etwas übersehen. Denen geben Sie wenigstens eine Chance, peinliche Patzer nach 30 Sekunden Schamfrist doch noch zu korrigieren. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass "Verve" das Brett nur in einem mehr oder minder großen Ausschnitt zeigt, nämlich abhängig vom Blickfeld meiner Leute. Wie wird das ausgerechnet?

POTTER: Ihre Truppe erkennt alle Felder, die von den jeweiligen eigenen Einheiten potenziell besetzt werden können. Hinzu kommen bestimmte angrenzende Positionen: "Verve Chess" soll zu keinem allgemeinen Rätselraten ausarten, sondern spielbar bleiben.

DR. R.GRALLA: Nehmen wir einen Läufer. Im Abstand von bloß drei Diagonalschritten baut sich drohend eine feindliche Dame auf ...

POTTER: ... und die versperrt Ihrem Mann den Ausblick auf das Areal hinter der angreifenden Königin. Das Computerdisplay bildet die betreffenden Abschnitte als trügerisch leere Zonen ab.

DR. R. GRALLA: Wie weit schaut – um ein weiteres Beispiel zu nehmen – der Weißspieler nach den Anfangszügen 1.e4 e5, wenn beide Parteien zunächst ihren Bauern, der ursprünglich direkt vor dem jeweiligen König postiert gewesen ist, um zwei Schritte Richtung Zentrum marschieren lassen?

POTTER: Sie verfügen über das Ergebnis der Aufklärung, die sich aus den Informationen zusammensetzt, die Ihre Armee auf dem Gefechtsfeld sammelt, und zwar in der Gesamtheit der kombinierten Truppenteile. Sie „sehen“ nicht bloß so weit wie ein einzelner Mann, mit dem Sie gerade vorgehen wollen. Nun zum von Ihnen beschriebenen Fall: Der weiße und der schwarze Königsbauer sind per Doppelschritt vorgeprescht und rempeln sich auf den Positionen e4 beziehungsweise e5 an. Kommandieren Sie die weißen Verbände, sind alle Felder bis zur fünften Reihe für Ihre Bauern sichtbar. Warum? Da alle Infanteristen, nicht nur der Leibgardist des Königs auf der e-Linie, die Fähigkeit zum einleitenden Riesenschritt über zwei Felder gleichzeitig haben, erkennen Ihre Fußsoldaten auch die vierte Reihe. Hinzu kommt die Erweiterung des Blickfeldes auf das unmittelbar angrenzende Terrain: Dieser optische “Kordon”, wie ich ihn nenne – weil er sich um die jeweiligen Zielpositionen legt – , befähigt die Bauern, bereits aus der Startposition heraus feindliche Kräfte zu orten, die sich in der Ferne auf der fünften Reihe sammeln.

Ferner hat der weiße Auftaktschlag mit dem e-Soldaten die Diagonale des eigenen rechten Läufers auf f1 geöffnet. Dieser Offizier behält in der Folge die Diagonale von f1 bis a6 im Auge. Den Endpunkt a6 umgibt der erwähnte Kordon der Sichtbarkeit, so dass der weiße Generalstab weiß, was sich auf der schwarzen Infanterie-Stellung b7 und dem Punkt c6 tut.

Die Dame beobachtet von ihrer Base d1 aus die Diagonale d1 bis h5 sowie die Kordon-Koordinate h6. Der schwarze König zeichnet sich auf dem Kontrollschirm als schemenhafte Marke ab. Diese dokumentiert, wo der Monarch zum letzten Mal gesichtet worden ist, und das ist in dieser frühen Matchphase eben die regelkonforme Startposition.   

DR. R.GRALLA: Bekannt und gefürchtet ist die Schach-"Blindheit". Ich starre auf das Brett - und schicke einen Offizier ausgerechnet auf den einen Punkt, wo der Unglückliche die Mistgabel eines aufgehetzten Farmers in die Seite gerammt kriegt. "Verve" ist noch schwerer, manche Regionen hüllen sich in Nebel.

POTTER: "Verve" ist eine echte Challenge, die vergleichbar ist mit dem Unsicherheitsfaktor bei Bridge. Aber gerade der Erfolg von Bridge beweist, dass Spieler an solchen Herausforderungen wachsen - und diese dann auch lieben: den Reiz am Verbergen und Entdecken, am Täuschen und Überraschen.

DR. R.GRALLA: Nicht nur Hobbyspieler, sondern auch Topstars tappen manchmal in ganz primitive Fallen. Besonders krass war der spektakuläre Aussetzer von Weltmeister Wladimir Kramnik in Bonn 2006 während seiner zweiten Partie gegen das deutsche Computerprogramm „Deep Fritz“, als der Moskauer ein einzügiges Matt übersah. Wird "Verve Chess" mit seinem eingeschränkten Gesichtsfeld zu einer Kette von vergleichbaren Patzern führen?

POTTER: Keine Frage, "Verve" ist anspruchvoll. Selbst starke Leute werden da auch mal grobe Fehler machen.  

DR. R.GRALLA: Und?! Fürchten Sie nicht, dass diese Flops bei "Verve Chess" das Geschehen bestimmen werden? So dass Schach zu einer Glückssache wird?

POTTER: Das nun auch wieder nicht. Zweifellos benötigen manche etwas mehr Zeit, um "Verve Chess" zu beherrschen. Doch das ist zu schaffen: Obwohl Ihnen nicht der gesamte Aufmarsch des Gegners auf dem Präsentierteller serviert wird, können Sie doch mit Logik und Wahrscheinlichkeitsrechnung herausfinden, wie und wo Sie den Anderen zu fassen kriegen. Wie beim Bridge werden gute Spieler am Ende so agieren, als ob die gesamte "Verve"-Arena vor ihnen offen zutage liegt.

DR. R.GRALLA: Wie viel Entwicklungsarbeit steckt in "Verve Chess"?

POTTER: Seitdem ich in den frühen 80-ern meinen ersten Apple II-Computer gekauft habe, begleitet mich die Vision einer neuen Klasse von Spielen in Echtzeit. Mich fasziniert der Gedanke, dieses Prinzip auch auf Schach zu übertragen - kombiniert damit, dass die Gegner künftig nur noch begrenzt auf die relevanten Daten zugreifen können. Innerhalb von 25 Jahren ist das Konzept Schritt für Schritt gewachsen; aber erst vor ungefähr drei Jahren habe ich ernsthaft begonnen, "Verve Chess" zu programmieren.

DR. R.GRALLA: Gegenwärtig äußerst beliebt sind virtuelle Schlachten am PC, und Kulturpessimisten machen sich Sorgen wegen der Suchtgefahr. Da könnte "Verve Chess" vielleicht einen Ausweg zeigen, indem es das Beste aus beiden Spielwelten vereinigt: den Kick der Echtzeit-Duelle am PC sowie die mathematische Eleganz und den kulturellen Wert von Schach.

POTTER: Genau das ist es, was mich zu "Verve" inspiriert hat. Zielgruppe sind weniger die ernsthaften Denksportler als vielmehr solche Schachfans, die Spaß haben an Varianten; dazu ehemalige Spieler, die zurück gewonnen werden durch eine neue Herausforderung. Außerdem hat "Verve" das Potenzial, Menschen für Schach zu begeistern, die zuvor allein auf PC-Spiele fixiert gewesen sind.

DR. R.GRALLA: Zum Abschluss die Frage, die uns die ganze Zeit umtreibt:  Warum eigentlich nennen Sie Ihr Echtzeit-Schach "Verve Chess"?

POTTER: "Verve" - das ist eine Geisteshaltung, die Wagemut und Kühnheit in sich vereinigt. Unter dem Druck, in Echtzeit die richtigen Entscheidungen zu treffen und sich auch in ungewisser Lage den Schneid nicht abkaufen zu lassen, sollen die Spieler trotzdem mutig und niemals verzagt agieren.

DR. R.GRALLA: Das normale Schach hat ein PR-Problem: Schach ist dramatisch, voll wilder Aktionen, aber nur Fachleute kriegen das mit. Könnte "Verve Chess" ein Weg sein, der auch dem Laien beweist: Jede Partie ist ein kleiner Actionfilm?! Spannend und voller Überraschungen: zwei Heere, die sich abtasten, bis aus dem Hinterhalt plötzlich die Angreifer hervorbrechen?   

POTTER: Eigentlich ist "Verve Chess" viel besser als Kino.

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Weitere Infos zu „Verve Chess“: www.vervechess.com

 

 

 

 

 

 

WM-Bilderbuch
Mit der Weltmeisterschaft in Mexiko hat das Schachjahr 2007 seinen Höhepunkt bereits hinter sich. Im Verlauf von drei Wochen standen sich acht der besten Spieler der Welt gegenüber, um in einem doppelrundigen Turnier den Weltmeister zu ermitteln. Viswanathan Anand war unbezwingbar und holte sich den Titel. Für die Spieler blieb zwischen den Runden wohl kaum Zeit, viele Eindrücke aus dem Gastland zu sammeln. Hans-Walter Schmitt als Zuschauer hatte da bessere Möglichleiten. In seinem WM-Bilderbuch lässt er die Geschehnisse och einmal Revue passieren.
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