Vor 100 Jahren: München 1906 –
Nimzowitschs erster Turniersieg
Von Peter Anderberg (Harmstorf)
Die Ausrichtung des 12. Kongresses des Deutschen Schachbundes in München im
Juli/ August 1900 brachte dem Münchener Schachleben nach Jahren der Stagnation
großen Auftrieb. Neue Schachvereine wurden gegründet, die Durchführung von
Mannschaftswettkämpfen (als „Massenwettkämpfe“ bezeichnet) kam auf. Insbesondere
der Münchener Schachclub von 1836 und der Schachklub Altmünchen - 1885 von
ehemaligen Mitgliedern des Münchener Schachclubs gegründet - veranstalteten in
den folgenden Jahren bis 1914 immer wieder kleinere Turniere und Wettkämpfe
zwischen bekannten und (noch) weniger bekannten Meisterspielern, die sich
vorübergehend oder für längere Zeit in München aufhielten. Als Höhepunkt dieser
Entwicklung kann die Durchführung des zweiten (und umfangreicheren) Abschnittes
des WM-Kampfes Lasker - Tarrasch im Jahre 1908 angesehen werden.
Im November 1906 hatte der Schachklub Altmünchen sechs Spieler zu einem
doppelrundigen Turnier eingeladen, für das E. von Parish den Preisfonds von 200
Mark gestiftet hatte. Die Münchner Neuesten Nachrichten vom 8. November 1906
stellten ihren Lesern die Teilnehmer wie folgt vor:
Das Münchner Schachmeisterturnier hat am Dienstag im Schachklub „Altmünchen“
programmgemäß begonnen. Drei vom Deutschen Schachbund anerkannte Meister sind
darin mit drei sehr starken Hauptturnierspielern zu einem Wettkampfe vereinigt,
der über die Grenzen Bayerns hinaus sehr beachtet werden wird. Przepiorka
besitzt seit 1904, Spielmann und Erich Cohn haben seit 1906 rite die
Meisterwürde des DSB; Oberstleutnant Kürschner hat sich durch seinen Erfolg im
Ersten österreichisch-ungarischen Armeeturnier bekannt gemacht.
Eljaschoff blieb in Koburg 1904 nur um einen
halben Zähler hinter dem Meister zurück, und Nimzowitsch hat in Wien 1905
gezeigt, dass er den Meistern ebenbürtig zu kämpfen versteht.
Es
fällt auf, dass Aaron Nimzowitsch zu jener Zeit noch nicht als „Meister“,
sondern als „Hauptturnierspieler“ galt. Anfang 1903 war er von Königsberg nach
Berlin übergesiedelt. Im Hauptturnier des Deutschen Schachbundes in Coburg 1904
vermochte er nur einen Mittelplatz zu belegen. Von Wien aus begab sich
Nimzowitsch im April 1905 nach München, um - wie es in der Münchener Zeitung vom
29.04.1905 hieß - „dieses Semester an einer hiesigen Hochschule Vorlesungen zu
hören“. Ob es dazu tatsächlich gekommen ist, darf als durchaus fraglich
angesehen werden. In seiner Autobiographie erinnert sich Nimzowitsch vielmehr an
das „ewige Herumreisen von einem Schachcafé zum anderen“ und an den
„unregelmäßigen Lebensstil“. In diese Periode fällt auch sein Misserfolg im
Meisterturnier B des Barmer Schachkongresses 1905 (15.-16. Platz mit 6 Punkten
aus 17 Partien). Selbst der sonst so joviale Georg Marco attestierte bei einer
seiner Verlustpartien „mangelhafte Entwicklung der weissen Steine und ihres
Führers“ (Der Internationale Schach-Kongress des Barmer Schach-Vereins 1905, S.
316). Im Oktober 1905 immatrikulierte Nimzowitsch sich in Zürich, von wo aus er
am Münchener Turnier 1906 teilnehmen sollte.
Kommen wir zum Turnierverlauf:
Runde 1 (6. November 1906)
Cohn - Eljaschoff 1:0
Nimzowitsch - Spielmann ½:½
Przepiorka - Kürschner 1:0
Nimzowitsch gegen Spielmann
Bereits in der Startrunde des Turniers trafen der spätere Sieger und der
Zweitplazierte aufeinander. Nach interessantem Geplänkel endete die Partie mit
Remis durch Zugwiederholung.
Runde 2 (8. November 1906)
Eljaschoff - Kürschner 1:0
Spielmann - Przepiorka 0:1
Cohn - Nimzowitsch 0:1
Cohn gegen
Nimzowitsch
Nimzowitsch gewann gegen Cohn ein Damenendspiel, das er später als „eines der
besten Endspiele meines Lebens“ bezeichnen sollte.
Runde 3 (9. November 1906)
Nimzowitsch - Eljaschoff ½:½
Przepiorka - Cohn 1:0
Kürschner - Spielmann 0:1
Przepiorka gegen Cohn
Runde 4 (10. November 1906)
Eljaschoff - Spielmann 0:1
Cohn - Kürschner 1:0
Nimzowitsch - Przepiorka ½:½
In seiner Partie gegen Przepiorka wandte Nimzowitsch den nach Maroczy benannten
Sizilianisch-Aufbau (mit c2-c4) gegen die Drachenvariante an. Er konnte die
schwarze Dame gewinnen, musste dabei jedoch zuviel Material hergeben. Im
weiteren Partieverlauf ließ Przepiorka allerdings stark nach, so dass
Nimzowitsch schließlich Dauerschach herbeiführen konnte.
Eljaschoff gegen Spielmann
Nimzowitsch gegen Przepiorka
Runde 5 (13. November 1906)
Przepiorka - Eljaschoff 0:1
Kürschner - Nimzowitsch 0:1
Spielmann - Cohn 0:1
Przepiorka gegen Eljaschoff
Spiemann
gegen Cohn
Zwischenstand nach der Hinrunde:
1.-2. Nimzowitsch und Przepiorka je 3 ½ Punkte,
3. Cohn 3 Punkte,
4.-5. Spielmann und Eljaschoff je 2 ½ Punkte,
6. Kürschner 0 Punkte.
Runde 6 (16. November 1906)
Eljaschoff - Cohn 1:0
Spielmann - Nimzowitsch 0:1
Kürschner - Przepiorka 0:1
Eine der bekannteren Nimzowitsch-Partien. Als Nachziehender in einem
Falkbeer-Gegengambit (mit der Neuerung 3...c6) opferte er gegen Spielmann eine
Leichtfigur und konnte die unterentwickelte Stellung des Weißen förmlich
zermalmen.
Spielmann gegen Nimzowitsch
Runde 7 (17. November 1906)
Kürschner - Eljaschoff 0:1
Przepiorka - Spielmann 0:1
Nimzowitsch - Cohn 1:0
Przepiorka gegen Spielmann
Nimzowitsch gegen Cohn
Runde 8 (20. November 1906)
Eljaschoff - Nimzowitsch 0:1
Cohn - Przepiorka 1:0
Spielmann - Kürschner 1:0
Nimzowitschs Nachzugspartie gegen Eljaschoff hat in der Schachliteratur so gut
wie keine Beachtung gefunden. Beeindruckend, wie er - gegen jedes Dogma - nahezu
ausschließlich durch Bauern- und Damenzüge die Schwächen der weißen Stellung
auszunutzen vermag und eine Kurzpartie gewinnt.
Cohn gegen Przepiorka
Eljaschoff
gegen Nimzowitsch
Runde 9 (22. November 1906)
Spielmann - Eljaschoff 1:0
Kürschner - Cohn 0:1
Przepiorka - Nimzowitsch 0:1
Besondere Beachtung verdient die Partie Przepiorka - Nimzowitsch, dürfte es sich
hierbei doch um die in Vergessenheit geratene erste Turnierpartie überhaupt
handeln, in der die anfangs des 21. Jahrhunderts wieder beliebte „Rigaer
Variante“ der Spanischen Partie zur Anwendung kam. Seinen Namen trägt dieses
Abspiel nach einer durch Telegraph ausgetragenen Fernpartie der Berliner
Schachgesellschaft gegen den Rigaer Schachverein aus den Jahren 1906 bis 1908.
Simon Alapins Behauptung in der Wiener Schachzeitung 1910 (S. 218), dass die
Münchener Turnierpartie „schon sehr lange vor der Korrespondenzpartie Berlin -
Riga“ gespielt worden sei, trifft allerdings nicht zu, da die Fernpartie bereits
am 13.Oktober 1906 begonnen hatte und Emil Schallopp in seiner Schachkolumne in
der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 25.11.1906 berichten konnte, dass die
Partie bereits bis 10. Kh1 vorangeschritten war. Przepiorkas Zug 10. Kf1 erwies
sich als verfehlt, was damals natürlich noch nicht allgemein bekannt sein
konnte.
Spielmann gegen Eljaschoff
Przepiorka gegen Nimzowitsch
Runde 10 (24. November 1906)
Eljaschoff - Przepiorka ½:½
Nimzowitsch - Kürschner 1:0
Cohn - Spielmann 0:1
Ein inkorrektes Figurenopfer Cohns konterte Spielmann geschickt und sicherte
sich damit den zweiten Platz.
Cohn gegen
Spielmann
Alle übermittelten Notationen, alle Resultate...
(Die verwendeten Partiekommentare entstammen zeitgenössischen Quellen)
So also kam Nimzowitschs erster Turniersieg zustande, an den er sich in seiner
Autobiographie als „ungeheuren Erfolg“ erinnert.
Auch die als kritisch bekannte Redaktion des Deutschen Wochenschachs fand
lobende Worte:
[Nimzowitsch] ... hat ganz hervorragend gespielt und bewiesen, dass er auch in
jedem größeren Meisterturnier mit großen Ehren bestehen wird.
(Deutsches Wochenschach, 09.12.1906, S. 427)
Verwendete Literatur
Deutsche Schachzeitung 1906/07
Deutsches Wochenschach 1906/07
Süddeutsche Schachblätter 1907
Wiener Schachzeitung 1910
Allgemeine Zeitung 1906
Münchner Neueste Nachrichten 1906/07
Münchener Zeitung 1905/06
Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1906
Unser Hausfreund (Sonntagsblatt des Hannoverschen Courier) 1906/07
125 Jahre Münchener Schachclub 1836-1961 (München 1961)
Der Internationale Schach-Kongress des Barmer Schach-Vereins 1905 (Barmen
1905/06)
Gero H. Marten, Aron Nimzowitsch. Ein Leben für das Schach (Hamburg 1995)
Aaron Nimzowitsch, Wie ich Großmeister wurde
in: A. Nimzowitsch, Die Praxis meines Systems (Ludwigshafen 2006), S. 343-396.