"Wenn schon in der Hölle, dann erster Klasse"
Bent Larsen: 1935 geboren – 2010 gestorben. Ein geschlossenes, stark besetztes Turnier in Moskau 1962. Die festliche Eröffnung und Auslosung fand im Zentralen Schachclub statt. Auch wenn die ausländischen Teilnehmer bei der Losvergabe niedrige Nummern zogen (einmal mehr Weiß), so endeten sie in der Regel zum Schluss auf den unteren Rängen. Ich war mit Abstand der Benjamin dieses berühmten Turniers. Ein gesprächiger Däne war auch mit dabei. Wir beide hatten das gleiche Ziel, nämlich uns etwas von der russischen Elite abzugucken. Während unserer Unterhaltung musste ich feststellen, dass meine Englischkenntnisse genauso schwach waren, wie meine 1.c2-c4 - Englische Eröffnung. Die Turniertabelle ist bemerkens- und sehenswert.
Bent Larsen und Vlastimil Hort, Moskau 1962 (Foto: Vlastimil Hort)
Zu dieser Zeit studierte Bent noch, arbeitete aber nebenher beim dänischen Rundfunk. Dort war er in Sachen Kultur und Geschichte als Libero unterwegs. Wann ihn die Schachgöttin Caissa alle Brücken zur zivilen Berufswelt abrechen ließ, ist schwer zu sagen. Der große Individualist und Autodidakt konnte im Schach viel mehr und konkretes bewirken. Fleißig, tief bis in die Nacht klapperte seine Schreibmaschine. Alle seine Kommentare, Schachwerke, Ideen, Einfälle tragen den Stempel seiner Originalität. Die Schach-Theorie wurde durch seine außergewöhnlichen Impulse bereichert. Partien der Altmeister erfreuten sich durch ihn einer Reinkarnation. Larsens Eröffnung 1.b2-b3, Offene Spanische Variante - woher bloß nahm der Däne die Energie um auf so vielen Stühlen zu sitzen? Ein ewiger unschlagbarer Optimist. Bei kleinem Vorteil stand er schon auf Gewinn, in schlechterer Stellung war für ihn ein Remis immer noch drin. Lackschuh oder barfuß galt überall, wo er auftrat.
„Lieber Bent, seit unserer ersten Begegnung 1962 in Moskau ist sehr viel in der Weltpolitik passiert. Wir beide haben in unseren Partien immer, wie die zwei Bärchen auf der berühmten Postkarte, bis zum letzten Bauern gekämpft. Ruhe und Optimismus habe ich nie gehabt, verzweifelt versuchte ich daher Deine Lebensphilosophie zu kopieren. Du hättest auch gut ein Professor an der Karls Universität in Prag sein können. Der Vorlesungssaal wäre bis zum letzten Platz besetzt gewesen.
Deine Empfehlungen?
1. Wenn man schon in die Hölle muss, dann nur mit der ersten Klasse.
2. Jeder soll bis zur Vollendung seines dreißigsten Lebensjahres an Karl Marx glauben, wer danach jedoch seine marxistische Gesinnung behält, ist ein Narr.
3. These small Czechs like small checks.“
Ja, die letzte Weisheit war eine Anspielung und gleichzeitige Kritik an meiner Friedensbereitschaft in Stellungen, die ich seiner Meinung nach bis zum bitteren Ende hätte spielen sollen.
„Lieber Bent, ich versichere Dir, dass ich mir Deine Empfehlungen sehr zu Herzen genommen habe. Wenn ich reise, dann sehr oft in der ersten Klasse, politisch steh ich à la droite und als kleiner Tscheche akzeptiere ich am liebsten die großen Schecks mit vielen Nullen am Ende.“
In einem stark besetzten Turnier in Palma de Mallorca 1969 verlor Bent Larsen die ersten drei Partien. „Das macht nix“, meinte der ewige Optimist zu mir, „ich fühle mich sehr wohl und werde das Turnier sowieso gewinnen.“ Mir blieb die Antwort im Halse stecken.
San Antonio 1972. Church's fried chicken –Tournament. Während der Eröffnungszeremonie sitzen die Teilnehmer am großen Tisch zusammen. „Der erste Preis ist zu hoch“, klagte Petrosjan. Wir anderen gaben ihm Recht, denn auch wir waren für eine mildere Abstufung des Preisfonds. Doch die Organisatoren änderten nichts an der Ausschreibung. Warum? Bent Larsen war als einziger dagegen. Er war nach San Antonio gekommen, um den hohen ersten Preis nach Hause zu bringen. Hat Schach etwas vom russischen Roulette in sich?
Anatoly Karpov und Bent Larsen in der 3. Runde des Church’s International Chess Tournament, November 21, 1972. (Foto: San Antonio Express-News Collection, MS 360: E-0026-127-30)
Eine kleine Cessna mit vier Personen an Bord auf dem Weg von Gatwick nach Eindhoven, wo auf uns die Organisatoren von Tilburg bereits warteten. Bent Larsen hatte sehr gute Laune, weil er gerade das BBC-TV-Tournament in Brighton gewonnen hatte. Er schlug mich im Finale zwar erst in der fünften Blitzpartie, dafür aber waren seine Fernsehkommentare überaus bekannt und beliebt. Die Übertragungstechnik steckte damals allerdings noch in den Kinderschuhen. Deshalb musste ein total in schwarz gekleideter „Catman“ die Figuren auf dem Demobrett manuell bewegen. Für die Kommentatoren bedeutete dies, dass sie höllisch auf die Synchronisation aufpassen mussten.
Bent redete und redete im Flugzeug genauso wie im Fernsehstudio von Brighton ohne Pause. Er saß vorne neben dem Pilot, während ich hinten den ganzen Vorrat der Brechbeutel verbrauchte. In der Cessna war es schwül, up and down, Gewitter. Gott sei Dank hatten wir nach der Landung wieder festen Boden unter den Füßen. „These small Czechs don´t like small Cessnas“ scherzte Bent anschließend. Ich musste zwar lachen, nahm mir aber insgeheim vor, unsere nächste Partie in Tilburg unbedingt auf Gewinn zu spielen.
Was ich nach X-Jahren und mit Abstand über die Partie denke: Der Satz von Hamlet „to be or not to be“ ist weltberühmt. Wenn Hamlet Schachspieler gewesen wäre, dann hätte der Satz „to be two or not to be two“ gelautet haben können. Denn auch in den Schachpartien ist der Bauer auf b2 meistens vergiftet. In unserer Partie wäre der Zug 33…Ta1 „to be“ gewesen und ich hätte gewinnen können. Leider hab ich mich damals mit meinem Zug 33… Lh5 für „not to be“ entschieden.
Beograd 1970. UdSSR gegen den Rest der Welt. Bent Larsen spielte am ersten Brett, was ihm zur allgemeinen Überraschung Bobby Fischer überlassen hatte. Beide haben an ihren Brettern gewonnen (Larsen 2,5 aus 4; Fischer 3 aus 4). Am bekanntesten ist zwar die zweite Partie Larsen-Spassky 0-1, die in allen Schachzeitschriften abgedruckt wurde und als Evergreen in die Schachgeschichte eingegangen ist, aber ich behaupte, dass Larsen trotzdem hervorragend spielte. In der dritten Partie holte Larsen sich mit schwarz gegen Spassky den Punkt zurück. Spassky muss gespürt haben, dass Larsen in bester Form war. Die letzte Partie mit schwarzen Figuren überließ er daher gerne dem Ersatzmann Leonid Stein. Hatte Spassky Angst vor einer Blamage? Für den sowjetischen Reservespieler war in der super gespielten Partie von Larsen jedenfalls keinerlei Licht im dunklen Tunnel in Sicht.
"Bent Larsen", Zeichnung: Otakar Masek
"Boris Spassky", Zeichnung: Otakar Masek
"Leonid Stein", Zeichnung: Otakar Masek
Mich beeindruckt sehr eine ziemlich unbekannte Partie von Larsen (Jelen-Larsen) im Turnier Ljubljana/Portoroz 1972. Manchmal träume ich von der Frechheit seines schwarzen Königs. In den Ohren klingt mir dabei die bekannte Melodie vom Radetzky-Marsch, den die Wiener Philharmoniker zum Neuen Jahr immer zum Schluss als Zugabe präsentieren.
„Salon-Remisen“ waren niemals seine Sache! Seine Schach-Visitenkarte kann sich sehen lassen! In den sechziger Jahren ist der beste westliche Spieler zweifellos Bent Larsen. Sogar die sowjetische Schach-Weltmacht hatte vor dem wilden Wikinger Angst. Viermal qualifizierte er sich für die Kandidatenturniere. Er gewinnt eine ganze Reihe von Super-Turnieren. Im Januar 1971 erreicht seine Elo-Zahl 2660 Punkte, was klar die heutige Elo-Inflation dokumentiert.
Sein Weg, oder Flucht aus Dänemark über die Kanarischen Inseln (Las Palmas) nach Argentinien kann man mit dem Schicksal des berühmten französischen Schauspielers Depardieu vergleichen. Keiner von beiden wollte die ungerechtfertigten hohen Steuern bezahlen. Larsen wählt den Westen, Depardieu den Osten. Ich hoffe nur, dass er in der neuen Heimat seine Ersparnisse richtig investiert hat. Apropos, die argentinischen Steaks sind von bester Qualität. Ganz zu schweigen vom argentinischen Tango Milonga.
Die heutige FIDE tut nichts, aber gar nichts, gegen die riesige Inflation von Elo-Zahlen und Großmeister-Titeln. Es existieren viele GM, die kein einziges Mal ein durchschnittlich besetztes Turnier gewonnen haben und schwache Normen höchstens einmal im Leben erfüllt haben. Vorstellbar ist, dass die FIDE vernünftiger Weise einmal einen Super-Großmeistertitel ins Leben rufen wird.
„Du, lieber Bent, sitzt selbstverständlich dann auch post mortem in der ersten Reihe!