Viswanathan Anand zum 50sten

von André Schulz
11.12.2019 – Viswanathan Anand war der jüngste Landesmeister Indiens und der erste Schachweltmeister aus Asien. Anand hat das Schach zurück in sein Ursprungsland gebracht und in Indien einen wahren Schachboom ausgelöst. Später einmal werden sie ihm sicher einen Tag widmen: der 11. Dezember ist der Anand-Tag. Heute wird "Vishy" 50 Jahre alt. Die Schachwelt applaudiert. | Fotos: ChessBase Archiv

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Ein halbes Jahrhundert Vishy Anand

Viswanathan Anand ist der 15. Schachweltmeister in der Tradition, die mit Wilhelm Steinitz begann. Er gewann diesen Titel beim Weltmeisterschaftsturnier in Mexiko 2007 und verteidigte ihn danach mehrmals erfolgreich, im Wettkampf 2008 in Bonn gegen Vladimir Kramnik, im Wettkampf 2010 in Sofia gegen Veselin Topalov und im Wettkampf 2012 in Moskau gegen Boris Gelfand. Bei seinem Heimwettkampf 2013 in Chennai verlor Anand den Weltmeister-Titel an Magnus Carlsen.

Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man feststellt, dass Carlsen den letzten Schliff auf seinem Weg zur Weltmeisterschaft in den Lehrjahren seiner Duelle gegen Anand erhalten hat. Johannes Fischer hat das auf seinem geistreichen Blog "Schöner Schein" einmal sehr gründlich nachgewiesen.

Im folgenden Kandidatenturnier qualifizierte Anand sich noch einmal als Herausforderer und es gab 2014 in Sotschi eine Neuauflage des WM-Kampfes von 2013, diesmal mit vertauschten Vorzeichen. Doch Anand konnte den Titel nicht zurückerobern. Man kann halt nicht ewig Weltmeister bleiben, höchstens vielleicht mit Tricks, aber mit Tricks hat Anand nie gearbeitet.  

2007 beim WM-Turnier in Mexiko

Der Beginn von Anands großer Schachkarriere fällt in eine unruhige Zeit in der Geschichte des Weltschachbundes (FIDE). 1993 hatten Nigel Short und Garry Kasparov ihren Wettkampf um die Schachweltmeisterschaft unter Ausschluss der FIDE gespielt. Der Weltschachbund erkannte diese Weltmeisterschaft nicht an und führte nun parallel eigene Weltmeisterschaften durch. Von 1993 bis 2006 gab es im Schach deshalb zwei rivalisierende Schachweltmeisterschaften und zeitweise auch zwei Qualifikationssysteme.

Viswanathan Anand wurde am 11. Dezember 1969 in Mayiladuthurai, im Bundesstaat Tamil Nadu,  geboren. Indische Namen funktionieren anders als europäische Namen. Sein Rufname ist "Anand". Sein Beiname, ein Patronym, ist "Viswanathan". Weil sie es nicht besser wussten, nannten die Schachjournalisten den neuen Star am Schachhimmel kurz "Vishy". Später wurde für Anand noch der Spitzname "Der Tiger von Madras erfunden". Als Anand einmal gefragt wurde, was er von dem Spitznamen hielte, meinte er nur lakonisch: "Wahrscheinlich kannte der Erfinder dieses Namens kein anderes indisches Tier."

Anand wuchs als jüngstes Kind von drei Geschwistern auf. Seine Schwester Anuradha ist elf Jahre älter als er, sein Bruder Shivakumar 13 Jahre älter. Schach lernte Anand von seiner Mutter Sushila im Alter von sechs Jahren.

Anand mit sechs Jahren

Die Familie lebte zu dieser Zeit in Manila, wo Anands Vater einen Beratervertrag bei der Nationalen Philippinischen Eisenbahn hatte. Im Zuge des Weltmeisterschaftskampfes Karpov gegen Kortschnoj 1978 wurden die Philippinen von einer großen Schacheuphorie ergriffen: Anand schaute regelmäßig eine Schachsendung im philippinischen Fernsehen und löste Schachaufgaben. Die Mutter brachte ihn in den örtlichen Schachclub, wo er den Erwachsenen bald das Fürchten lehrte.

Anand 1976

Mitte der 1980er Jahre kehrte die Familie nach Indien zurück und lebte nun in Chennai. Anand besuchte dort die „Don Bosco Matriculation Higher Secondary School“. Im Anschluss erwarb er auf dem Loyola College einen Bachelorabschluss in Wirtschaftswissenschaften.

Tamil Nadu Champion 1982

Anands Aufstieg zur Weltspitze erfolgte kometenhaft. 1983 gewann er mit 14 Jahren die indische Kadettenmeisterschaft. 1984 wurde er asiatischer Juniorenmeister.

Im gleichen Jahr wurde er als jüngster Inder aller Zeiten in die indische Nationalmannschaft für die Schacholympiade berufen. Mit 15 Jahren war Anand zudem der jüngste Inder, der von der FIDE den Titel eines Internationalem Meisters erhielt, nachdem er 1985 erneut die asiatische Juniorenmeisterschaft gewonnen hatte. Mit 16 Jahren gewann Anand die indische Landesmeisterschaft. Später wiederholte er diesen Erfolg noch zwei Mal. 1987 gewann Anand als erster Inder die Juniorenweltmeisterschaft. 1988 wurde Anand auch der jüngste indische Großmeister aller Zeiten. In seinen Partien verblüffte Anand seine Gegner und die Zuschauer mit der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der er seine Züge fand und auf dem Brett ausführte.

Schon 1988 gab es den ersten Kontakt mit der Firma ChessBase, die zu dieser Zeit noch in den Anfängen steckte und praktisch mit dem kompletten Personal (Matthias Wüllenweber, Frederic Friedel) bei der Schacholympiade in Thessaloniki vorstellig wurde, um dieses neuartige Datenbankprogramm auf einem Gerät Namens Atari ST zu präsentieren. Es zeugt von Anands Cleverness, damals 18 Jahre alt, dass er die Möglichkeiten sofort erfasste und sich bei Matthias Wüllenweber im Hotelzimmer schon auf einige der nächsten Gegner vorbereitete. 

Vor ein paar Jahren gratulierte Anand übrigens per "Fernschalte" zum 25sten Firmenjubiläum von ChessBase und berichtete in einem Video, wie das so in den Anfängen von ChessBase war.

1989 wurde Anand erstmals zum Turnier in Wijk aan Zee eingeladen und gewann es auf Anhieb. Lange Zeit war Anand mit fünf Turniersiegen der Rekordhalter in Wijk aan Zee, bis er 2019 von Magnus Carlsen (sechs Siege) abgelöst wurde. 1990 qualifizierte Anand sich durch einen geteilten dritten Platz beim Interzonenturnier in Manila für die Kandidatenkämpfe, schied hier aber gegen Karpov im Viertelfinale aus.

Anand in Hamburg

Ich erinnere mich an seine Besuche bei ChessBase zu Beginn der 1990er Jahre. Wir saßen gerne in der Hamburger City Nord in einem kleinen ägyptischen Bistro, gleich gegenüber vom ChessBase-Büro, das leckeres vegetarisches Essen anbot. Anand erzählte beim Essen, wie er mit Michail Gurevich zusammenarbeitete und seine Nase schien dabei immer länger und länger zu werden, so als wolle er bei der Erzählung die Physiognomie seines Sekundanten annehmen. Dann berichtete er, wie er einen Haufen Karpov-Partien nachspielte und - "sometimes I didn't understand any move". Und schließlich erklärte er, wie die Post-Mortem-Analysen mit Karpov funktionieren: "Okay, you are queen up. But: I have compensation here, and I have compensation there. Maybe it's a draw." Und bei der Erzählung hatte Anand natürlich die gleiche hohe Stimmlage angenommen, die für Karpov typisch ist.

Eine andere von Anands vielen unterhaltsamen Geschichten aus dem Alltag des Weltklassespieler soll hier auch nicht unterschlagen werden: Über viele Jahre gab es in Monaco die vom Mäzen Joop van Osteroom gesponserten Melody Amber Turniere. Das waren praktisch Einladungen an die weltbesten Schachspieler, bezahlte Ferien zu machen und dabei etwas Schach zu spielen. Die Geschichte muss sich Ende der 1990er oder Anfang der 2000er Jahre zugetragen haben. Das Internet war schon erfunden und es gab mit dem ICC auch schon einen Schachserver. Vor der Runde daddelte einer der Weltklasse-Großmeister, war es Ivanchuk?, auf dem ICC ein paar Partien gegen einen anderen Onlinespieler, der in Südamerika saß und nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte. Karpov kam auf dem Weg zum Turniersaal herbei, gesellte sich dazu und schlug als Kiebitz Züge vor. Nach und nach versammelten sich alle Teilnehmer des Turniers, praktisch die ganze Weltelite, hinter dem Bildschirm und gab Ivanchuk Tipps. Der arme Spieler auf der anderen Seite der Welt hatte keine Chance und verlor schnell. Er spielte noch eine Revanchepartie, in der aber gegen die etwa 20.000 Elopunkte, gegen die er da blitzte, ebenso auf verlorenem Posten stand. Dann hatte er aber keine Lust mehr und meldete sich artig ab, mit der Entschuldigung, er sei heute einfach nicht in Form.

1992 gelang Anand ein Aufsehen erregender Turniererfolg in Reggio Emilia, wo er die gesamte Weltelite hinter sich ließ, einschließlich Kasparov und Karpov. Spätestens jetzt hatte er sich im Kreis der weltbesten Spieler etabliert.

Anand sammelte nun zahlreiche Turniersiege, wurde zu allen großen Turnieren eingeladen und qualifizierte sich 1994 für beide Qualifikationszyklen zur Weltmeisterschaft, sowohl beim Weltschachbund als auch bei Kasparovs und Shorts Organisation, der Professional Chess Association (PCA). In der FIDE-Qualifikation schied er im Halbfinale gegen Gata Kamsky aus. In der PCA-Qualifikation gewann er alle Matches und wurde Herausforderer von Garry Kasparov. Beim WM-Kampf im nicht mehr existierenden New Yorker World Trade Center unterlag er 1995 jedoch Titelverteidiger Kasparov, dem er zuvor einen spannenden Kampf geliefert hatte.

Nachdem Kirsan Iljumzhinov den Philippino Florencio Campomanes als FIDE-Präsident abgelöst hatte, führte er bei der FIDE K.o.-Turniere als Format für die Weltmeisterschaften ein. Im ersten dieser K.o.-Turniere in Groningen qualifizierte sich Anand 1997 als Herausforderer von FIDE-Weltmeister Karpov, musste aber unmittelbar im Anschluss auf eigene Kosten nach Lausanne reisen und dort einem Kurzwettkampf gegen Titelträger Karpov antreten, gegen den er im Stichkampf unterlag.

Bei der K.o.-Weltmeisterschaft 2000 gelang Anand dann aber ein Sieg im Finale über Alexej Shirov und er wurde FIDE-Weltmeister. Da Anand 2007 auch die wiedervereinigte Weltmeisterschaft im Rundenturnier gewann und 2008 seinen Titel gegen Kramnik erfolgreich im Wettkampf verteidigen konnte, ist er der einzige Schach-Weltmeister, der einen Weltmeistertitel in allen drei Formaten, K.o.-Turnier, Rundenturnier und Wettkampf gewinnen konnte.

Im Laufe seiner über 30 Jahre währenden Profikarriere hat Anand knapp 40 klassische Turniere, knapp 30 Blitz-, Schnellschachturniere und weitere Events und außerdem mehr als zehn Wettkämpfe, darunter drei Weltmeisterschaftskämpfe gewonnen.

Anand ist mit Aruna verheiratet, hat einen Sohn, Achill, und lebt, wenn er nicht in Europa unterwegs ist, in Chennai.

Anands Heirat mit Aruna 1996

Eine Zeitlang besaß Anand als Europastützpunkt ein Haus in der Nähe von Madrid. Dann verlegte er seine "Europazentrale" nach Bad Soden (bei Frankfurt), den Heimatort seines Freundes Hans-Walter Schmitt. Über viele Jahre hat er von hier aus an den Chess Classic in Frankfurt und Mainz, organisiert von Hans-Walter Schmitt, teilgenommen und gehört seit vielen Jahen zur Bundesliga-Mannschaft der OSG Baden-Baden, dem deutschen Vereinsrekordmeister. Hans-Walter Schmitt begleitete Anand zu allen WM-Kämpfen. Mit und von Hans-Walter Schmitt lernte Anand Deutsch, das er nun praktisch fließend spricht. Der erste Satz, den er von Schmitt gelernt hatte, weil er ihn so oft hören musste, war: "Ei babbel nich' so'n dumm' Zeuch!"

Hans-Walter Schmitt, Anand und Vincent Keymer, kürzlich beim Simultan in Bad Soden

Der große Vorteil, sich mit Anand auf Deutsch zu unterhalten, besteht darin, dass er in der Fremdsprache beim Reden nur halb so schnell spricht wie sonst. Das ist dann etwa so schnell wie der Gesprächspartner. In Englisch spricht er also doppelt so schnell und, wenn er dabei über Schachvarianten spricht, viermal so schnell wie die anderen.

In Indien ist Anand seit Jahrzehnten Volksheld, wurde mit unzähligen Auszeichnungen und Orden geehrt und hat in seinem Heimatland mit seinen Erfolgen einen wahren Schachboom ausgelöst. Schach ist in Indien nun absoluter Volksport, Bildungsgut und gehört zur guten Erziehung vieler Kinder aus den besseren Schichten.

Anand ist ein überaus geistreicher und humorvoller Gesprächspartner, der außer Englisch, Tamil und Deutsch noch eine Reihe weitere Sprachen spricht, Spanisch und Russisch fließend. Aus diesem Grund ist er überall ein beliebter Interviewpartner und Werbeträger, nicht nur in seiner Heimat. 

2008 in Bonn

Vor seinem Weltmeisterschaftskampf 2008 gegen Vladimir Kramnik in Bonn hat Anand zwei DVDs für ChessBase aufgenommen, in denen er einige seiner besten Partien zeigt und erklärt. 1998 erschien sein Buch "My best Games in Chess". In Kürze erscheint ein neues Buch von ihm, mit dem Titel "Mind Master".

My Career Vol. 1

Vishy Anand gilt als eines der größten Schachtalente aller Zeiten. Er ist der 15. Weltmeister der Schachgeschichte und war auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn auch im Schnell- und Blitzschach kaum zu besiegen. Auf dieser DVD spricht er über seine Laufbahn und präsentiert und analysiert die besten Partien seiner Schachkarriere bis zum Gewinn des Weltmeistertitels 2007 (in englischer Sprache).

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My Career Vol. 2

Vishy Anand gilt als eines der größten Schachtalente aller Zeiten. Er ist der 15. Weltmeister der Schachgeschichte und war auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn auch im Schnell- und Blitzschach kaum zu besiegen. Auf dieser DVD spricht er über seine Laufbahn und präsentiert und analysiert die besten Partien seiner Schachkarriere nach dem Gewinn der Schachweltmeisterschaft 2007.

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Master Class Band 12: Viswanathan Anand

Als Viswanathan Anand auf der europäischen Schachbühne erschien, hatte er in Indien schon einige Erfolge erzielt, die indischen Jugendmeisterschaften und als Jugendlicher auch die Landesmeisterschaften der Erwachsenen gewonnen. Mit gerade einmal 14 Jahren wurde Anand 1984 für die Schacholympiade in die indische Nationalmannschaft berufen. 1987 wurde er Juniorenweltmeister, 1988 verlieh die die FIDE dem 19-jährigen den Titel eines Großmeisters.

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Heute feiert Viswanathan Anand seinen 50. Geburtstag. Und auch mit 50 Jahren gehört er noch zu den weltbesten Spielern.

 

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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