ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024
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Die Schachwelt schaute vor dreißig Jahren am 7. September 1993 nach London, wo das WM-Match zwischen Garri Kasparow und Nigel Short begann. Bei dem anderen Duell in den Niederlanden saßen Anatoli Karpow und Jan Timman schon am Brett (wir erinnerten am Montag daran). Die Vorgeschichte des Londoner Zweikampfes war ebenfalls turbulent, denn beide Finalisten hatten sich ein halbes Jahr zuvor auf Grund vieler Querelen mit dem Weltverband (FIDE) von diesem getrennt und beschlossen, ihr Duell in Eigenregie zu vermarkten. Nachdem Kasparows Wunschkandidat Los Angeles abgesprungen war und auch andere Orte wie das von der FIDE vorgesehene Manchester nicht den von ihm und Short gewünschten Preisfonds aufbringen konnten, gingen sie selbst auf Sponsorensuche. Mit der Londoner „Times“ fanden sie schließlich einen renommierten Geldgeber. Das berühmte Blatt war bereit, eine WM-Börse von 1,7 Millionen Pfund (damals etwa drei Millionen Dollar) zu bieten.
Beide Großmeister kannten sich seit der Jugendweltmeisterschaft 1980 in Dortmund, als Garri Kasparow gewann und Nigel Short Zweiter wurde. Echte Freunde waren sie nie, doch nun schlossen sie ein Zweckbündnis, um ihre Interessen durchzusetzen. Sie gründeten die Professional Chess Association (PCA). Mitgliederzahl: 2! Später schlossen sich dort viele Schachprofis an, um ihre Verdienstmöglichkeiten zu verbessern. Kasparow galt als haushoher WM-Favorit, aber Short hatte auf dem Weg ins Finale Großes geleistet und in den Kandidatenmatches Jonathan Speelman, Boris Gelfand, Anatoli Karpow und Jan Timman ausgeschaltet. Vor allem sein überraschender Sieg über das lebende Schachdenkmal Karpow wurde von der Öffentlichkeit mit Bewunderung zur Kenntnis genommen. Dennoch räumte man dem amtierenden Weltmeister Garri Kasparow natürlich die allergrößten Chancen ein, seinen Titel zu verteidigen.
Garri Kasparow in London
Vor dem Match ließ der Schachzar wie gewohnt seine Muskeln spielen und erklärte: „The Match will be short. Mein Gegner wird fallen wie die Berliner Mauer.“ Zu dem Zeitpunkt fand das Amber Turnier in Monte Carlo statt, wo der Engländer mitspielte. Er stand den markigen Aussagen Kasparows nicht nach. „Man tötet nicht die Figuren, man tötet den Gegner. Mein Job ist es, in Kasparows Kopf zu kriechen und seine Ängste zu finden.“ Am 31. März 1993 kommt Englands bedeutendste Tageszeitung mit der Schlagzeile „Times brings world chess championship to London“ heraus. Short studiert beim Turnier in Monaco im Pressezentrum mit Wohlgefallen den Artikel auf der Titelseite, wo auch das Preisgeld von 1,7 Millionen Pfund Sterling genannt wird. Das Geschäftliche lohnt sich also für beide, aber der Preis ist hoch: Sie werden von der FIDE disqualifiziert, Kasparow verliert seinen amtlichen Titel und der andere Rebell das Recht, offizieller Herausforderer zu sein. Doch sie pfeifen darauf, und Kasparow erklärt: „Die FIDE macht sich lächerlich. Jeder weiß, wer die Nr. 1 ist.“ Und Short lässt durchblicken, dass für ihn das große Geld jetzt Vorrang hat.
Master Class Band 7: Garry Kasparov
Auf dieser DVD geht ein Expertenteam Kasparovs Spiel auf den Grund. In über 8 Stunden Videospielzeit beleuchten die Autoren Rogozenko, Marin, Reeh und Müller vier wesentliche Aspekte von Kasparovs Spielkunst: Eröffnung, Strategie, Taktik und Endspiel.
Am 7. September strömen die Schachliebhaber nach Charing Cross, dem geografischen Mittelpunkt Londons. Schon bei der Ankunft von Kasparow und Short warten Hunderte Fans in der schmalen Straße vor der Spielstätte, dem berühmten Savoy Theatre. Auch der Spielsaal ist voll, nachdem die Veranstalter die Eintrittspreise in letzter Minute gesenkt haben. Der billigste Platz kostet jetzt 20 Pfund. Fast 300 Journalisten sind akkreditiert, mehr als doppelt so viele wie beim FIDE-Match in Holland. Die Fotografen stehen in Viererreihen vor der Bühne. Sie wollen den Beginn des Matchs zwischen dem russischen Champion und dem ersten westlichen Herausforderer seit Bobby Fischer festhalten.
Das WM-Theater
Ab 15.30 Uhr Ortszeit sprechen die Figuren. Hauptschiedsrichter ist der legendäre Juri Awerbach, damals 71 Jahre „jung“. Der russische Multifunktionär leitete schon viele bedeutende Wettkämpfe und gilt als absolute Autorität. Short hat nichts dagegen, dass Awerbach ein Landsmann Kasparows ist. Co-Schiedsrichter ist dafür ein Engländer. Die erste Partie wird symbolisch von Großmeister Raymond Keene eröffnet. Sie verläuft am Ende äußerst dramatisch.
Juri Awerbach drückt die Uhr
Kasparow führt zum Matchbeginn die weißen Steine und eröffnet überraschend mit 1.e4. Short erwidert 1…e5, und die erste Partie in London wird ein Spanier. Nach 25 Zügen ist die Zeitnotphase erreicht, in der Kasparow später einen Fehler begeht. Sein Remisangebot im 38. Zug wird von Short abgelehnt, der einen Bauern mehr hat und auf Gewinnchancen im Endspiel hofft. Doch kurz darauf hält Awerbach die Uhr an und erklärt Kasparow zum Sieger. Was ist passiert? Der Engländer hat in der für ihn günstigen Stellung bei seinem 39. Zug die Bedenkzeit überschritten. Wenige Sekunden später wäre das bei seinem Gegner auch passiert. Allgemeine Verwirrung im Saal, bis alle das Ergebnis mitbekommen haben. Hinterher räumt Kasparow ein, unschön gewonnen zu haben. Aber ein Punkt ist ein Punkt. Das zweite Spiel endet nach einer weiteren Zeitnotschlacht remis. In der dritten Partie startet Short einen Königsangriff, den Kasparow abwehrt und gewinnt. Das nächste Spiel geht ebenfalls an den Weltmeister. Er führt jetzt mit 3,5:0,5, die ersten Kommentatoren sprechen schon von einer Hinrichtung. Die Partien 5 und 6 enden mit einer Punkteteilung, im siebenten Spiel gewinnt Kasparow wieder und baut seinen Vorsprung aus. Dann sickert die Nachricht durch, dass Short sich von seinem Chefsekundanten Lubomir Kavalek getrennt hat. Jetzt arbeiten nur noch Robert Hübner und Jonathan Speelman für ihn. Das hindert Nigel aber nicht daran, in der nächsten Partie mit Garri ein echtes Kunstwerk zu schaffen.
Nigel Short in London
Der 23. September erlebt das spannendste Spiel dieser Weltmeisterschaft. Die 8. Partie wird lange im Gedächtnis der Schachwelt bleiben, denn beide Finalisten schaffen eine Glanzpartie, in der ein atemberaubender taktischer Kampf auf dem Brett stattfindet. Nach Shorts beherztem Angriff und einer erstaunlichen Abfolge von Schlägen und Gegenschlägen tritt das Spiel in die Zeitnotphase ein. In seinem 38. Zug vergibt Weiß den Sieg und übersieht Kasparows rettendes Dauerschach. Kurz darauf endet die großartige Partie unentschieden.
Die Schachwelt sah eine kleine „Unsterbliche“. Kasparow sagt hinterher: „Das war kämpferisches Schach, wie es das Publikum liebt. Die Partie wird in die Schachgeschichte eingehen.“
Am nächsten Spieltag gewinnt Garri Kasparow wieder und führt jetzt überlegen mit 7:2. Es folgen drei Remispartien, so dass es zur Halbzeit des Wettkampfs 8,5:3,5 steht. Der Champion kann damit mehr als zufrieden sein.
Zu Beginn der zweiten Matchhälfte bin ich pünktlich in London. Nachdem die erste Halbzeit der anderen Weltmeisterschaft in Holland Geschichte ist, kann ich jetzt auch Garri und Nigel, das andere ungleiche Paar, in Aktion erleben. Das Pressezentrum befindet sich links neben dem Savoy Hotel im berühmten Restaurant „“Simpson’s-in-the-Strand“. Dieses war Mitte des 19. Jahrhunderts als „Simpson’s Divan and Tavern“ das bedeutendste Schachlokal Londons. Dort spielte Anderssen seine „Unsterbliche“ gegen Kieseritzky. In den Tagen des PCA-Matchs bildet das gediegene Lokal ein würdiges Ambiente für das WM-Pressezentrum und die Analyseräume. Alles ist besser ausgestattet als die Räume in Zwolle, Arnheim oder Amsterdam, es sind mehr Journalisten vor Ort, aber die Zahl der Fotografen ist weniger geworden, so dass ich ohne Probleme Aufnahmen von den beiden Schachstars machen kann.
Vor der 13. Partie
Endet eine Partie remis, kommen beide Spieler zur Pressekonferenz auf die Bühne, im Falle einer entschiedenen Partie nur der Sieger. Es ist in der Regel Kasparow, denn Short hat bisher noch kein einziges Spiel gewonnen. Am 13. und 14. Wettkampftag erleben wir zwei weitere Remispartien, bis Kasparow im 15. Spiel erneut gewinnt. Er führt jetzt mit 10,5:4,5. Die 16. Partie bringt den ersten und einzigen Sieg von Nigel Short im Match. Der Engländer hat Weiß und profitiert in der Sizilianischen Partie davon, dass Kasparow seine Chancen überschätzt und sich mehrere Fehler erlaubt. Nach einem schönen Springermanöver Shorts gibt Kasparow im 38. Zug auf. Endlich hat der Herausforderer eine sich bietende Gewinnmöglichkeit resolut und sehenswert genutzt. Das Publikum im Savoy Theater ist begeistert und spendet tosenden Beifall. Schade, dass Shorts Ehrentor so spät fällt. Der Engländer verkürzt auf 5,5:10,5.
Die „Times“, sie liegt täglich stoßweise am Eingang des Pressezentrums, feiert Shorts Sieg entsprechend. Im 17. Spiel reicht Nigels Vorteil nach einem Bauerngewinn nicht zum Gewinn, und nach drei weiteren Remispartien, in denen Kasparow zweimal die bessere Stellung besaß, liegt der Titelverteidiger uneinholbar in Führung. Nach 20 Spielen hat Kasparow am Ende vorzeitig mit 12,5:7,5 gewonnen. Er hat sechs Siege auf seinem Konto und 13 Remis zugelassen, Short hingegen hat nur einen Treffer erzielt. Er ist nach dem Matchverlauf etwas unter Wert geschlagen worden. Die „Times“ als Veranstalter möchte noch einen Showteil anhängen und damit einige zusätzliche Einnahmen generieren. Sie organisiert für die verbleibende Tage einen Zweikampf im Schnellschach über vier Partien, den Kasparow mit 4:0 für sich entscheidet. Außerdem werden noch drei thematische Partien gespielt, bei denen vorher die ersten vier Züge ausgelost wurden. Short gewinnt dieses Duell mit 2:1. Er hat in London furchtlos gekämpft und sich nicht versteckt. Am Ende kassiert Nigel immerhin drei Achtel des Preisgeldes. Noch nie zuvor hat ein englischer Schachspieler die stolze Summe von 650 000 Pfund Sterling gewonnen.
Wie immer gibt es im Verlauf einer Schachweltmeisterschaft unverhoffte Ereignisse. Am Donnerstag, dem 21. Oktober 1993, spielen Kasparow und Short ihre letzte WM-Partie. Plötzlich geht auf der Bühne der Sicherheitsvorhang herunter. Die Ursache: eine Bombendrohung. Spieler und Publikum werden aufgefordert, den Saal zu verlassen. Zum Glück stellt sich später alles als blinder Alarm heraus. „Irrtum eines Feuermelders“ heißt die lakonische Erklärung der Organisatoren.
Eine andere Anekdote steuert Garri Kasparow selbst bei. Der Weltmeister liebt es, nach aufreibenden Partien gegen Short abends mit seinen Sekundanten Alexander Beljawski und Zurab Asmaiparaschwili im Regent’s Park von London spazieren zu gehen. Was ihm beinahe zum Verhängnis wird. Bei diesen nächtlichen Streifzügen in der Nähe seines WM-Quartiers haben ihn zweimal Bobbys festgehalten und vernommen. Im Scheinwerferlicht einer Polizeilimousine wird Kasparow erst nach seiner Identität befragt. Auch nachdem die Beamten wissen, mit wem sie es zu tun haben, pochen sie auf das Gesetz. Eine uralte Verordnung aus dem 19. Jahrhundert untersagte es, nach Einbruch der Dunkelheit öffentliche Parks zu betreten. Kasparow kennt sie natürlich nicht und sieht keine Veranlassung, sich danach zu richten. Als er am nächsten Abend mit seiner Begleitung durch das letzte offene Tor hinauswill, wird er wieder von derselben Streife aufgegriffen und bekommt zu hören, dass er im Wiederholungfalle mit einer Verhaftung rechnen muss. Darauf lässt er es aber nicht ankommen. Die nette Geschichte macht ihre Runde in den Medien, und als Kasparow in der Pressekonferenz nach der 15. Partie gefragt wird, was er um Mitternacht tun werde, sagt er: „Ich gehe diesmal um den Park herum!“
So weit einige Impressionen von diesem WM-Match. Mit dem Blick von heute kommen natürlich einige nostalgische Gedanken auf. Vor dreißig Jahren spielten Kasparow und Short (wie auch Karpow und Timman in Holland) mit der guten alten Garde-Uhr. Bobby Fischers elektronische Neuerung hatte sich noch nicht durchgesetzt. Meine WM-Fotos waren aus Papier und noch nicht digital, die Berichte an dpa und Zeitungen wurden gefaxt und nicht per Mail verschickt. Die Liveübertragung der Partien steckte auch noch in den Kinderschuhen. Streifte man an einem spielfreien Tag durch London, konnte man vor dem Buckingham Palast noch Sherlock Holmes und Dr. Watson treffen. Wie es heute ist, weiß ich nicht. Seit dem Brexit haben die Briten vielleicht etwas von ihrem bekannten Humor verloren. Das letzte Mal war ich 2008 in London.
Der Autor mit Sherlock Holmes
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