Die Revolution frisst ihre Kinder - Vor 20 Jahren: Erste Schach-WM im Knockout-System
In Georg Büchners Drama „Dantons Tod“ sagt dieser: „Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.“ Wir erinnern im heutigen Kalenderblatt an einen Revolutionsversuch im internationalen Schach, der vor genau zwanzig Jahren gestartet wurde und dem - in der Rückschau betrachtet - kein durchschlagender Erfolg beschieden war.
Am 8. Dezember 1997 wurde in Groningen die erste Schach-WM der Männer im Knockout-System eröffnet, zu der 100 Teilnehmer eingeladen waren. Die Idee dazu stammte von FIDE-Präsident Kirsan Iljumschinow, der zwei Jahre zuvor ins höchste Amt des Weltschachbundes gewählt worden war. Als Nachfolger des FIDE-Chefs Florencio Campomanes war der umtriebige Millionär aus Kalmückien angetreten, das Weltschach zu revolutionieren. Dazu gehörte nach seiner Meinung auch die Änderung des WM-Modus. Ihm schwebte ein Turnier á la Wimbledon auch in unserer Sportart vor.
Seit 1886 wurde der Schachweltmeister traditionell in langen Zweikämpfen ermittelt, wobei der Titelträger stets im Finale auf seinen Herausforderer wartete. Dieser musste entweder eine hohe WM-Börse aufbringen oder harte Qualifikationsmühlen durchlaufen. Iljumschinow fand das nicht mehr zeitgemäß und wollte daher ein neues Reglement einführen. Nach monatelangem Tauziehen um Teilnehmerkreis und Modus ließ der Schachpräsident das Vorhaben durch den FIDE-Kongress absegnen, was unterschiedliche Reaktionen auslöste. Die einen waren begeistert: „Endlich können viele Großmeister Geld verdienen.“ Die anderen, allen voran die Schachhistoriker, sagten: „Der Weltmeister kann nur in einem klassischen Match ermittelt werden!“
Zum Austragungsort des Spektakels wurde die traditionsreiche Schachstadt Groningen im Norden Hollands bestimmt, und am Vorabend des ersten Wettkampftages gab es in der Martinihal eine feierliche Eröffnung. Ich erinnere mich, wie Hollands damalige Sportministerin Erica Terpstra alle Anwesenden mit einer temperamentvollen Rede beeindruckte. Iljumschinow hielt seine Ansprache neben einem überdimensionalen Globus, womit auf die weltumspannende Wirkung der neuen WM-Idee verwiesen werden sollte. „Die Schachweltmeisterschaft findet unter dem Patronat des IOC statt. Wir wollen, dass unser Sport olympisch wird“, verkündete der FIDE-Chef stolz. Bei dem Wunsch ist es, wie wir wissen, bis heute geblieben.
Iljumschinow will die Welt erobern (Foto: Dagobert Kohlmeyer)
Kontroversen rief damals ein Beschluss des Weltschachbundes hervor, FIDE-Weltmeister Anatoli Karpow gleich für das WM-Finale zu setzen, das Anfang Januar 1998 in Lausanne über die Bühne gehen sollte. Profi-Champion Garri Kasparow hatte schon lange zuvor öffentlich dagegen protestiert und seine Teilnahme in Groningen kategorisch abgelehnt. Er sollte ursprünglich mit Karpow für das Halbfinale gesetzt werden, was ihn jedoch nicht überzeugte. Der Weltranglisten-Zweite Wladimir Kramnik boykottierte das Turnier im Norden Hollands ebenfalls.
Und so nahmen 98 Großmeister den Wettkampf um die Schachkrone auf, der über insgesamt sieben Runden ging. Gespielt wurden jeweils zwei Partien, bei Gleichstand entschied am folgenden Tag der Tiebreak (Partien mit verkürzter Bedenkzeit). 68 Großmeister bestritten die erste Runde. Zu den 34 Siegern dieses Durchgangs gesellten sich in der zweiten Runde die Top 30 der Weltrangliste. Mit der magischen Zahl 64 als Ausgangspunkt war dann rechnerisch alles klar für das olympische K.-o.-System. Bei späteren WM-Turnieren dieser Art wurde das Feld auf 128 Teilnehmer aufgestockt, und es gab keine Freilose für die Auftaktrunde mehr.
Smyslov 76 Jahre, Bacrot 14 Jahre
Ältester Teilnehmer in Groningen war Vassili Smyslov mit 76 Jahren, jüngster Spieler der 14jährige Franzose Etienne Bacrot. Der russische Exweltmeister hatte gute Erinnerungen an die Stadt. Er war bereits Teilnehmer am legendären Schachturnier 1946 in Groningen, wo er hinter Michail Botwinnik und Max Euwe den dritten Platz belegte. Nun kehrte er nach mehr als einem halben Jahrhundert noch einmal an diesen Spielort zurück. Smyslov wurde in der Auftaktrunde gegen seinen russischen Landsmann Alexander Morosevich ausgelost und unterlag ihm mit 0:2.
Smyslov in Groningen 1997 gegen Morosevich (Foto: Dagobert Kohlmeyer)
Nach der zweiten Partie fragte ich ihn: „Vassili Vassiljevich. Was sagen Sie zum neuen WM-Reglement?“ Der Grandseigneur erwiderte lakonisch: „Es trägt der Tatsache Rechnung, dass Schach heute weniger als Kunst, sondern mehr als kommerzieller Faktor gesehen wird.“
Wer in der ersten Runde ausschied, erhielt 6.000 Dollar. Von dieser Summe zog die FIDE 20 Prozent Steuern ab, also blieben Smyslov immerhin 4.800 Dollar, eine Summe, die um ein Vielfaches höher war als das bescheidene Preisgeld vom 1946er Turnier in Groningen. Da das Geld in Gulden ausgezahlt wurde, musste Vassili Smyslov, der von seiner Gattin Nadezhda begleitet wurde, eine Wechselstube aufsuchen. Er bat mich, ihm dabei zu helfen. Wir fanden eine im Bahnhofsgebäude von Groningen.
Vier deutsche Spieler
Zu den damaligen WM-Teilnehmern gehörten auch vier unter deutscher Flagge spielende Großmeister. Erinnert sich noch jemand daran, wer sie waren? Ich verrate es Ihnen: Der ehemalige WM-Kandidat Artur Jussupow wurde aufgrund seiner hohen ELO-Zahl eingeladen und war für die zweite Runde gesetzt. Thomas Luther und Stefan Kindermann hatten sich im Zonenturnier qualifiziert, und Roman Slobodjan erhielt seinen Startplatz als Jugend-Weltmeister von 1995.
Sie gaben Ihr Bestes und erreichten alle die nächste Runde. Roman Slobodjan gewann zu Beginn gegen den jungen Peter Leko mit 1,5:0,5 und schied in Runde 2 gegen Zurab Asmaiparashvili im Tiebreak aus. Thomas Luther besiegte am Anfang das ungarische Schachdenkmal Lajos Portisch nach Verlängerung mit 3,5:2,5 und wurde danach von Wladimir Akopjan gestoppt. Stefan Kindermann bezwang Alexander Yermolinsky 3,0:2,0 und schied dann gegen den Brasilianer Gilberto Milos mit 0:2 aus. Am weitesten kam Artur Jussupow, der im zweiten Durchgang gegen Helgi Gretarsson (Island) 1,5:0,5 gewann und in Runde 3 gegen den Ungarn Zoltan Almasi nach einem 0,5:1,5 ausschied.
Drei Wochen lang wurde in Groningen gekämpft, bis der Herausforderer von Anatoli Karpow feststand. Für das WM-Halbfinale in der Martinihal über vier Partien qualifizierten sich Vishy Anand und Michael Adams. Der indische Topfavorit hatte im Turnierverlauf Predrag Nikolic, Alexander Khalifman, Zoltan Almasi, Alexej Shirov und Boris Gelfand bezwungen. Der Engländer besiegte Giorgi Giorgadze, Sergej Tiviakov, Peter Svidler, Loek van Wely sowie seinen Landsmann Nigel Short.
Umkämpftes Finale
Das Halbfinale von Groningen wurde ein epischer Kampf. Nach vier Remispartien stand es 2:2. Auch die nächsten vier Spiele endeten unentschieden. Erst in der neunten Partie fiel die Entscheidung. Anand führte die weißen Steine, und Adams wählte die Caro-Kann-Verteidigung. Der Favorit brachte seinen Gegner am Ende in eine Zugzwang-Stellung, und im 65.Zug gab sich der tapfere Sportsmann Mickey Adams mit einem Lächeln geschlagen. Er hatte dem Schachzauberer aus Indien alles abverlangt.
Vishy Anand 1997 in Groningen (Foto: Dagobert Kohlmeyer)
Alle Parrien der K.o.-Weltmeisterschaft von Groningen 1997 (Quelle: Mega Database)
Tabelle...
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Wir schrieben den 30.Dezember 1997, und der Start für das WM-Finale in Lausanne war bereits für den 2. Januar 1998 angesetzt. Eine große Zumutung für Anand, der drei Wochen lang fast täglich gespielt hatte. Doch auch ohne Erholungspause lieferte er dem ausgeruhten Karpow einen beherzten Kampf. Aber das ist schon wieder eine neue Geschichte.
Unter Leitung von Groningens WM-Turnierdirektor Johan Zwanepol verfasste ein internationales Team, dem auch der Autor dieser Zeilen angehörte, das Buch „World Chess Championship Groningen/Lausanne 1997/98“.
K.o.-WM: Ein missglücktes Experiment
Zurück zum Ausgangspunkt unserer historischen Rückschau. Weltmeisterschaften im K.-o.-System fanden in der Folge noch 1999 in Las Vegas, 2000 in Neu Delhi und Teheran, 2001/02 in Moskau sowie 2004 in Tripolis statt. Die Sieger hießen Alexander Khalifman, Vishy Anand, Ruslan Ponomarjow und Rustam Kasimdschanow. Eine Wertschätzung wie die „klassischen“ Weltmeister erfuhren die in der „K.-o.-Lotterie“ ermittelten Champions allerdings nicht.
Seit 1993 war die Schachwelt nun schon gespalten, so dass sich die FIDE Mitte des vergangenen Jahrzehnts endlich zu einer Kehrtwende veranlasst sah. Über das WM-Turnier in San Luis 2005, das der Bulgare Veselin Topalov gewann, und den Vereinigungskampf in Elista 2006 zwischen Kramnik und Topalow sowie dem WM-Turnier in Mexiko-City, wo Anand siegte, fand man zum historisch anerkannten und bewährtem System der Ermittlung des Schachweltmeisters mit Kandidatenturnier und WM-Match zurück. Die Zahl der Finalpartien wurde aber, offensichtlich aus logistischen und Kostengründen, auf 12 reduziert. Übrig geblieben vom K.-o.-System ist bei den Männern der Weltcup, der alle zwei Jahre stattfindet und dessen zwei Finalisten sich für das WM-Kandidatenturnier qualifizieren. Das nächste findet im März 2018 in Berlin statt.
Bei den Damen hingegen wird die Titelträgerin noch immer im Zweijahresrhythmus alternierend im K.-o.-System und in einem Match ermittelt, was der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln ist. Die beste aktive Schachspielerin des Planeten, Hou Yifan aus China, weigerte sich zuletzt, ihren klassischen Weltmeistertitel im K.-o.-Modus zu verteidigen und stellte ihn damit zur Disposition. Die Figurenkünstlerin spielt derzeit, wie früher Judit Polgar, nur in Männerturnieren.
Was den „Revolutionär“ Iljumschinow angeht, so musste er sein Amt als FIDE-Chef vor einigen Monaten ruhen lassen, weil gegen ihn wegen verschiedener dubioser Geschäfte ermittelt wird. Zum WM-Finale 2016 in New York zwischen Carlsen und Karjakin erhielt er kein Einreisevisum. Seit vielen Jahren wird die FIDE-Spitze von Korruptionsvorwürfen verfolgt, was an der Undurchsichtigkeit liegt, mit der sie ihre Geschäfte abwickelt und an der Art, wie sie ihre Wahlen durchführt. Den Weltschachbund leitet jetzt kommissarisch der Grieche Georgios Makropoulos, der schon seit ewigen Zeiten als eigentlicher Strippenzieher in der FIDE gilt. 2018 stehen die nächsten Wahlen an. Was werden sie bringen…?