Der Titelverteidiger
Wladimir Kramnik wollte in jenem Herbst nur eines: seinen Titel verteidigen. Alles andere sollte nach dem Match kommen. Dazu gehörten auch Fragen zur Schachpolitik, die der Weltmeister in jenem Moment nicht hören mochte und ganz bewusst beiseiteschob. Nicht nur für ihn war das Duell von Brissago das wichtigste Schachereignis des Jahres. Kramnik war mit seinem Team noch bis vor kurz vor dem Beginn im Trainingslager und bereit zum Kampf gegen den ehrgeizigen Peter Léko. „Es liegt alles in meiner Hand. Wir beide sind universelle Spieler. Wenn du heute Erfolg bei einer WM haben willst, musst du ein Gewinnertyp sein.“ Als wichtige Voraussetzungen dafür betrachtete Wladimir einen ganzen Komplex von Bedingungen: tiefes Schachverständnis, gute Vorbereitung, körperliche Fitness und mentale Stärke. „Wenn man Weltmeister werden will, muss man auf allen Gebieten gleichermaßen stark sein.“
Wladimir Kramnik
Master Class Band 11: Vladimir Kramnik
Mit dieser DVD kann man am Vorbild eines der besten Spieler der Schachgeschichte und mit den Erläuterungen der Autoren (Pelletier, Marin, Müller und Reeh) lernen, wie man Partien strategisch erfolgreich anlegt, seinen Gegner auf diese Weise permanent unte
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Befragt zur Arbeit mit dem Computer, sagte der amtierende Champion aus Russland: „Die Maschine ist sehr wichtig, aber man darf sie nicht ständig zu Rate ziehen. Entscheidend ist die eigene Kreativität am Brett. Meine Trainer arbeiten permanent mit dem Computer, ich nicht!“
Kramnik lobte den zuverlässigen Sponsor und die hervorragenden Spielbedingungen im Centro Dannemann, die er schon im Januar bei seinem erfolgreichen Simultan-Wettkampf gegen die deutsche Nationalmannschaft (2,5:1,5) vorfand. Es liegt direkt am malerischen Lago Maggiore. „Kein Vergleich mit dem tristen Gebäude der „Riverside Studios“ in London, wo vier Jahre zuvor mein WM-Duell gegen Kasparow stattfand.“
Das Centro Dannemann am Lago Maggiore
Der Herausforderer
Peter Léko hatte sich für das Highlight seiner Karriere ebenfalls viel vorgenommen. Im Auftaktspiel von Brissago führte er die weißen Steine. Dort musste der Ungar aber noch Lehrgeld zahlen, weil Kramnik ihn im Endspiel ausmanövrierte. Schon für 1999 hatte Peter angekündigt, der künftige Weltmeister zu sein. Bei der Knockout-WM in Las Vegas klappte das nicht. Was ihm zu seinem 20. Geburtstag noch nicht gelang, sollte nun fünf Jahre später Wirklichkeit werden. Diesem Ziel ordnete Peter Léko alles unter. Er lebte äußerst diszipliniert, trainierte acht Stunden täglich, trank und rauchte nicht. Große Unterstützung gaben ihm Ehefrau Sofia und sein Schwiegervater Arschak Petrosjan, die mittlerweile in Peters Heimatstadt Szeged lebten. Peter Léko hatte unglaubliche Ausdauer. Der „Marathonmann“ wollte eigentlich Fußballer werden, entschied sich aber für Schach. Er war fit und austrainiert, nach dem Grundsatz, dass Körper und Geist sich immer in guter Balance zueinander befinden müssen. Der mental starke, sehr zähe Verteidiger ist in der Lage, auch schwierigste Stellungen zu halten. Darum konnte ihn in seiner besten Zeit kaum einer schlagen. Das wusste natürlich auch Wladimir Kramnik, der im klassischen Schach gegen den ungarischen Großmeister sogar einen leicht negativen Score hatte: „Peter ist der unangenehmste Gegner für mich“, sagte der Russe damals ganz offen.
Léko hatte sich zu Hause und an einem unbekannten Ort in aller Stille auf den Wettkampf seines Lebens vorbereitet. Selbstbewusst und konzentriert ging er an seine Aufgabe heran und sagte einen harten Kampf voraus: „Einige rechnen mit einer Reihe von Remis-Partien. Ich dagegen kündige scharfe Varianten an.“ Welche das sein würden, verriet Peter natürlich nicht. Er wollte die Antwort im Centro Dannemann am Brett geben.
Peter Léko
Die Teams
Eine wichtige Rolle bei jedem Weltmeisterschaftskampf spielen immer die Trainer der Finalisten. Kurz vor Matchbeginn stellte das Centro Dannemann in einer Presseerklärung die Teams der beiden Spieler vor. Wladimir Kramnik wurde wie schon bei seinem WM-Duell gegen Kasparow in London von den Großmeistern Jewgeni Barejew (Russland) und Miguel Illescas (Spanien) unterstützt. Nicht zu seinen Sekundanten gehörte diesmal Joel Lautier. Der Franzose war als ACP-Präsident Matchdirektor in Brissago und damit zur Neutralität verpflichtet. Für ihn nahm Wladimir seinen Landsmann und Freund Peter Swidler mit ins Boot. Der Supergroßmeister aus St. Petersburg sollte eine Verstärkung sein. Das Team von Peter Léko konnte sich ebenfalls sehen lassen. Es bestand aus dem Armenier Wladimir Akopjan, dem FIDE-Vizeweltmeister von 1999 in Las Vegas, Peters Schwiegervater Arschak Petrosjan und Großmeister Wladislaw Tkatschijew (Frankreich).
Lékos Team: Petrosjan, Akopjan, Tkatschijew
Der Macher
Last but not least Carsten Hensel, ohne den das WM-Match am Lago Maggiore nicht zustande gekommen wäre. Der Dortmunder Manager beider Supergroßmeister bereiste im Vorfeld mehr als 20 Länder, um Gespräche zu führen und solvente Sponsoren sowie einen geeigneten Ausrichter für das Duell zu finden. Es gab etliche Offerten, aber keine war so gut und vor allem so seriös wie die vom Centro Dannemann aus der Schweiz. Wie viel Engagement und Energie so eine Suche kostet, kann nur jemand ermessen, der schon einmal ein Sportereignis wie eine Weltmeisterschaft organisiert hat.
Carsten Hensel hat darin Erfahrung. Er arbeitete früher als Pressesprecher der Stadt Dortmund, betreute Großprojekte in der Westfalenhalle wie Tischtennis-, Box- oder Eishockey-WM und seit Anfang der 1990er Jahre die internationalen Schachtage im Revier. Nun widmete er sich seit über als zwei Jahren total dem Schachmanagement, das nach seinen Worten ein Fulltimejob von mehr als 12 Stunden täglich ist. Hensel kümmerte sich um Turnierkonzepte und Strategien seiner beiden Schützlinge, um Pressearbeit und Marketing, Lizenzen sowie um die Organisation der Wettkampfreisen von Kramnik und Léko.
Léko, Hensel, Kramnik
Der ehemalige Tischtennis-Juniorenmeister aus Dortmund ist nur Hobbyschachspieler, aber kennt das internationale Schachgeschäft ganz genau. Auf den Weltverband FIDE, der nur seine eigenen Interessen sieht und selten zu seinen Beschlüssen steht, baute Carsten Hensel längst nicht mehr. „Die Zusammenarbeit mit dem Centro Dannemann ist ein Glücksfall für das Schach“, sagte der damals 46-Jährige. „Wenn Brissago ein Erfolg wird, sind dort weitere Events von internationalem Rang in enger Zusammenarbeit mit der Spielerorganisation ACP möglich.“ Doch der Firmenchef von Dannemann, Christian Burger, verstarb leider 2007 viel zu früh.
Zwei Herzen schlugen in Hensels Brust, wenn er an den Ausgang des Weltmeisterschaftskampfes in Brissago dachte. Carsten war und ist mit beiden Spielern befreundet und wusste, dass es einen Verlierer geben würde. „Und bei diesem werde ich sein, denn am Ende gibt es genug Leute, die dem Sieger zujubeln“.
Als am Sonnabend, dem 25. September, der erste Zug der Weltmeisterschaft getan war, konnte Carsten Hensel sich wie die Veranstalter zurücklehnen, aus dem Fenster des Centro Dannemann auf den Lago Maggiore sehen und die Freude genießen, ein wichtiges Kapitel Schachgeschichte mitgestaltet zu haben.
Karpov eröffnet den Wettkampf, rechts: Joel Lautier
Der Verlauf des WM-Matchs im Centro Dannemann war mehr als kurios. Kramnik gewann die erste und letzte Partie, Léko das fünfte und achte Spiel. In Partie 5 eröffnete Peter zum ersten Mal mit dem Damenbauern und gewann, und in der achten Partie gelang ihm mit dem Marshall-Angriff ein brillanter Schwarz-Sieg.
Die 8. Partie, kommentiert von Rainer Knaak:
Zehn Partien endeten remis. Manche waren kurz, denn Kramnik hatte gesundheitliche Probleme. Der 25-jährige Ungar bot seinem um vier Jahre älteren Gegner einen beherzten Fight und wäre um ein Haar erster Schach-Weltmeister seines Landes geworden. Vor der letzten Partie führte Léko mit 7:6, doch der WM-Modus und das Glück waren gegen ihn. Denn Kramnik erreichte mit einer Energieleistung in der großartigen Schlusspartie den Ausgleich.
Die 14. Partie, kommentiert von Rainer Knaak:
The Fashionable Caro-Kann Vol.1 and 2
Das dynamische Spiel, basierend auf einem starken strategischen Fundament, hat mich von jeher fasziniert, und ich habe auf diesen DVDs die Varianten vorgeschlagen, die ich auch persönlich in der Praxis bevorzuge.
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Beide Spieler teilten das Preisgeld und kassierten je 500 000 Schweizer Franken. Das 7:7-Unentschieden genügte dem Russen laut Reglement, um die Schachkrone zu behalten, die er im Jahre 2000 gegen seinen Landsmann Garri Kasparow erobert hatte. Kasparow hatte 1987 beim WM-Duell in Sevilla ebenfalls im letzten Spiel gegen seinen Erzrivalen Anatoli Karpow den Sieg noch aus dem Feuer gerissen. Beispiele für solche Dramatik gibt es noch mehr in der langen Schachgeschichte. So führte der Österreicher Karl Schlechter 1910 in seinem WM-Match gegen den Deutschen Emanuel Lasker vor der letzten Partie. Dieser aber gewann das entscheidende Spiel, glich aus und blieb Weltmeister.
„Ich musste alles geben. Léko ist ein unglaublich starker Verteidiger. Für mich war das Duell schwieriger als der WM-Kampf in London gegen Kasparow“, kommentierte der alte und neue Champion den Endstand.
Das Lächeln des Weltmeisters