Vor 170 Jahren: Die unsterbliche Partie
Es gibt sehr viele Partien, die zum goldenen Fonds der Schachkunst gehören. Aus ihrer Fülle ragen einzelne Meisterwerke noch heraus und bleiben für immer im kollektiven Gedächtnis. Manchmal genügen dafür nur 23 Züge! Kundige Schachfreunde wissen: Heute ist wieder einmal Jahrestag der „Unsterblichen“, die am 21. Juni 1851 in London von den beiden Schachromantikern Adolf Anderssen und Lionel Kieseritzky gespielt wurde. Der Sieger erntete reichlich Ruhm, doch auch der Verlierer verdient unseren Respekt.
Die Vorgeschichte
Im Sommer 1851 platzt die Hauptstadt des britischen Königreichs aus allen Nähten. Großbritannien ist dank der industriellen Revolution das fortschrittlichste Land der Erde. Es richtet im neu erbauten Crystal Palace die erste Weltausstellung aus. Die Londoner Hotels sind ausgebucht, auch 16 der weltbesten Schachspieler weilen in der Stadt. Im Rahmen der Ausstellung machen sie mit dem ersten internationalen Turnier Werbung für das königliche Spiel. Organisiert wird das Ereignis vom englischen Vorkämpfer Howard Staunton, der auch selbst am Wettbewerb teilnimmt. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es vor allem Zweikämpfe bekannter Schachmeister, nun erlebt die Welt das erste internationale Turnier der Schachgeschichte von Rang.
Mit von der Partie sind die nicht als Favoriten geltenden Adolf Anderssen und Lionel Kieseritzky. Der deutsche Schachmeister Anderssen verdient seinen Lebensunterhalt in Breslau als Gymnasiallehrer für Mathematik und deutsche Sprache. Er kann nur in den Ferien Schachwettkämpfe bestreiten. Der aus dem Baltikum stammende Lionel Kieseritzky ist Berufsspieler. Nach einem dubiosen Rechtsstreit muss er seine Geburtsstadt Dorpat (heute Tartu) Hals über Kopf verlassen. In Frankreich schlägt er sich nun als Schachprofi im berühmten Pariser Café de la Régence durch.
Adolf Anderssen
Adolf Anderssen wurde als Vertreter der Berliner Schachgesellschaft nach London entsandt. Zum großen Erstaunen der Öffentlichkeit gewann der Breslauer Mathelehrer das Turnier, welches im K.-o.-System ausgetragen wurde. Er verblüffte seine Kontrahenten und die Zuschauer mit einmaligen Kombinationen und Opferkaskaden, Das Publikum war begeistert. Im ersten Durchgang schaltete Anderssen Lionel Kieseritzky aus (2,5:0,5) und im Halbfinale, wo mehr Partien gespielt wurden, auch den großen Favoriten Howard Staunton (4:2). Der Engländer konnte diesen Misserfolg nicht verkraften. Was Staunton aber bleibt, ist das Verdienst, mit dem denkwürdigen Event die Zeit des modernen Turnierschachs eingeläutet zu haben.
Am 21. Juni 1851 treffen sich Anderssen und Kieseritzky am Rande des Turniers im berühmten Restaurant Simpson´s in the Strand zu einer freien Partie, die nicht zum Wettkampf gehört. Über das angesagte Lokal schreibt der bekannte amerikanische Schriftsteller und Schachautor David Shenk in seinem Buch „The Immortal Game - A History of Chess“: „Es war ein vornehmer Klub. Männer versammelten sich hier, um Zigarren zu rauchen, über Politik zu reden und Schach zu spielen. Für einen Shilling und Sixpence wurde der Gast mit Kaffee versorgt, bekam eine Zigarre und unbegrenzten Zugang zu den Schachtischen.“
Adolf Anderssen spielt mit den weißen Figuren. Er eröffnet konventionell mit 1.e2-e4. Kieseritzky hält mit seinem Königsbauern dagegen. Beide Spieler sind Anhänger der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten romantischen Schule. Das heißt, sie lieben es, anzugreifen, aggressiv und spektakulär zu spielen. Opfer werden dargeboten und meist auch angenommen. Bis zum 17. Zug ist es eine interessante, aber noch nicht außergewöhnliche Begegnung. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Anderssen hat einen Läufer weniger, dafür aber seine Figuren besser als Kieseritzky ins Spiel gebracht. Kieseritzky hat nur eine Dame und einen Läufer vorn, mit denen bedroht er jetzt allerdings die beiden weißen Türme.
David Shenk schreibt: „Anderssen ignorierte die kolossale Bedrohung, als ob er noch nicht einmal sehen würde, dass seine beiden Türme in höchster Gefahr waren. Wenn es Kieseritzky nicht besser gewusst hätte, hätte er diese Spielweise für die eines Stümpers halten können, der gerade einmal weiß, wie man die Figuren zieht.“
Buchcover
Anderssen verliert den ersten Turm und opfert danach auch noch den zweiten! Statt ihn zu schützen, macht er einen kleinen, unscheinbaren Bauernzug nach e5. Nachdem Kieseritzky auch noch den zweiten Turm kassiert hat, verpufft sein Angriff. Fünf seiner Offiziere stehen wie Zinnsoldaten immer noch wirkungslos auf der Grundlinie. Anderssen opfert sogar noch seine Dame, hat nur noch zwei Springer und einen Läufer, kann Kieseritzky aber trotzdem im 23. Zug mattsetzen. Ein Finale furioso, das dieses Spiel von knapp einer Stunde zur „Unsterblichen Partie“ macht.
„Heute sind solche Kombinationen kaum noch möglich“, meint der Schachtrainer Artur Jussupow. „Denn die Kunst der Verteidigung ist inzwischen viel höher entwickelt. Doch die tollen Mattbilder machen noch immer auf alle Schachjünger einen großen Eindruck.“ „Aus heutiger Sicht“, so der Großmeister, „haben die Schachromantiker Pionierarbeit geleistet. Die damaligen Kombinationskünstler waren Entdecker. Indem Anderssen solche Motive fand, hat er praktisch Neuland erschlossen. Seine Partie wird daher auch sehr gern bei vielen Schachfesten auf dem Großfeld mit lebenden Figuren gezeigt.“
Anderssen – Kieseritzky London 1851 Königsgambit
1.e4 e5 2.f4
Dieses Gambit war damals die beliebteste Eröffnung. Weiß opfert einen Bauern für schnelle Figurenentwicklung.
2...exf4 3.Lc4 Dh4+
Durch das Damenschach verliert der weiße König das Rochade-Recht. Schwarz muss den Ausflug der Lady aber teuer bezahlen. Sie benötigt jetzt etliche Manöver, damit sie vom Königsflügel verschwinden
4.Kf1 b5?!
Auch Schwarz gibt einen Bauern, um sich rasch zu entwickeln. Diese Fortsetzung löst jedoch nicht vollständig seine Probleme.
5.Lxb5 Sf6 6.Sf3 Dh6 7.d3 Sh5
Es droht Sg3+.
8.Sh4 Dg5 9.Sf5
9...c6
Angriff auf den Läufer. Richtig war 9…g6. Kieseritzky übersah wohl Anderssens folgende Attacke.
10.g4 Sf6 11.Tg1!
Ein geistreiches Figurenopfer.
11...cxb5?
Schwarz hätte das Geschenk nicht annehmen und besser 11...h5 spielen sollen.
12.h4
Nun kommt Weiß seinem Gegner zuvor.
12...Dg6 13.h5 Dg5
14.Df3
Stellt zwei Drohungen auf: 15.Lxf4 mit Gewinn der schwarzen Dame sowie 15.e5 mit gleichzeitigem Angriff auf den Springer f6 und den Turm a8.
14...Sg8 Ein trauriger, aber erzwungener Rückzug. Die Dame braucht ein Fluchtfeld.
15.Lxf4 Df6 16.Sc3 Lc5
Schwarz bringt den Läufer ins Spiel und nimmt den Turm g1 ins Visier, doch er steht bereits auf verlorenem Posten.
17.Sd5 Dxb2
18.Ld6!?
Dieser Zug wurde lange Zeit als genial bezeichnet und mit zwei Ausrufezeichen versehen. Schachkoryphäen wie Robert Hübner oder Garri Kasparow verweisen auf die noch stärkeren Gewinnfortsetzungen 18.d4, 18.Le3 und 18.Te1
18... Lxg1?
Schwarz ist zu optimistisch. Bereits 1879 nannte Wilhelm Steinitz 18...Dxa1+ als klügste Erwiderung für Schwarz mit der Folge 19.Ke2 Db2 20.Kd2 Lxg1. Hübner und Kasparow sehen nun 21.e5 La6! als forcierte Variante an mit den Abspielen:
1) 22.Sxg7+ Kd8 23.Dxf7 Kc8, und Weiß hält die Stellung remis;
2) 22.Sc7+ Kd8 23.Dxa8 Lb6 24.Dxb8+ Lc8 25.Sd5 La5+ 26.Ke3 Dc1+ mit Dauerschach.
19.e5!
Ein besonders schöner Moment und mitten im Sturm des Angriffs ein Ruhepunkt. Nach diesem stillen Zug ist das Schicksal von Schwarz besiegelt. Anderssen hat schon Turm und Läufer geopfert. Jetzt erlaubt er seinem Gegner auch noch, den zweiten Turm mit Schach zu schlagen. Aber der weiße Sieg ist nicht zu verhindern.
19...Dxa1+ 20.Ke2
Bei Kieseritzky endet die Notation an dieser Stelle. Einige Kommentatoren äußerten deshalb die Vermutung, Schwarz habe die Partie hier aufgegeben. Die Zeitzeugen Kling und Horwitz berichteten aber, dass sie mit 20...Sa6 fortgesetzt wurde und Anderssen drei Züge später mattsetzte.
20...Sa6
Sonst folgen 21.Sxg7+ und 22.Lc7 matt. Michail Tschigorin hat die mögliche Verteidigung 20...La6 untersucht. Auch dieser Zug konnte Schwarz nicht retten, war jedoch zäher.
21.Sxg7+ Kd8 22.Df6+!!
Nachdem Anderssen einen Läufer und zwei Türme gegeben hat, krönt er sein Kunstwerk mit einem Damenopfer. Das Matt ist nicht mehr abzuwenden.
22...Sxf6 23.Le7 matt.
Partie zum Nachspielen
Dieses Spiel wird niemals vergessen!
Kieseritzky gefiel die Partie so gut, dass er sie im Juli 1851 in der Schachzeitschrift La Régence veröffentlichte. In London wurde sie im The Chess Player publiziert, wo die Züge bis zum Matt angeführt sind. 1855 analysierte Conrad Bayer das Spiel in der Wiener Schachzeitung unter der Überschrift „Eine unsterbliche Partie“. Diese Bezeichnung wurde schließlich in viele Sprachen übernommen.
Ruhm auch dem Verlierer
Zu einer Schachpartie gehören immer zwei, und ohne Lionel Kieseritzky wäre die großartige Partie nicht gespielt worden. Sieger werden immer bewundert, für die Verlierer interessiert man sich weniger. Das ist sehr ungerecht, denn es gibt davon genauso viele wie Sieger. Adolf Anderssen bleibt bis heute eine starke Figur der Schachgeschichte, deren ruhmreicher Weg gut bekannt ist. Sein Kontrahent läuft hingegen Gefahr, vergessen zu werden. Daher rufen wir die kurze Vita des baltischen Meisters noch einmal ins Gedächtnis.
Lionel Kieseritzky
Lionel Kieseritzky wurde am 1. Januar 1806 in Dorpat, dem heutigen Tartu, als 14. und letztes Kind eines Rechtsanwalts geboren. Der Vater zeigte ihm schon als Dreijährigen, wie man mit Dame und Läufer mattsetzt. Sehr viel lernte Lionel von seinem Bruder Felix, der damals einer der besten Spieler der Stadt war. Bald überflügelte Lionel Kieseritzky nicht nur den Vater und seine Geschwister, danach hatte er auch in ganz Dorpat keine schachliche Konkurrenz mehr. Kieseritzky studierte Philologie und Jura und wandte sich dann der Mathematik zu. Nach der Universität arbeitete Kieseritzky eine Zeitlang als Notar, doch weil ihn die Mathematik mehr interessierte, wurde er Privatlehrer in diesem Fach. Er war in seiner Heimatstadt, wie es heißt „ein gesuchter und beliebter Lehrer“. Schließlich aber siegte die Liebe zum Schach, und Lionel Kieseritzky verließ 1839 nach einem Rechtsstreit (den er gewann) Dorpat, das damals zum Russischen Reich gehörte.
In Paris versuchte er sich als Schachprofi, doch es war nicht leicht, seinen Lebensunterhalt mit dem Denksport zu verdienen. Im Café de la Régence spielte der Ankömmling um Geld oder gab für fünf Francs die Stunde Schachunterricht. Nach dem Tode von Louis de la Bourdonnais galt Kieseritzky als einer der stärksten Schachspieler Frankreichs. 1846 reiste er nach London und gewann ein Match gegen den deutsch-britischen Meister Bernhard Horwitz mit 7,5:4,5. Fünf Jahre später nahm Lionel Kieseritzky dann am berühmten Turnier in der britischen Hauptstadt teil, wo es schließlich am Rande zu diesem denkwürdigen Spiel kam. Es war eine Reihe von 15 freien Partien, und Kieseritzky gewann deutlich mit +8-5=2. Doch darüber spricht heute niemand mehr; zu sehr überstrahlt die „Unsterbliche Partie“ alle anderen Spiele. Sie setzte Maßstäbe für Ästhetik und Schönheit im Schach.
Der Sieger Adolf Anderssen ist nach seinem großen Londoner Erfolg eine berühmte Persönlichkeit und so gut in Schwung, dass er von den folgenden sieben Turnieren sechs gewinnt. Als der Maestro aus Breslau 1879 stirbt, widmet ihm die Deutsche Schachzeitung einen ausführlichen Nachruf. Lionel Kieseritzky hat weniger Glück. Ihn plagen finanzielle und gesundheitliche Probleme. Am 19. Mai 1853, nur knapp zwei Jahre nach der „Unsterblichen Partie“, stirbt er in Paris. Ein Kellner aus seinem Lieblings-Schachcafé ist der einzige Trauergast auf seiner Beerdigung.
Lionel Kieseritzky bleibt als Schachromantiker in Erinnerung. Viele Siege errang er als Angriffsspieler mit dem nach ihm benannten Gambit 1.e4 е5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.h4 g4 5.Se5.