Der Deutsche Schachbund hat wieder einen Weltklasse-Spieler. Nach einem bemerkenswerten Turnierjahr ist Vincent Keymer in der absoluten Weltspitze angekommen, derzeit mit einer Elozahl von 2776 als Nummer vier der Weltrangliste. Vor dem Deutschen liegen nur noch Magnus Carlsen, Hikaru Nakamura und Fabiano Caruana. Vincent Keymer ist damit der beste Deutsche seit den Erfolgen von Robert Hübner in den 1970er und 1980er Jahren. Hübner war in seiner besten Zeit kurz die Nummer drei der Welt, hinter Anatoly Karpov und Viktor Korchnoi. Generationsübergreifend lassen sich Leistungen im Schach nur schwer vergleichen, doch angesichts der höheren Elozahl – auch unter Berücksichtigung des Inflationsfaktors – und der heute deutlich größeren Konkurrenz ist Keymers Position möglicherweise höher zu bewerten.
Keymers Talent wurde bereits früh erkannt. Schon vor über zehn Jahren meldete der Bundesnachwuchstrainer Bernd Vökler, dass mit Keymer ein Ausnahmetalent heranwachse, wie es ein solches in Deutschland bis dato noch nicht gegeben habe. Keymer arbeitete intensiv an seinem Schach, wurde gefördert – vom Schachbund und auch privat – und schaffte es neben seiner Schulausbildung mit Abitur, auch dank der Hilfe seines Trainers Peter Leko, zum Weltklasseschachprofi aufzusteigen.
Auf dem Weg zur Weltspitze
Neben seiner Schulausbildung spielte Vincent Keymer regelmäßig Turniere, verzeichnete als junger Spieler auch einige Rückschläge, kletterte aber in den Elolisten unaufhörlich nach oben. Im August 2023 übersprang Vincent Keymer erstmals die magische 2700-Hürde. Danach ging es weiter nach oben: Im Dezember 2023 hatte sich der junge deutsche Großmeister mit seinen Erfolgen bis auf Elo 2738 hochgearbeitet. Im folgenden Jahr stagnierte Keymer mit seiner Elozahl etwas, während Altersgenossen aus Indien die Eloleiter bereits weiter nach oben erklommen hatten. Doch dann zündete auch Keymer nach und nach den Turbo.
Das Turnierjahr 2025 begann für Keymer noch etwas verhalten, mit zwei Remis in der Bundesliga und einer Leistung von etwas unter 50 Prozent in Wijk aan Zee. Im Februar gewann er dann das Freestyle-Turnier im Weissenhaus. Dieses brachte Keymer zwar keinen Elozuwachs, wohl aber die Erkenntnis, dass er jeden Spieler der Welt schlagen kann – einschließlich Magnus Carlsen und Fabiano Caruana.
Das folgende Masters beim Prager Schachfestival beendete er wieder mit 50% im Mittelfeld.
Auch die beiden Freestyle-Turniere in Paris sowie das Grenke Freestyle Open spielte Vincent Keymer noch mit durchschnittlichem Erfolg. Nach guten Bundesliga-Ergebnissen startete Keymer im Mai beim German Masters in München durch. Schon vor der letzten Runde stand er als Sieger fest und holte sich seinen ersten Meistertitel. Im Juni spielte er mit gutem Erfolg in London die Rapid- und Blitz-Mannschaftsweltmeisterschaft.
Das Freestyle-Turnier im Juli in Las Vegas lieferte zwar kein herausragendes Ergebnis, doch Keymers Vorstellung beim Quantbox Masters in Chennai war geradezu eine Leistungsexplosion.

Foto: ChessBase India
Die Inder hatten sich mit der Einladung für Keymers Hilfe als Sekundant im erfolgreichen WM-Kampf von Gukesh D gegen Ding Liren bedankt. Und Keymer bedankte sich mit einer grandiosen Vorstellung und dominierte das Turnier.
Am Ende hatte Keymer zwei Punkte Vorsprung vor dem Rest – und zum „Rest“ gehörten Spieler wie Anish Giri, Arjun Erigaisi und Vidit Gujrathi. Mit dem Sieg hatte Keymer Tuchfühlung zu den Spielern ganz oben in der Eloliste aufgenommen. Bei den drei folgenden Turnieren, dem Grand Swiss, der Europa-Mannschaftsmeisterschaft und dem Europa-Vereinspokal, bestätigte er mit weiteren glänzenden Ergebnissen seine Ausnahmestellung.
Die erwähnten Turniere sind jedoch bei Weitem nicht alle, an denen Keymer teilnahm. Zwischendurch, mitunter auch abends parallel zu laufenden Turnieren, spielte er zusätzlich zahlreiche Online-Turniere mit wechselndem Erfolg. Durch diese Vielzahl an Online-Wettbewerben kommen Profis heute auf Partiemengen pro Jahr, für die frühere Meister eine ganze Karriere benötigten.
Kandidatenturnier denkbar knapp verpasst
Das Grand Swiss, bei dem Keymer eine Eloleistung von 2791 erzielte, war zugleich auch seine größte Enttäuschung. Mit 7,5 Punkten wurde er geteilter Zweiter bis Vierter und nach Feinwertung Vierter. In den letzten beiden Runden verschenkte Keymer gegen Matthias Blübaum und Arjun Erigaisi jeweils einen halben Punkt. Ein halber Punkt mehr oder eine bessere Feinwertung hätte zur Qualifikation für das Kandidatenturnier gereicht, die Keymer auf diese Weise knapp verpasste. Beim Kandidatenturnier hätte er durchaus um den Turniersieg mitspielen können.
Nun muss Vincent Keymer auf die nächste Kandidatenrunde hoffen. Der Geschichte lässt sich vielleicht auch etwas Gutes abgewinnen. Wie das Beispiel von Gukesh D zeigt, kann ein junger Spieler auch zu früh Weltmeister werden. Im Schach wird erwartet, dass der Weltmeister der beste Spieler ist oder – hinter Magnus Carlsen – wenigstens der zweitbeste. Das ist Gukesh (noch?) nicht.
Eine weitere Frage ist, ob die deutsche (Schach-)Öffentlichkeit überhaupt schon für einen deutschen Schachweltmeister bereit wäre. Hinter König Fußball kommt lange nichts, obwohl die deutsche Fußballnationalmannschaft nicht mehr absolute Weltklasse ist. Nur langsam können andere Sportarten mit ihren Erfolgen in diese Lücke vorstoßen, etwa Basketball oder Handball. Vielleicht bald auch Schach? Nicht nur Vincent Keymer, auch die deutsche Schachnationalmannschaft ist Weltklasse.
Zuletzt spielte Vincent Keymer bei der etwas anders organisierten Tech Mahindra Global Chess League in London mit, bevor das Turnierjahr in Doha mit der Rapid- und Blitzweltmeisterschaft seinen Abschluss findet. Anschließend startet in Wijk aan Zee das Superturnierjahr 2026 – mit Vincent Keymer und mit einem zweiten deutschen Spieler im Masters, Matthias Blübaum. Zwei deutsche Spieler im A-Turnier von Wijk aan Zee gab es lange nicht.

Keymer und Erigaisi | Foto: ChessBase India
Interview für die Hindustan Times
Bei der Global Chess League in London gab Vincent Keymer der Hindustan Times ein Interview – die indische Öffentlichkeit ist am deutschen Weltklasse-Großmeister und Sekundanten von Gukesh D offenbar sehr interessiert. Keymer äußerte sich zur Global Chess League in London und lobte die Organisation sowie den Teamspirit dort.
Auf das Grand-Swiss-Turnier angesprochen, bedauerte Keymer seine verpasste Qualifikation für das Kandidatenturnier, doch es klang nicht so, als würde er deswegen in Depressionen verfallen. Keymer blickt bereits wieder nach vorne.
Die Frage, wie sehr er sich wünsche, Weltmeister zu werden, beantwortete Keymer realistisch. Zunächst komme es ihm darauf an, diszipliniert zu sein und konsequent zu arbeiten. Alles andere sei schwer vorherzusagen.
Im Jahr 2026 wolle er wieder an vielen verschiedenen Turnieren teilnehmen, an klassischen Turnieren ebenso wie an Freestyle-Turnieren, sofern er eingeladen werde. Keymer bekannte, ein großer Fan des Freestyle-Schachs zu sein: „Ich glaube nicht, dass Freestyle für uns spannender oder weniger spannend ist, denn es bleibt dasselbe Spiel. Es sind einfach sehr gut organisierte Turniere auf höchstem Niveau. Ich habe diese Turniere auch sehr genossen. Sie sind eine großartige Ergänzung des Kalenders, und ich glaube, dass sie aufgrund der Art und Weise, wie sie organisiert sind, auch für die Zuschauer sehr spannend sein können.“
Beim World Cup habe er nicht viel von der Stadt Goa gesehen, meinte Keymer. Gegen Andrey Esipenko sei er leider früher ausgeschieden, als er gehofft habe.
Die Arbeit als Sekundant von Gukesh beim WM-Kampf sei hart gewesen, habe aber Spaß gemacht. Keymer habe von Spanien aus remote geholfen. Das Schach in Indien sei deutlich populärer als in Deutschland, auch weil es dort so viele starke Spieler gebe, sagte Keymer. Entsprechend sei die Unterstützung in Indien größer als in Deutschland.
Die deutschen Schachfreunde dürfen sich auf ein spannendes Turnierjahr 2026 freuen.
Interview bei Hindustan Times...
