Vor 20 Jahren: Russland gegen den Rest der Welt

von Dagobert Kohlmeyer
08.09.2022 – Heute vor 20 Jahren, am 8. September 2002, begann ein Schnellschachwettkampf Russland gegen die Welt, mit den damals weltbesten Spielern. Die Russen wollten an die Wettkämpfe UdSSR gegen die Welt (1970 und 1984) anknüpfen. Doch es lief nicht wie gewünscht. Dagobert Kohlmeyer war damals vor Ort und berichtet aus einer besseren Zeit. | Foto: Barajew, Kramnik, Kasparow (Boris Dolmatowski), übrige Fotos: D. Kohlmeyer

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Vor zwanzig Jahren: Schachbeben im Moskauer Kreml

Am 8. September 2002 begann in Moskau ein Match zwischen Russland und dem Rest der Welt, auf das wir heute zurückblicken wollen. Die ersten Vergleiche dieser Art hatte die Sowjetunion gegen eine Weltauswahl 1970 in Belgrad und 1984 in London knapp gewonnen. Das waren „Auswärtsspiele“ für die große Schachnation - das prestigeträchtige Heimspiel jedoch haben die sonst so sieggewohnten Brettkünstler in den Sand gesetzt.

Am Ende stand es 52:48 für die Welt, denn in keiner Phase des Wettkampfes konnten die Großmeister um Garri Kasparow den Siegeszug der Gäste, die vom Inder Viswanathan Anand angeführt wurden, aufhalten. Der klare Vierpunkte-Vorsprung des Weltteams bedeutete auch für die Experten der Szene eine große Überraschung.

Die Basilius-Kathedrale

Im Gegensatz zu den ersten Vergleichen wurde bei diesem Event aus Zeit- und Kostengründen kein Normalschach gespielt, sondern mit verkürzter Bedenkzeit. Aber auch die Schnellpartien boten sehr viel Qualität, Spannung und Unterhaltung. Schauplatz war der schöne Bankettsaal im Kreml, wo ein Jahr zuvor auch die Knockout-WM mit dem Überraschungssieger Ruslan Ponomarjow (Ukraine) über die Bühne ging. Der Machtkampf an zehn Brettern entbrannte schon frühzeitig. Von Beginn an lag die Weltauswahl in Führung und ließ die Russen nie näher als einen Punkt an sich herankommen. Einen Dreizählervorsprung vom vorletzten Spieltag konnten die internationalen Stars am Ende sogar noch ausbauen.

Insgesamt vier Tage lang war Moskau von den Superhirnen okkupiert. Nicht weniger als sechs Schachweltmeister setzten dort ihre Figuren: Karpow, Kasparow, Kramnik, Anand, Khalifman und Ponomarjow. Jeder Turnierveranstalter wäre glücklich gewesen, ein so erlesenes Feld verpflichten zu können. Dass frühere WM-Titel aber nicht vor Niederlagen schützen, bekamen die russischen Schachikonen Karpow und Kasparow gleich zu Beginn schmerzhaft zu spüren. Garri Kasparow unterlag dem Ukrainer Wassili Iwantschuk mit Schwarz in einer Sizilianischen Partie und kam im zweiten Spiel des Tages gegen den Ungarn Peter Leko nicht über ein Remis hinaus. Karpow musste sogar eine doppelte Null hinnehmen: gegen Ilja Smirin (Israel) und den damals erst 15-jährigen Teimur Radjabow aus Baku. Der Aserbaidschaner, ein hochtalentierter Großmeister aus Kasparows Geburtsstadt, hatte damit seine Berufung in die Weltauswahl schon gerechtfertigt.

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Gespielt wurden insgesamt zehn Runden Schnellschach. Nach zwei Durchgängen führte das Welt-Team bereits mit 11,5:8,5 Punkten. Top-Scorer war zu Beginn Vishy Anand. Der Tiger von Madras fegte erst den russischen Meister des zurückliegenden Jahres, Alexander Motyljow, und danach dessen Landsmann Wadim Swjaginzew vom Brett. Am Abend des zweiten Tages stand der Kreml Kopf, und Judit Polgar war happy. Zum ersten Mal in ihrer Karriere hatte die First Lady des Schachs aus Ungarn Garri Kasparow besiegt. Ausgerechnet in dessen Wohnzimmer! Der stärkste Schachmeister des Planeten stand konsterniert vom Brett auf und überließ die Szene seiner Bezwingerin, die vom Publikum und den Kollegen begeistert gefeiert wurde.

Judit Polgar - Kasparow

Zu Beginn des zweiten Durchgangs hatte Großmeister Yasser Seirawan (USA) als Teamchef der Weltauswahl Judit Polgar gefragt, gegen wen sie an diesem Tag antreten wolle. Sie sagte. „Nur gegen Kasparow.“ Und so geschah es. Durch den Sieg der Ungarin führte die Weltauswahl zur Halbzeit mit 25,5:24,5. Bei dem knappen Vorsprung war zu diesem Zeitpunkt noch alles offen. Dennoch zeigte die Schachnation Nr. 1, in deren Reihen nicht weniger als vier Weltmeister spielten, weiter überraschende Schwächen. Das Welt-Team präsentierte sich einfach etwas homogener und taktisch besser eingestellt. Nachdem es bei Judit zum Auftakt nicht so lief, pausierte sie für zwei Partien, um dann Kasparow mit den weißen Steinen in einem Spanier eindrucksvoll zu besiegen.

 

 

 

Die Budapesterin war damals schon seit über einem Jahrzehnt beste Großmeisterin der Welt. Sie trat in Turnieren nur gegen Männer an, wo man mehr lernen und vor allem mehr verdienen konnte. Die nötige Härte dazu impfte ihr einst Vater Laszlo Polgar ein. Der Schachfanatiker vertrat die Ansicht, dass in jedem Kind ein Genie steckt. Seine drei Töchter Zsuzsa, Sofia und Judit bekamen keine Puppen, ihr Spielzeug waren Schachfiguren. So züchtete er Weltklassespielerinnen heran, die bei der Schacholympiade Mannschaftsgold für Ungarn und jede Menge Einzeltitel holten. Zsuzsa, die Älteste, wurde 1996 Frauen-Weltmeisterin, Sofia schlug schon als 14-Jährige bei einem Turnier in Rom die halbe Weltelite. Judit aber wollte mehr und spielte fortan nur noch in Männerturnieren. Dort erbeutete sie viele Skalps prominenter Schachgrößen. Der von Kasparow fehlte bis zum denkwürdigen Abend in Moskau noch. „Dieser Sieg gehört zu den absoluten Highlights meiner Karriere“ erklärte die damals 26-jährige Schachkönigin, die auf ihren Reisen inzwischen von ihrem Ehemann, einem Arzt aus Budapest, begleitet wurde.

Spasski und Rasuwajew kommentieren

Bebtschuk, Wasjukow, Rasuwajew

Das Nationalgetränk Wodka

Am Rande des Events konnte man viele bekannte Gesichter erblicken, denn natürlich war auch viel Schachprominenz vor Ort. David Bronstein, Boris Spasski, Jewgeni Wasjukow, Juri Rasuwajew und andere gaben sich die Ehre und waren gefragte Kommentatoren. Der freundliche David Bronstein signierte mir sein legendäres Buch „David gegen Goliath“.

Der Autormit David Bronstein

Die meisten der genannten Schachhelden leben heute nicht mehr. Nur der tapfere, jetzt an den Rollstuhl gefesselte Boris Spasski, der heute wieder in Moskau wohnt. Er sagte mir damals: „Dieser Wettkampf ist natürlich nicht mit dem zu vergleichen, den wir 1970 in Belgrad gegen eine Weltauswahl spielten. Da waren noch mehr Rivalität und auch mehr Klasse drin.“

Spasski im Interview

Unvergessen ist die brillante Partie, in der Boris dort mit Schwarz den stärksten Großmeister Westeuropas, Bent Larsen aus Dänemark, in nur 17 Zügen schlug. Sie ging als die Perle von Belgrad in die Schachgeschichte ein.

 

 

 

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Unter den Kiebitzen im Kreml waren auch drei unschuldige Schach-Wunderkinder. Ich nahm sie vorsichtshalber auf, denn man konnte ja nie wissen… Und tatsächlich: Jahre später, als ihre Zeit gekommen war, kämpften sie (und tun es noch immer) sogar um die Weltmeisterschaft.

Foto: Sergej Karjakin, Katerina Lagno, Jan „Nepo“

Einer von ihnen hat, was die Moral angeht, längst seine Unschuld verloren. Sergej Karjakin, der Putins Krieg offen unterstützt „hat sein Gehirn deaktiviert“, schrieb eine Zeitung. Dabei gehöre das Denken doch zu den Stärken eines Großmeisters. Nachdem Karjakin den Ruf des Schachspiels derart beschädigt hatte, wurde er von der FIDE für das diesjährige Kandidatenturnier gesperrt. Der Kriegsgegner Nepo zeigte als Mitunterzeichner eines offenen Briefs von russischen Spitzenspielern an Putin eine furchtlose Haltung. Nach seinem erneuten Sieg im Kandidatenturnier kann er im kommenden Jahr zum zweiten Mal nach der Schachkrone greifen.

Während die aufstrebenden Großmeister Russlands in dem Wettkampf 2002 in Moskau solide Leistungen boten, waren Kasparow, Karpow und Kramnik überhaupt nicht im Bilde. Zwar fing sich Karpow im Turnierverlauf und gewann am Schlusstag zweimal, doch Kasparow brachte seine Normalform nie aufs Brett und verlor drei Partien, was bei ihm eine absolute Seltenheit war. Man muss es so hart formulieren: Der Weltranglistenerste war in dem Wettkampf ein totaler Ausfall. Bester Spieler des Matchs wurde Alexej Schirow (er spielte für Spanien), der als einziger 7,0 Punkte aus zehn Partien erzielte, bester Russe Alexander Morosewitsch mit 6,0 Punkten. Ungeschlagen blieben allein die beiden Finalisten der FIDE-WM 2002, Wassili Iwantschuk und Ruslan Ponomarjow aus der Ukraine. USA-Großmeister Yasser Seirawan, der das Welt-Team erfolgreich coachte, genehmigte sich beim Abschlussbankett einen guten Whisky.

Die russischen Spieler hingegen hatten keinen Anlass zum Feiern. Der gelungene Schnappschuss meines Kollegen Boris Dolmatowski mit Barejew, Kramnik und Kasparow, oben als Titelbild, zeigt ihr großes Erstaunen in einer Schrecksekunde des Wettkampfes.

Der denkwürdige Wettkampf zeigte, dass die Vormachtstellung der russischen Männer im Weltschach langsam bröckelte. Das beispiellose staatliche Förderungssystem der Sowjetunion gab es nicht mehr. Der heutige Machthaber im Kreml hat nichts für den Denksport übrig. Schach wurde nun der Privatinitiative von Mäzenen und Geschäftsleuten überlassen. Was die einstigen Teamkollegen Kasparow und Karpow betrifft, so sind sie in ihren politischen Ansichten Lichtjahre voneinander entfernt. Der eine bekämpft Putin seit vielen Jahren, der andere hält als Duma-Abgeordneter seine Füße still.

Die Russen gewannen nur noch einmal bei der Olympiade 2002 in Bled, dann war Schluss. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hießen die Olympiasieger im offenen Turnier mehrmals Ukraine, Armenien, China, einmal USA, und zuletzt sorgte ein junges Team aus Usbekistan mit der Goldmedaille für eine Sensation. Die Usbeken wollen jetzt gern selbst eine Schacholympiade ausrichten. Sie bewerben sich für 2026 für das Turnier der Nationen. Im Gespräch als mögliche Austragungsorte sind Taschkent oder das wunderschöne Samarkand. Wie es mit der Schachnation Russland weitergeht, ist unklar. Sie ist heute international sanktioniert und isoliert. Wird der prestigeträchtige Denksport aus dem größten Land der Erde auswandern?

Das historische Museum

Ein Hochzeitspaar

Im Kaufhaus GUM

Matroschka-Stand

Die Impressionen aus dem Moskauer Zentrum im September 2002 zeigen: Es waren andere Zeiten und vor allem eine andere Welt…


Dagobert Kohlmeyer gehört zu den bekanntesten deutschen Schachreportern. Über 35 Jahre berichtet der Berliner bereits in Wort und Bild von Schacholympiaden, Weltmeisterschaften und hochkarätigen Turnieren.