Vincent Keymer gestalkt (I)

von Thorsten Cmiel
22.01.2019 – Thorsten Cmiel schaut sich gerne die Entwicklung junger Spieler an. Nach Praggnanandhaa, Nihal Sarin und Alireza Firouzja hat er diesmal Vincent Keymer "gestalkt" und in seinem Spiel in Wijk aan Zee beobachtet.

Die Wiener Variante - eine verlässliche und ambitionierte Waffe gegen 1.d4 Die Wiener Variante - eine verlässliche und ambitionierte Waffe gegen 1.d4

Die Wiener Variante ist eine spezielle Variante des Damengambits, die nach den Zügen 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.Sc3 dxc4 erreicht wird.

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Diesmal gestalkt: Vincent Keymer

Das schachliche Stalking von starken Schachspielern ist ein gutes Konzept, um selbst besser zu werden. Insbesondere junge Talente, die natürlich selbst noch Schwächen haben, eignen sich besonders für solch eine Betrachtung. In dieser Reihe wurden bisher Nihal Sarin, Praggnanandhaa und Alireza Firouzja beobachtet. Alle drei Spieler waren zum Zeitpunkt der Beobachtung noch auf dem Weg zum Großmeistertitel. Diesmal betrachten wir die Partien von Vincent Keymer.

Tata Steel Challenger Group Wijk aan Zee 2019

2018 war ein weiteres sehr erfolgreiches Jahr für Vincent Keymer, der derzeit die Hoffnungen einer ganzen Nation auf seinen Schultern zu tragen scheint: Sieg beim Grenke Open mit GM-Norm (8,0 aus 9) und zweite GM-Norm beim Xtracon-Open in Helsingör waren die herausragenden Resultate eines Jahres, das ihm einen Ratingzuwachs von fast 100 Punkten brachte.

In Wijk aan  Zee 2019 stand für den 14jährigen (Jahrgang 2004) Vincent jetzt eine neue Erfahrung und Herausforderung an: ein extrem stark besetztes Rundenturnier (zehn GM und vier IM) mit einem Ratingschnitt von 2580. Bei solch einem Turnier der Kategorie 14 genügt ein Ergebnis von +1 (7 aus 13) für die gewünschte Großmeisternorm. Seit etwas mehr als einem Jahr arbeitet Vincent mit Peter Leko, der selbst einmal ein schachliches Wunderkind war, zusammen und man darf unter anderem gespannt darauf sein, ob und wie sich das Eröffnungsrepertoire des Teenagers nach dem Trainer-Wechsel von Artur Jussupow verändert hat. Zumal um Ostern das nochmal stärkere Grenke-Masters auf Vincent wartet, falls er dort teilnimmt.

Das Turnier aus Sicht des Spielers

Das Turnier begann Vincent mit der Partie gegen die deutsche Spitzenspielerin Elisabeth Pähtz. Elisabeth zeigte sich bestens vorbereitet und Vincent geriet in einer Modevariante im Najdorf-Sizilianer in eine schlechtere Stellung. Mit Kreativität und etwas Glück gelang es ihm, trotz deutlichen Zeitnachteils, die Stellung auszugleichen, um dann mit Kampfesmut einer logischen Stellungswiederholung kurz vor der Zeitkontrolle auszuweichen. Die Folge war eine deutlich schlechtere Stellung danach. Vermutlich glaubte Elisabeth zum Schluss allerdings nicht mehr an ihren Vorteil und willigte zu früh in die Punkteteilung ein. Fazit Runde 1: Glück gehabt.

 

In der zweiten Begegnung spielte Vincent mit Weiß gegen den niederländischen Internationalen Meister Stefan Kuipers. Die deutsche Hoffnung zeigte sich bestens präpariert und überraschte seinen Gegner offenbar mit der Variantenwahl. Nach der Eröffnung hatte Vincent nicht nur die klar bessere Zeit, sondern auch eine vorteilhafte Stellung erreicht. Sein Gegner konnte während der gesamten Partie niemals ausreichendes Gegenspiel inszenieren und verlor nach einer Musterpartie des Deutschen. Fazit Runde 2: Ein Statement. Vincent brachte seine gute Vorbereitung überzeugend ins Ziel.

 

Die Gegner werden immer stärker: Der dritte Kontrahent von Vincent ist selbst noch ein russischer Hoffnungsträger. Andrey Esipenko (Jahrgang 2002). Seit 2018 ist Esipenko Großmeister, nachdem er zuvor den Internationalen Meister ausgelassen hatte. Man durfte diesmal ein eher solides Damengambit erwarten. Esipenko sah sich aber offensichtlich von dem Najdorf-Sizilianer herausgefordert, zog seinen e-Bauern zwei Felder vor und spielte dann die theoretisch heiße Fortsetzung 6.Sb3 (CBM 176).

ChessBase Magazin 176

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Die Eröffnungswahl dürfte für Vincent eine Überraschung gewesen sein. Er reagierte zunächst umsichtig, geriet dann in Schwierigkeiten, sein Gegner revanchierte sich kurzzeitig, Vincent zog an seiner Chance vorbei und wurde vernichtend geschlagen. Fazit Runde 3: In diesem Turnier muss Vincent damit rechnen, im Najdorf-Sizilianer weiter geprüft zu werden. 

 

In Runde 4 spielte Vincent mit Weiß gegen Praggnanandhaa, kurz Prag, gegen den er eine negative Bilanz hatte: Niederlage 2014 bei der U10 Weltmeisterschaft in Durban (0) und Remis bei der U12 Weltmeisterschaft in Batumi 2016. Prag wählte die Wiener Variante, die er, genau wie Nihal Sarin, gelegentlich mit Erfolg eingesetzt hatte.

Wer mehr zu den Feinheiten dieser sehr soliden Spielweise wissen will, der kann sich bei Yannick Pelletier informieren, der hat für Chessbase eine DVD dazu aufgenommen.

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Vincent spielte ein bekanntes Bauernopfer, holte aber nicht viel mehr als Kompensation raus aus der Eröffnung. Vielleicht hatte der Anziehende einen mikroskopischen Vorteil; die weiße Stellung könnte etwas für AlphaZero gewesen sein, der saß aber nicht am Brett. Prag bekam kurzzeitig eigene Chancen, griff aber nicht zu. Der Inder gab seinen Mehrbauern zurück und die Stellung verflachte. Fazit Runde 4: Gerechte Punkteteilung. Vincent spielt mit Weiß erneut eine sehr solide Eröffnung.

 

In Runde 5 stand für Vincent der dritte Test im Najdorf an. Eine Datenbankrecherche (Mega 2019) zeigt wie man eine recht sichere Prognose über die Eröffnungswahl seines Gegners abgeben kann. Chigaev wählte die erwartete Fortsetzung und Vincent zeigt sich gut vorbereitet und stellt seinen Damenspringer nach d7 und nicht nach c6 und stellt die eigene Rochade zurück.

Zuletzt hatte Alexey Sarana (GM, Jahrgang 2000 mit Elo 2630) im Dezember zweimal so als Schwarzer gespielt. Das zeigt wie wichtig für Najdorf-Spieler das Verfolgen der Partien zumindest auf Topniveau heutzutage ist. Chigaev weicht dann als Erster von den Vorgängerpartien ab und taucht in eine alte Spielweise ab, die ihm aber keine gute Stellung verspricht. Vincent erreicht eine sehr gute Stellung, ihm gelingt es in der Folge aber nicht, am Damenflügel die richtige Vorgehensweise zu finden. Fazit Runde 5: Vincent muss diesmal mit seinem Najdorf-Sizilianer keine größeren Probleme lösen.

 

Der nächste Tag ist ein Ruhetag und in den nächsten zwei Schwarzpartien wird  er vermutlich erneut gegen 1.e4 antreten müssen. Aber in Runde 6 folgt zunächst eine Weißpartie gegen den jungen niederländischen Großmeister Lucas van Foreest (Jahrgang 2001). Das Repertoire von Lucas besteht in Nimzoindisch, weswegen er sich gegen 1.c4 auf die „Mikenas-Variante“ einlassen muss.

Vincent wählt diese Spielweise bewusst und hat mehrere Partien des jungen Niederländers als Orientierung. Der weicht dann allerdings als Erster ab und Vincent findet eine gute Aufstellung, die ihm einen soliden dauerhaften Vorteil verspricht. Van Foreest geht etwas optimistisch weiter vor (c5) und Vincent konnte früh einen deutlicheren Vorteil erringen, er entscheidet sich aber für das weniger konkrete Spiel. Zum Schluss verflacht die Partie weiter. Fazit Runde 6: Vincent bleibt seinem Motto treu und spielt eine gepflegte Weißpartie mit kontrollierter Offensive. Diesmal kostet es ihn jedoch die Chance auf einen vollen Punkt.

 

In Runde 7 spielt Vincent dann gegen den Ungarn Benjamin Gledura. Der spielt gegen Najdorf zumeist 6.h3, hatte aber zuletzt eher geschlossene Stellungen angestrebt mit 1.Sf3 oder 1.d4. In Wijk hatte der Ungar zweimal seinen Königsbauern im ersten Zug ins Rennen geschickt (viermal Schwarz). Am Tag zuvor hatte Gledura durch einen Sieg als Nachziehender gegen Erwin L‘Ami seinen Score wieder ausgeglichen. Tatsächlich wollte Gledura die Vorbereitung von Vincent und Peter Leko gegen den ungewöhnlichen Zug im Najdorf offenbar nicht testen. Stattdessen spielte er Sf3 und fianchettierte seinen Damenläufer, eine Spielweise, die Gledura in der Vergangenheit gelegentlich gewählt hatte, ohne irgendwelche Vorteile zu erzielen.

Die einzige offene Frage bestand zunächst darin, wohin der Ungar seinen d-Bauern ziehen würde – nach d3 oder d4. Vincent wirkte in der Eröffnungsphase nicht ausreichend präsent, sein Gegner ging hohe Risiken ein und wurde belohnt. Es folgte ein relativ einfachen Fehler von Vincent, der von seinem Gegner eine zweite Chance erhielt, diese aber nicht nutzte. Fazit Runde 7: Vincent hatte scheinbar einen gebrauchten Tag und verpasste mehrere Chancen auf gutes Spiel oder Ausgleich.

 

Vincent steht nach sieben Runden bei -1. Es stehen noch drei Schwarz-und drei Weißpartien an. Die spielstärksten Gegner kommen zum Schluss; die Auslosung will es so.

Wird fortgesetzt...

https://www.tatasteelchess.com/players/challengers/all-challengers

https://www.vincent-keymer.de/#photos

https://www.zeit.de/zeit-magazin/2016/47/vincent-keymer-schach-talent-deutschland

 


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.

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