Vor 20 Jahren: Thriller am Genfer See

von Dagobert Kohlmeyer
02.01.2018 – Heute vor 20 Jahren, am 2. Januar 1998, begann in Lausanne der Wettkampf um die Weltmeisterschaft zwischen Viswanthan Anand und Anatoly Karpov - unter kuriosen Bedingungen. Anand hatte sich über das K.o-Turnier in Groningen qualifiziert, musste dann nach Lausanne reisen und dort ohne Vorbereitung und Pause weiterspielen.

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Der Thriller am Genfer See - Vor 20 Jahren begann das WM-Finale Karpov-Anand in Lausanne

Die besten Schachspieler der Welt haben zum Jahreswechsel ihre Bretter bei der WM im Schnell- und Blitzschach in Riad verlassen. Der unverwüstliche Vishy Anand wurde dort Rapid-Champion und fügte seiner stolzen Kollektion einen weiteren Titel hinzu. Im Blitzen holte er zudem Bronze. Als 48-Jähriger mischt der mehrmalige Weltmeister aller Formate aus Indien, wie wir sehen können, noch immer kräftig in der Schachelite mit, obwohl mit Magnus Carlsen & Co längst eine neue Generation von Supergroßmeistern herangereift ist. „Forever young“ könnte man in Anlehnung an den berühmten Song von Bob Dylan sagen.

Für uns wieder einmal Anlass zu einem Rückblick in die jüngere Schachgeschichte. Anand wird sich besonders an den heutigen Tag vor zwanzig Jahren erinnern, als er im WM-Finale von Lausanne gegen Anatoli Karpov die erste Partie spielte. Vor genau zwei Jahrzehnten griff er am Genfer See nach der Schachkrone und lieferte seinem erfahrenen Gegner aus Russland vom 2. bis 9. Januar 1998 einen großen Kampf. Wir erinnern an dieses markante Ereignis, das die Fortsetzung und den Höhepunkt der ersten Knockout-Weltmeisterschaft darstellte, die im Dezember 1997 in Groningen begonnen hatte.

Im vorigen Monat haben wir bei ChessBase-News auf das lange WM-Turnier im Norden der Niederlande zurückgeschaut, aus dem Anand damals als Sieger hervorging. Ohne Erholungspause musste er danach am Silvestertag nach Lausanne reisen, wo der ausgeruhte Karpov auf ihn wartete. Der russische Exweltmeister war für das WM-Finale gesetzt, was viele als ungerecht empfanden. Der zu dem Zeitpunkt stärkste Schachspieler des Planeten, Garri Kasparow, hatte in Groningen nicht teilgenommen und auf den seit 1886 anerkannten Modus verwiesen, bei dem der Champion stets in Zweikämpfen über viele Partien ermittelt wurde. Auch Wladimir Kramnik, damals Nr. 2 der Weltrangliste, hatte seinen Start abgesagt, weil er die Privilegien für Karpov nicht anerkannte. Der amtierende FIDE-Weltmeister war für das Finale gesetzt, während sein Herausforderer Anand sich in Groningen im kräftezehrenden Wettbewerb mit 96 Konkurrenten qualifizieren musste. Der „Tiger von Madras“ hatte schon 23 Partien gespielt, ehe er am 2. Januar 1998 erstmals Karpov gegenübersaß.

Schauplatz des Schachspektakels war das Olympische Museum in Lausanne, direkt am Genfer See gelegen. FIDE-Präsident Kirsan Ilyumshinov fand beim damaligen IOC-Chef Juan Antonio Samaranch offene Ohren und Hände. Der Hausherr des schönen Gebäudes am Genfer See kassierte von ihm für das WM-Finale eine „Saalmiete“ in Millionenhöhe.

Das Olympische Museum in Lausanne (Foto: Dagobert Kohlmeyer)

Die Seeschlange

2. Januar 1998. Der IOC-Chef eröffnet die Auftaktpartie mit dem symbolischen ersten Zug, indem er Karpovs Damenbauer zwei Felder nach vorn rückt. Eine große Traube von Fotografen umringt den Tisch, ich darf meine Aufnahme von der anderen Seite machen.

Keiner im Saal ahnt in diesem Moment, dass diese Partie über 108 Züge gehen und somit das bis dato längste Auftaktspiel eines WM-Finales wird. Der sonst so kühle Stratege Karpov bringt im 31.Zug ein phantastisches Damenopfer, das Anand nicht auf der Rechnung hatte. Im Endspiel mit zwei Türmen und zwei Bauern gegen Anands blanke Dame zwingt der Russe seinen 18 Jahre jüngeren Gegner nach sechsstündigem Kampf zur Kapitulation.

 

Auf diesen Paukenschlag folgt am nächsten Tag eine Spanische Partie, die auch nicht fehlerfrei, aber wiederum sehr spannend ist und in der Anand schließlich das bessere Ende für sich hat.

 

Im dritten Spiel, das nur 19 Züge dauert, riskiert keiner der beiden etwas, so dass sehr früh das erste Remis vereinbart wird. Danach folgt der einzige Ruhetag in Lausanne.

 

Ihre Auszeit nutzen Anatoli Karpov und Viswanathan Anand zur Erholung und zum Nachdenken. Der Titelverteidiger sowie sein Herausforderer ziehen sich mit ihren Sekundanten-Teams zurück, um neue Varianten für die letzten drei der insgesamt sechs Partien auszubrüten. Um nicht nur den Geist zu trainieren, spielt Karpov mit seinem Fitnesscoach Valery Krylov noch Tennis. Die Matchpause können beide Schachstars gut gebrauchen. Sie haben sich zu Beginn des WM-Finals zwei aufregende Partien geliefert und es erst im dritten Spiel ruhiger angehen lassen. Die ersten beiden Duelle boten alles, was Schach so reizvoll macht: Überraschende Manöver, Figurenopfer, Mattangriffe, Zeitnot und verhängnisvolle Fehler. So scheute der sonst so kühle Karpov in der längsten WM-Auftaktpartie aller Zeiten nicht vor einem Damen-Opfer zurück, um dann seinen Stellungsvorteil gekonnt zu verwerten. Anand schlug jedoch im zweiten Spiel zurück und nutzte einen Fehler des Champions zum Ausgleichstreffer. Dann folgte das Kurzremis, und beim Stand von 1,5:1,5 war der Ausgang des Kampfes um die Schach-Krone des Weltverbandes FIDE so offen wie am Anfang.

Schach olympisch? – eher nicht

Täglicher Beobachter des königlichen Spiels war der oberste Olympionike Juan Antonio Samaranch. Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, der als Schirmherr das WM-Match mit dem ersten Zug eröffnet hatte, stand dem Ansinnen der FIDE, Schach zur olympischen Disziplin zu machen, grundsätzlich freundlich gegenüber. Doch müsste die Föderation einige Bedingungen erfüllen: So solle der Verband mit seinem Präsidenten Kirsan Ilyumshinov künftig mehr Einheit zeigen, und es dürfe nach Ansicht von Samaranch, dem Kasparow vor Groningen einen offenen Brief geschrieben hatte, nur einen Schach-Weltmeister geben.

Ich erhalte am Ruhetag die seltene Gelegenheit, Samaranch zu interviewen. Sein Büro ist imposant; der Spanier sitzt hinter einem riesigen Schreibtisch und empfängt den Reporter freundlich. Obwohl von kleiner Statur, strahlt Samaranch bedeutend mehr Charisma aus als seine beiden Nachfolger im höchsten IOC-Amt. Der Mann aus Barcelona hat den Profisportlern den Weg nach Olympia geebnet und in seiner langen Amtszeit utopische Geldsummen für die Vermarktung der Spiele organisiert. Ich erinnere mich noch gut, wie Samaranch im Jahre 1980, damals noch spanischer Botschafter in Moskau, am Rande der dortigen Olympischen Spiele zum IOC-Präsidenten gewählt wurde. Sein Gegenkandidat war der Westdeutsche Willi Daume. Die sozialistischen Länder stimmten geschlossen gegen ihn und für den Spanier. Das ist Sportgeschichte.

IOC-Präsident Samaranch (Foto: Dagobert Kohlmeyer)

Bei unserem Gespräch in Lausanne interessiert mich natürlich vor allem die Frage, ob Schach überhaupt eine reelle Chance hat, olympisch zu werden. Er selbst spiele nicht gut Schach, sagt Samaranch lächelnd, nur hin und wieder mit seinen Enkeln. Was die führenden Schachprofis angehe, so seien dies interessante Leute.

Finden Sie, dass Schach eine richtige Sportart ist?

Nun, das ist kompliziert. Wir haben etwa 200 Länder auf der Erde. In der Hälfte von ihnen wird Schach als Sport anerkannt, in der anderen wird es mehr als Teil der Kultur betrachtet. Wir brauchen eine klare Definition, was Sport ist.

Es gibt doch harte Wettbewerbe im Schach.

Das Hauptkriterium des Sports ist der Wettbewerb, richtig. Dieses wird vom Schach erfüllt. Bei anderen Kriterien ist es schwieriger, wenn wir zum Beispiel den physischen Aspekt betrachten. Natürlich müssen die Spitzenspieler im Schach fit sein, ganz klar. Aber es ist keine Bewegungssportart.

Also sind die Chancen für die Denksportler gering, dass ihre Disziplin olympisch wird?

Wir müssen die Sache step by step angehen. Schach ist ja inzwischen als offizielles Mitglied der olympischen Familie anerkannt. Mit der Änderung des WM-Modus als Knockout-Turnier hat die FIDE einen interessanten Schritt getan. Das großartige Finale findet hier im Olympischen Museum statt, prima. Wie es weitergeht, wird die Zukunft zeigen.

Wo könnte denn Schach überhaupt seinen Platz finden: bei olympischen Sommer- oder Winterspielen?

Es gibt eine klare Definition für die Winterspiele. Die dort involvierten Sportarten müssen mit Eis und Schnee verbunden sein. Sonst könnte man Schach natürlich im Winter spielen. Und was die Sommerspiele angeht, so gibt es dort eine sehr lange Schlange von attraktiven Sportarten, die olympisch werden wollen. (Dass viele Disziplinen telegener als Schach sind und höhere Einschaltquoten bringen, fügt er nicht hinzu.)

Der Reporter bedankt sich und weiß Bescheid: Das wird sicher nichts mit Ilyumshinovs großem Olympiatraum. - Zwanzig Jahre sind seither vergangen, ohne dass sich etwas in die gewünschte Richtung bewegt hat. Aber wir Schachspieler haben ja unsere eigenen Olympiaden.

Finale furioso

Tags darauf geht das WM-Match weiter. Für Karpov spricht, dass er wesentlich ausgeruhter an den Genfer See reisen konnte. Anand musste sich erst drei Wochen lang durch das „Kandidatenturnier“ in Groningen quälen. Doch er hat in der vierten Partie Aufschlag. Kann er etwas daraus machen? Karpov wählt die Caro-Kann-Verteidigung, die auch andere Weltmeister vor ihm wie Capablanca, Botwinnik oder Petrosjan gern spielten. Schwarz löst alle Eröffnungsprobleme, und nach einigen ungenauen Zügen Anands, dessen weiße Stellung etliche Bauernschwächen aufweist, sorgen zwei Freibauern von Karpov an den Flügeln für die Entscheidung. Es ist der erste Schwarzsieg des Russen gegen Anand überhaupt.

 

Nach einem umkämpften fünften Spiel, das im 55. Zug remis endet, steht es 3:2 für Karpov.

 

Anand hat keine Wahl: er muss die sechste Partie gewinnen, um das Match offen zu halten. Und er schafft es, indem er den Trompowsky-Angriff auspackt! In einer spannenden Auseinandersetzung erzwingt der Inder tatsächlich den Ausgleich und damit die Verlängerung, was ihm jeder gönnt.

 

 

Laut Reglement gibt es noch am gleichen Tag den Tiebreak, bei dem Anand als einem der weltbesten Schnellschach-Spezialisten gute Chancen eingeräumt werden. Hat Karpovs letzte Stunde als Weltmeister geschlagen? Nein! In dieser Situation kommen dem Routinier zwei entscheidende Umstände zugute: die Professionalität seines Moskauer Fitnesstrainers und Anands Nervosität. Valery Krylov geht mit Karpov in dessen Ruheraum, lässt ihn Jackett und Hemd ausziehen und massiert Schultern und Rücken seines Zöglings, um die Spannung aus dem Körper zu nehmen.

Dann beginnt der entscheidende Kampf mit verkürzter Bedenkzeit. Kann Anand die notwendige Spannung noch einmal hochhalten? In der ersten Partie erspielt er sich eine hervorragende Stellung und hat zehn Minuten mehr Bedenkzeit auf der Uhr als sein erfahrener Gegner. Dann aber unterlaufen ihm unerklärliche Fehler, die zum Verlust des Spiels führen.

 

Auch im letzten Duell kann der Inder das Blatt nicht mehr wenden. Er überzieht seine Stellung und geht mit fliegenden Fahnen unter. Ein bitteres Ende des außergewöhnlichen WM-Finales für Vishy. Doch jeder weiß, dass die Zukunft diesem sympathischen Spieler aus dem Mutterland des Schachs gehört.

 

Anatoli Karpov ist noch einmal davongekommen und trägt den Titel FIDE-Weltmeister noch ein Jahr, ehe er in Las Vegas von Alexander Khalifman und 2000 von Anand entthront wird, der die Knockout-WM in Neu Delhi sowie das anschließende Finale in Teheran gegen Alexei Schirov souverän gewinnt.

Master Class Band 6: Anatoly Karpov

Auf dieser DVD geht ein Expertenteam Karpovs Spiel auf den Grund. In über 7 Stunden Videospielzeit (jeweils komplett deutsch und englisch) beleuchten die Autoren vier wesentliche Aspekte von Karpovs Spielkunst.

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Hoher Besuch

Am Ende des WM-Finales in Lausanne erscheint überraschend Michail Gorbatschow. Es ist ein freundlicher Januartag am Genfer See, als der russische Politiker auftaucht, der von Iljumschinow zur Siegerehrung eingeladen wurde. Vom Match sieht Gorbi nichts mehr, denn kaum hatten die beiden Schachspieler ihren letzten Zug getan, verschwanden sie vom kleinen Podium, auf dem sie gesessen hatten, um sich für die Siegerehrung frisch zu machen. Indessen standen wir, eine kleine Schar ausgewählter Journalisten, mit dem Ehrengast Gorbatschow etwa eine Viertelstunde um den Tisch herum, auf dem Brett und Figuren des spannenden Kampfes noch im Licht der Scheinwerfer glänzten.

Michail Gorbatschow (Foto: Dagobert Kohlmeyer)

Michail Sergejewitsch ergriff einen der weißen Steine, drehte ihn in der Hand und erzählte von einer denkwürdigen Begegnung mit dem Schachspiel. „Es war während des Krieges im Kaukasus, und die Leute bei uns haben sich damals, wenn sie keine Holzfiguren besaßen, ihre Schachsteine selbst geschnitzt. Obwohl sie große Not litten, war es für sie sehr wichtig, ihren Geist mit dem Schachspiel zu stärken. Dieses Erlebnis von damals habe ich bis heute nicht vergessen. In Russland ist Schach nicht umsonst Nationalsport“

Wir waren beeindruckt, von der schlichten Art, in der Gorbatschow zu uns sprach. So wie ein Vater, der seinen Kindern etwas ganz Normales möglichst plausibel erklärt. „Der Mann hat Weltpolitik gemacht“, dachte ich bei mir. „Und er ist doch so einfach, wie nur irgendein Mensch sein kann.“

Beim Herausgehen aus dem Olympischen Museum, wo das Match stattgefunden hatte, fing mich ein Fernsehteam des WDR ab, das eine Sendung über die Schach-WM drehte.

„Sie sind ein bekannter Schachreporter. Was sagen Sie über den Weltmeister Karpov?“ „Was heißt bekannt, der bekannteste Mensch steht dort im Saal“, erwiderte ich, bevor ich die Frage beantwortete: „Mit Karpov ist es wie mit einem guten Wein. Je älter er wird, umso besser spielt er.“ Etwas Klügeres fiel mir in diesem Augenblick nicht ein. Gorbatschow hätte sicher bessere Worte gefunden.

Ilyumshinov, Karpov, Gorbatschow (Foto: Dagobert Kohlmeyer)

Das alles ist zwanzig Jahre her. Was wird in zwei Jahrzehnten sein? Vielleicht setzt der Schachzauberer Anand dann immer noch die Figuren auf sehr beachtlichem Niveau. - Good luck, Vishy!

My Career Vol. 1

Vishy Anand gilt als eines der größten Schachtalente aller Zeiten. Er ist der 15. Weltmeister der Schachgeschichte und war auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn auch im Schnell- und Blitzschach kaum zu besiegen. Auf dieser DVD spricht er über seine Laufbahn und präsentiert und analysiert die besten Partien seiner Schachkarriere bis zum Gewinn des Weltmeistertitels 2007 (in englischer Sprache).

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My Career Vol. 2

Vishy Anand gilt als eines der größten Schachtalente aller Zeiten. Er ist der 15. Weltmeister der Schachgeschichte und war auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn auch im Schnell- und Blitzschach kaum zu besiegen. Auf dieser DVD spricht er über seine Laufbahn und präsentiert und analysiert die besten Partien seiner Schachkarriere nach dem Gewinn der Schachweltmeisterschaft 2007.

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Dagobert Kohlmeyer gehört zu den bekanntesten deutschen Schachreportern. Über 35 Jahre berichtet der Berliner bereits in Wort und Bild von Schacholympiaden, Weltmeisterschaften und hochkarätigen Turnieren.

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