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In den letzten drei Runden musste Vincent nach dem letzten Ruhetag gegen drei der stärksten Teilnehmer ran. Gegen zwei von seinen Gegnern hatte er 2018 remisiert. Für die definitive GM-Norm waren noch zweieinhalb Punkte aus drei Partien notwendig. Ob das allerdings nach einem schon harten Turnier immer noch das Ziel von Vincent war? Ich denke die Jagd auf die finale Norm wäre ohnehin der falsche Ansatz und die bisherigen Äußerungen von Vincent deuten darauf hin, dass er und Peter Leko sich keinen zusätzlichen Ergebnisdruck leisten werden. Das Restprogramm von Vincent sah jedenfalls beängstigend aus:
Erwin L‘Ami (NED), 2643, Jahrgang 1985, Großmeister seit 2005.
Anton Korobov (UKR), 2699, Jahrgang 1985, Großmeister seit 2003.
Parham Maghsoodloo, 2679, Jahrgang 2000, Großmeister seit 2016, der amtierende Jugendweltmeister U20.
Gegen Erwin L‘Ami hatte Vincent in der siebten Runde beim Isle-of-Man-Open nach hartem Kampf erfolgreich ein zwischendurch schlechteres Endspiel verteidigt. Diesmal entschied sich der Niederländer für den Königsbauern zum Start. Das Thematurnier im Najdorf-Sizilianer ging also weiter. L‘Ami verzichtete auf einen aggressiven Aufbau und entschied sich für eine positionelle Spielweise. Tatsächlich gelang es Vincent nicht, die Stellung komplett auszugleichen.
Bei der schwierigen Bewertung der Spielweisen beider Seiten in dieser hochkomplexen Partie gegen Erwin L‘Ami helfen einige Musterbeispiele aus der älteren und jüngeren Vergangenheit. Dabei schauen wir zunächst dem vielleicht weltbesten Positionsspieler aller Zeiten zu: Anatoly Karpov. Der Russe spielte oft den ruhigen Zug 6.Le2, wobei er in jüngeren Jahren die Stellung noch anders interpretierte: Gegen Polugajevsky spielte Karpov 1970 im Viertelfinale des Kandidatenturniers noch mehrfach erfolgreich mit frühem f2-f4. Aus heutiger Sicht reicht diese Herangehensweise, welche die schwarzen Felder nach Nehmen auf f4 schwächt, nicht um Schwarz vor größere Probleme zu stellen. In seiner Partie gegen den Argentinier Quinteros 1980 zeigte Karpov seinerzeit ein komplett verbessertes Konzept und wiederholte 1982 diese Spielweise gegen den stärksten Najdorf-Experten seiner Zeit, den Engländer John Nunn.
Entscheidend für die Bewertung dieses Stellungstyps ist, welche Leichtfiguren getauscht werden und welche auf dem Brett verbleiben. Als Faustregel gilt: Die für Schwarz schlechteste Konstellation sind ein weißer Springer, bevorzugt auf dem Feld d5 gegen einen schwarzfeldrigen Läufer. Hierzu hat Maxime Vachier-Lagrave eine Musterpartie gegen Ian Nepomniachtchi gespielt.
Warum ungleichfarbige Läufer (weißfeldrig gegen schwarzfeldrig) Weiß einen Vorteil geben, solange Schwerfiguren auf dem Brett sind, illustriert eine Partie von Pragnanandhaa gegen einen Großmeister, die etwa ein Jahr zuvor gespielt wurde, mit einer ähnlichen Struktur.
Fazit Runde 11: Vincent wirkte etwas zögerlich in seinem Spiel. Sein Gegner verpasste nach gelungener Eröffnungsphase eine deutlich bessere Spielweise mit seinem 22. Zug. Nach einer Strukturveränderung (Nehmen auf e6) konnte Vincent einigermaßen komfortabel das Remis halten.
In der zwölften Runde spielte Vincent gegen den Zweiten des Vorjahres, Anton Korobov. Der Ukrainer gehört mit seiner Elozahl um die die 2700 zur erweiterten Weltspitze. Die beiden Kontrahenten hatten ein Jahr zuvor bei Vincents Sieg im Grenke-Open noch remisiert. Diesmal hatte der Großmeister Weiß und wählte eine aggressive Spielweise gegen Vincents Hauptwaffe im Damengambit. Vincent wählte letztlich eine "grünfeldindische" Struktur. Korobov stellte Vincent einige Rechenaufgaben, die dieser nicht befriedigend lösen konnte. Durch eine Ungenauigkeit ließ der Ukrainer noch einmal kurzzeitig Luft an die Stellung, Vincent wählte mit wenig Zeit allerdings den „sicheren“ Weg und verlor.
Fazit Runde 12: Ein dreizehnrundiges Turnier in dem man jeden Tag gegen einen sehr starken Gegner antreten muss, zehrt offenbar auch bei einem Youngster an den Kräften.
Runde 13:
In Runde 13 spielte Vincent gegen den amtierenden Jugendweltmeister aus dem Iran. Vincent zeigte sich gut vorbereitet in einer komplexen Eröffnungsvariante, konnte leichten Vorteil für sich reklamieren, entschied sich dann aber für die sichere Spielweise und remisierte, ohne jemals ernsthaft gefährdet gewesen zu sein.
Das Gesamtergebnis von Vincent liegt bei -2 (zwei Siege, vier Verluste und sieben Remis). Bei einem Gegnerschnitt, der für Vincent über dem Turnierdurchschnitt von 2580 liegt, bringt ihm Wijk einen Elozuwachs von etwa fünf Punkten. An den Ergebnissen der anderen Teilnehmer zeigt sich, wie spielstark das Turnier einzuschätzen ist. Die mit Abstand stärkste deutsche und im Turnierschach sehr erfahrene Frau, Elisabeth Pähtz, konnte keine Partie gewinnen und erzielte letztlich zwei Punkte weniger als Vincent. Sieben der zehn teilnehmenden Großmeister erzielten ein Ergebnis, das als Großmeisternorm gelten würde (+1 oder mehr).
Das Spiel von Vincent ist sehr aufwendig. So zeigte sich Vincent immer bestens vorbereitet. Mit Schwarz scheinen mehrere der anderen Teilnehmer den Najdorf-Sizilianer als Angriffsfläche im Repertoire von Vincent ausgemacht zu haben. Tatsächlich scheinen Vincent Stellungen mit entgegengesetzten Rochaden (Päthz und Esipenko) nicht zu behagen. Vincent hatte mit seinem Ergebnis schon in der ersten Begegnung gegen seine Landsfrau Glück gehabt. Ohnehin wirkt Vincent gelegentlich etwas unentschlossen in bestimmten Spielphasen. Auffällig war zu Beginn des Turniers sein Zeitverbrauch: Befindet sich Vincent sicher in seiner Vorbereitung, zieht er schnell. Danach neigt Vincent zu einer ausführlichen Denkpause (von bis zu 25 Minuten). Das ist eine durchaus vernünftige Herangehensweise, gibt aber dem Gegner gleichzeitig die Sicherheit, dass sein Gegner aus dem Buch ist. Vielleicht war der üppige Zeitverbrauch zum Turnierstart dem Umstand geschuldet, dass man nur selten mit dem Weltmeister eine Bühne teilt. Jedenfalls nahm Vincent vermutlich geleitet von Peter Leko in der Mitte des Turniers eine Korrektur vor und verzichtete auf diese Herzschlagphasen.
Jungstars
Die Schachöffentlichkeit in Deutschland dürfte besonders interessieren, ob Vincent Ende April am GRENKE Chess Classic teilnimmt. Die Erfahrungen in Wijk sind eindeutig: Vincent sollte sich erst noch akklimatisieren, zumal Rundenturniere deutlich höhere Anforderungen an die Vorbereitung stellen als Open in denen die Gegner oft nur wenig Zeit zur Vorbereitung haben. Die Organisatoren von GRENKE könnten Vincent sicherlich seinen Turnierplatz in 2020 garantieren. In drei bis vier Jahren dürfte Vincent ohnehin aufgrund seiner dann noch deutlich verbesserten Turnierleistungen eine Rating aufweisen, die ihm die Teilnahme ohne Wildcard ermöglicht. Peter Leko ist natürlich aus eigener Erfahrung heraus der geeignete Ansprechpartner, der sicher am besten einschätzen kann, ob Vincent am Superturnier teilnehmen sollte.
Für Vincent wäre neben weiteren starken Rundenturnieren die Teilnahme am Aeroflot-A-Open (ab 2550 oder ausgewählte talentierte Spieler) ein geeignetes Turnier, um Erfahrungen im Wettkampf mit sehr starker Gegnerschaft zu sammeln.
Vincent hat im Vergleich zu anderen Top-Talenten den Nachteil der deutschen Schulpflicht und ist weitgehend an die Ferienzeiten gebunden. Zwei aus meiner Sicht nicht vorbildliche Beispiele: Das zurzeit heißeste indische Talent, Gukesh (Jahrgang 2006), spielte 2018 nicht weniger als 217 gewertete Partien und überspringt einige Jahre und vernachlässigt seine Schulausbildung.
Praggnanandhaa (Jahrgang 2005) ist inzwischen Großmeister, kam jedoch zuletzt in seiner schachlichen Entwicklung nicht weiter - das kann sich natürlich in dem Alter kurzfristig wieder ändern. Ihn hat offensichtlich der mediale Druck bei der Jagd auf den „jüngsten Großmeister“ gehemmt. "Pragg" erzielte übrigens in Wijk einen halben Punkt weniger als Vincent.
Die Eröffnungswahl gegen 1.e4 von Vincent war in diesem Turnier der Najdorf-Sizilianer als einzige Wahl. Für die Zukunft wäre mindestens eine zweite Hauptspielweise sinnvoll, um den Gegnern bei der Vorbereitung in Rundenturnieren etwas größere Denkaufgaben zu stellen. Schaut man sich die bevorzugte weiße Spielweise von Vincent an, der klare Strukturen mag und gerne kleine positionelle Vorteile einsammelt, dann könnte Russisch oder Caro-Kann eine gute Wahl für ihn sein. In jedem Fall sollte Vincent sein Repertoire in jungen Jahren erweitern und nicht bis zu einem Alter warten, in dem man beim Schreiben des letzten Satzes eines Artikels, den ersten Satz schon wieder vergessen hat.