Berlin – Wijk aan Zee: Mit jedem Kilometer
wird es wärmer
Impressionen und O-Töne von Dagobert Kohlmeyer
Seit dem vergangenen Wochenende vereint Wijk aan
Zee wieder die besten Schachspieler der Welt zum traditionellen Jahresauftakt.
Bis auf Wladimir Kramnik, der wegen Krankheit fehlt, erfreuen sich Organisatoren
und Schachfans an den illustren Teilnehmerfeldern. Das Corus-A-Turnier 2006
weist mit einem ELO-Schnitt von 2716 die Kategorie 19 auf und wird nach fünf
Runden von Vishy Anand angeführt. Fährt der Inder seinen fünften Gesamterfolg
ein, dann würde er Rekordhalter bei diesem Schachfestival.

Vishy Anand

Veselin Topalov
Vor dem Turnier war man gespannt, wie sich der
neue FIDE-Weltmeister Weselin Topalow der Konkurrenz beim ersten Kräftemessen
nach seinem Titelgewinn präsentieren würde. Klar ist: Der Bulgare, der nach
Kasparow und Kramnik als dritter Schachspieler die magische Zahl von 2800
durchbrochen hat, will es seinen Anhängern sowie eventuellen Skeptikern zeigen,
dass sein fulminanter Auftritt in San Luis und die anderen großartigen
Turnierergebnisse des Vorjahres keine zufälligen Resultate waren.
Neben den beiden Topfavoriten wurde auch Peter
Leko vorher für einen vorderen Rang gehandelt. Der Ungar hat im Vorjahr hier an
der Nordseeküste gewonnen, ist also Titelverteidiger. Durch seine gestrige
Niederlage gegen Anand ist Peter aber erst einmal zurückgefallen.
Nach langer Pause von fast zehn Jahren kehrte
Gata Kamsky ins Weltschach zurück. Der Wahlamerikaner meldete sich schon beim
Weltcup in Sibirien eindrucksvoll zurück, wo er auf Anhieb wieder die
Qualifikation als WM-Kandidat für den laufenden Zyklus schaffte. Hier in Wijk
läuft es nicht so glatt. Man merkt, dass Gata die Spielpraxis fehlt.
Auch das B-Turnier weist mit Arkadij Naiditsch
aus Dortmund, Magnus Carlsen aus Norwegen, Koneru Humpy aus Indien, Katarina
Lahno aus der Ukraine und anderen eine interessante Besetzung auf.

Kateryna Lahno
Der Schachreporter startete am ersten Ruhetag im
kalten verschneiten Berlin. Ab Hannover hört die Schneedecke auf, mit jedem
Kilometer wird es wärmer. Der Intercity nach Amsterdam sowie Anschlusszug und
Bus für die letzten Kilometer sind auf die Minute pünktlich. Mit der Wärme
steigt auch die Spannung, wie es beim Festival in der legendären De Moriaan Hale
weitergeht.

Der Amsterdamer Zentralbahnhof



Ein Volk auf je zwei Rädern

In Wijk aan Zee ist zur Überraschung mal schönes
Wetter. Sonnenschein und plus 8 Grad, wer hätte das gedacht. Ab Donnerstagmorgen
aber regnet es schon wieder - das für Januar gewohnte Bild an der Nordsee. Diese
Umstände können die Top-Spieler, Openteilnehmer, Zuschauer und Journalisten aber
nicht stören. Schach findet glücklicherweise im Saale statt.
Beim Eintritt in die Halle wird man als
langjähriger Beobachter von der neuen, ungewöhnlichen Ausstattung überrascht.
Astronauten schweben an der Wand, man fühlt sich buchstäblich wie im Kosmos.
Wenn das die Spieler bei ihren Gedankengängen nicht beflügelt!

Kosmisches Ambiente

Der Autor in spielstarker Gesellschaft
Das Pressezentrum ist am Ruhetag nur wenig
besucht. Ich treffe den alten Kämpfer Alexander Beljawski, der sich dieses Jahr
in Gruppe B des vehementen Ansturms der Jugend erwehren muss (siehe seine
Verlustpartie in Runde 5 gegen Carlsen) und Arkadij Naiditsch. Der Dortmunder
hat einen glänzenden Start hingelegt, der zu weiteren Hoffnungen berechtigt.
Gewinnt Arkadij, kann er nächstes Jahr im A-Turnier spielen. Dazu muss er jedoch
am Freitag erst einmal die Hürde Magnus Carlsen nehmen.
Etwas später schauen Boris Gelfand und Alexander
Huzman herein - zwei Unzertrennliche. Die beiden Großmeister aus der früheren
Sowjetunion leben schon viele Jahre in Israel und arbeiten bereits seit 1990
zusammen. Huzman begleitet Gelfand zu fast allen Turnieren als Sekundant.
Der 37-jährige Boris Gelfand stammt aus Minsk und
hat schon für drei Nationalteams gespielt. Ende der 80er Jahre als ganz junger
Bursche noch für die Sowjetunion, mit der er bei der Mannschafts-EM 1989 und bei
der Olympiade 1990 in Novi Sad Gold holte. Im Jahre 1994 und 1996 spielte er für
Weißrussland bei der Schacholympiade. Seit 2000 sitzt Boris für Israel am
Spitzenbrett. Turin wird Gelfands vierte Olympiade für das Team seiner
Wahlheimat.

Bosri Gelfand beim Post lesen und Partien anschauen

Sein langjähriger Sekundant Alexander Huzman
Boris liest E-Mails
und schaut sich Kommentare an, die im Web über Wijk aan Zee zu lesen sind, vor
allem auf den russischen Internetseiten „ChessPro“ und „e3e5“. Dann geht er
wieder ins Spielerhotel. Am Donnerstag steht seine Weißpartie gegen Lokalmatador
Loek van Wely an. Sie geht remis aus. Gelfand liegt hinter Anand, Topalow und
Iwantschuk auf dem 4. Rang. Er möchte gern den Anschluss halten oder die da vorn
sogar einholen. Es ist Boris´ sechster Start in Wijk aan Zee. „Ich habe gute
Erinnerungen an 1994, als ich hier mein WM-Kandidatenmatch gegen Michael Adams
gewann. Danach kam ich bis ins Halbfinale, wo ich erst Anatoli Karpow unterlag.“
Inzwischen ist es
längst dunkel. Beim Weg zum Abendessen treffe ich Vishy Anand, der guter Dinge
ist und in diesem Jahr mit Topalow und Iwantschuk um den Turniersieg streitet.
Im Gewinnfalle wäre es der fünfte Triumph des Inders, das hat bei diesem Turnier
noch keiner geschafft. Anand und Kortschnoi verbuchten beim traditionellen
Schachfestival an der Nordsee bisher je vier Siege.
Wijk aan Zee ist ein kleiner, überschaubarer
Badeort. Auf Schritt und Tritt begegnen einem bekannte Gesichter. In einem
türkischen Restaurant unweit der De Moriaan Halle sitzt Familie Mamedjarow aus
Aserbaidschan. Der 20jährige Schakrijar Mamedjarow ist zweifacher
Juniorenweltmeister und hat die Schallmauer von 2700 schon durchbrochen. Er kam
als Vorjahreszweiter der B-Gruppe für den erkrankten Wladimir Kramnik ins
Turnier. Schakrijar wird von Vater Gamid (51) und Schwester Turkan begleitet,
die auch Schach spielt. Der Vater war früher Gewichtheber. Nicht ohne Stolz sagt
er: „Das Beste, was ich im Leben geleistet habe, sind meine Schach spielenden
Kinder“. Schakrijar hat seine bisherigen Partien alle mit Remis beendet. Wir
sind gespannt, wann er den ersten Punkt holt. Unterstützung vor Ort gibt ihm
Großmeister Rasul Ibrahimow. Der 25jährige steht Mamedjarow in Wijk aan Zee als
Sekundant zur Seite und fiebert mit ihm. So wie am Donnerstag, als Mamedjarow
seine schwierige Partie mit Schwarz gegen Topalow remis hält.

Familie Mamedjarow (Turkan, Gamid, Schakriajar) und Sekundant Rasul Ibrahimow

Die Schachfamilie im Presseraum
Ein Farbtupfer
in Wijk nicht nur in optischer Hinsicht ist Koneru Humpy aus Indien, die in der
B-Gruppe schon kräftige Akzente setzte. Unter anderem konnte sie
hier das Duell der Schachamazonen gegen Europameisterin Katarina Lahno (Ukraine)
für sich entscheiden. Im Pressezentrum kamen wir mit ihr ins Gespräch.


Koneru Humpy: „Judit Polgar ist mein Vorbild“
Die indische Großmeisterin ist eine der stärksten
Schachfrauen weltweit. Gegenwärtig nimmt die 18-jährige hinter Judit Polgar
bereits Platz 2 in der internationalen Rangliste ein. „Grund genug für die
Organisatoren in Wijk aan Zee, sie zum zweiten Mal einzuladen“, sagt
Turnierdirektor Jeroen van den Berg. Humpy wird von ihrem Vater Koneru Ashok
begleitet. Der 47-jährige besitzt Meisterstärke und hat seiner Tochter in den
90er Jahren das Spiel beigebracht. Noch heute trainiert er sie. Mit Erfolg, wie
man sieht.
Viele Schachfreunde in Europa bewundern dein
Spiel und bestaunen deine Erfolge, aber wissen nicht sehr viel über dich. Wo
stand deine Wiege?
Ich komme aus Vijayawada, einer Millionen-Stadt
im Süden Indiens im Bundesstaat Andhra Pradesh. Sie
liegt in der Nähe von Hydarabad, der Hauptstadt dieses Staates.
Was gefällt dir am Schach?

Es bietet unbegrenzte Möglichkeiten. Seit mein
Vater es mir mit fünf Jahren beibrachte, lässt mich das Spiel nicht mehr los.
Mein Vater hat inzwischen seinen Lehrerberuf aufgegeben, um sich ganz meiner
Karriere zu widmen. Ich bin glücklich, Schach erlernt zu haben. Man kann immer
wieder neue Turniere spielen und sich stets mit anderen messen.
Also, es war eine Liebe auf den ersten Blick?
Ja. Schon kurz nachdem ich die Züge konnte, habe
ich mein erstes Kinderturnier gespielt. Dann ging es step by step weiter. Bis
heute macht es mich froh und motiviert mich, wenn ich gewinne.
Wer ist dein sportliches Vorbild?
Ich mag besonders die Partien von Anand und bei
den Frauen von Judit Polgar. Mir gefällt ihr Stil sehr und die Tatsache, dass
sie sich so eindrucksvoll unter den besten Männern der Welt behauptet. Judit ist
phänomenal und meine Lieblingsspielerin. Ich eifre ihr nach.
Welches waren deine größten schachlichen
Erfolge?
Neben den WM-Titeln im Kinder- und Jugendbereich
sowie dem Junioren-WM-Titel ohne Zweifel das Erreichen des WM-Halbfinales 1994
in Elista. Hinzu kommt der alleinige Sieg beim Norduralcup, den ich im Sommer
2005 gewann. Bei diesem Superturnier in Krasnoturinsk konnte ich Weltmeisterin
Antoaneta Stefanowa und Europameisterin Alexandra Kostenjuk hinter mir lassen.
Danach bin in der Weltrangliste noch weiter nach oben gestiegen.
Möchtest du Weltmeisterin werden?
Es wäre schön. Aber die Konkurrenz ist enorm
stark. Wir werden sehen.
Auf welche deiner eigenen Partien bist du
stolz?

Das ist keine einfache Frage. Es sollen besser
andere beurteilen. Von diesem Turnier gefällt mir mein Spiel gegen Ivan
Cheparinow in der zweiten Runde ganz gut.
Dein Weg direkt zum Schacholymp der Damen, so
scheint es, ist nicht mehr aufzuhalten...
Ich hoffe es. Was Wijk aan Zee betrifft, so
spiele ich auf jeden Fall besser als bei meiner hiesigen Premiere in 2003. Das
zeigt, ich habe Fortschritte gemacht. Ich möchte sie auch im Frühjahr bei der
FIDE-WM der Frauen in Russland gern wieder unter Beweis stellen.
Text und Fotos: Dagobert Kohlmeyer