Vor 30 Jahren: Zwei Schach-Weltmeisterschaften

von Dagobert Kohlmeyer
04.09.2023 – 1993 war in der Geschichte des Schachs ein besonders denkwürdiges Jahr. Short und Kasparov hatten die FIDE bei ihrem WM-Kampf ausgebootet und die FIDE organisierte nun mit ihren damaligen Präsidenten Campomanes einen Alternativ-Wettkampf um die Weltmeisterschaft mit Karpov und Timman. Diese stand aber unter keinem guten Stern. Schon bei der Eröffnungsfeier setzte die Pyrotechnik im Rücken von Zwolles Bürgermeister ein Banner in Flammen.

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Die Doppel-WM 1993: In Holland und England fielen Könige

1993 war ein besonderes Jahr in der Schachgeschichte, denn es erlebte einen heißen Herbst. Noch nie hatte es bis dahin zwei WM-Kämpfe zugleich gegeben. In den Niederlanden spielten Anatoli Karpow und Jan Timman um die Schachkrone der FIDE, zur Eröffnung am 4. September 1993 gab es einen spektakulären Knalleffekt. In England trugen Garri Kasparow und Nigel Short zeitgleich das WM-Match ihrer Professional Chess Association (PCA) aus. Karpow und Timman mussten in der zweiten Hälfte ihres WM-Duells noch nach Indonesien „umziehen“. Unser Autor Dagobert Kohlmeyer war vor drei Jahrzehnten als Augenzeuge an allen vier Schauplätzen in Europa dabei. Aus chronologischen Gründen erinnert er zuerst an das FIDE-Match.

Heiße Eröffnung

Der Auftakt zum FIDE-Match zwischen Karpow und Timman erfolgte in Zwolle, etwa 100 km nordwestlich von Amsterdam. Die lebhafte Hansestadt mit einem mittelalterlichen Zentrum ist ein Touristenmagnet und bekannt für ausgezeichnete Restaurants. Besucher können die sternförmige Gracht bei einer Bootsfahrt rund um die Altstadt erkunden. Zwolle bekam den Zuschlag als Austragungsort für die ersten drei WM-Partien, weil es kurzfristig einen Teil der nicht geringen Kosten für das Duell übernahm.

Der 4. September1993 ist ein schöner Samstag, die Eröffnungsfeier für 20 Uhr angesetzt. Viel Prominenz kommt zum Kultur- und Kongresszentrum in Zwolle, allen voran der damals 24-jährige Prinz Johan Friso von Oranien. FIDE-Präsident Florencio Campomanes und seine Chefetage sind da, ich lerne den WM-Schiedsrichter Dr. Lim Kok Ann aus Singapur kennen. Der 73-jährige Molekular-Biologe war bereits Hauptschiedsrichter bei der Schacholympiade in Manila. Er wird in den Niederlanden vom Berliner Horst Metzing assistiert. Der Geschäftsführer des Deutschen Schachbundes ist zum ersten Mal bei einer Schach-WM als Schiedsrichter eingesetzt. Geurt Gijssen - WM-Arbiter der Vorjahre - ist Matchdirektor. Der Holländer kann das Duell diesmal nicht leiten, weil sein Landsmann Jan Timman mit von der Partie ist. Aber er macht auch diesen Job wie immer exzellent. Das Publikum klatscht, als Prinz Friso als Erster den Saal betritt. Er wird von Karpow, Timman und Campomanes flankiert. Nach den Nationalhymnen der Niederlande und Russlands werden die unvermeidlichen Reden gehalten, dann erfolgt die Farbauslosung. Jan Timman erhält in der ersten Partie die weißen Figuren. Prinz Friso wird auf die Bühne gebeten und erklärt das Match für eröffnet.

In den tosenden Beifall wollen die Veranstalter noch eine besondere Attraktion mischen. Sie ‚enthüllen‘ ein Transparent mit den Namen der WM-Finalisten, aber nicht per Hand, sondern mit Hilfe der Pyrotechnik. „Timman – Karpow“ steht dort in großen Lettern. Die Buchstaben glimmen zuerst, was sehr schön aussieht, dann aber passiert Unerwartetes. Das Glühen verstärkt sich und wird zum Feuer. Schließlich brennt das ganze Transparent. Aus den Flammen steigen dunkle Qualmwolken empor- ein unerhörter Zwischenfall. Ich springe auf und halte das Bild mit der Kamera fest, s. Titelfoto.

Zwolles Bürgermeister Loek Hermans, der noch am Rednerpult steht, versucht die Ruhe zu bewahren, damit keine Panik ausbricht. Schnell fällt der Vorhang, die Feuerwehr tritt in Aktion. Waren hier „höhere Mächte“ im Spiel? Jemand hatte wohl etwas dagegen, das die Nachrücker Karpow und Timman, die ja schon aus dem WM-Rennen waren, um die Schachweltmeisterschaft spielen.

Jan Timman in Zwolle

Jan Timmans Heimspiel

Nach der Eröffnung ist noch Gelegenheit zu einem netten Gespräch mit Jan Timman. Er nimmt die Sache mit dem Bühnenfeuer nicht so tragisch. „Sie wollten eben etwas Originelles machen, aber nicht immer klappt alles im Leben.“ Die weißen Steine zum Auftakt wertet der Amsterdamer als gutes Omen. „Sicher wird unser Duell ein heißer Fight werden. Ich habe mich so gründlich wie noch nie zuvor auf ein Match vorbereitet. Mit Yasser Seirawan, Ulf Andersson und Jeroen Piket stehen sehr gute Sekundanten an meiner Seite. Wir haben uns einige Überraschungen ausgedacht.“ Als angenehm empfindet es Jan auch, dass die erste Matchhälfte in Holland ausgetragen wird, wobei ihm bei seinem „Heimspiel“           die Zuschauer aber am Brett nicht helfen können.

Zwei Tage später, am 6. September, ist es so weit. Schon eine halbe Stunde vor Spielbeginn ist der 700 Plätze fassende Saal gut gefüllt. Da die Bühne sehr hoch ist, wurde vor ihr für die Fotografen extra ein Podest errichtet. Karpow gewinnt das Auftaktspiel, eine Caro-Kann-Partie. Timman bringt mit 14.Sd2 eine Neuerung, worauf Karpow mehr als eine halbe Stunde nachdenkt. Der Russe findet eine gute Fortsetzung und kann später in ein günstiges Endspiel abwickeln, das er nach einem Fehler des Holländers im 41. Zug auch gewinnt. Ein Schock für Jan, der sich aber schon am nächsten Tag revanchieren kann. Timmans Sohn Artur hat an diesem Tag Geburtstag, und Jan verspricht seinem 11-Jährigen: „Ich habe heute zwar Schwarz, aber ich werde versuchen, etwas Gutes daraus zu machen.“

Die Zweite Partie

Und es gelingt. Karpow eröffnet mit 1.d4, und in der Damenindischen Verteidigung bringt Timman im Mittelspiel ein taktisches Springeropfer auf e5, das der vorsichtige Karpow nicht annimmt. Das Pferd steht einen Zug später auf d3 und lähmt die weiße Stellung. Karpow sieht sich gezwungen, seinen Te1 für den Springer zu geben. Timman öffnet später das Spiel und führt den technischen Teil der Partie sicher zum Sieg. Ausgleich! Die dritte Partie in Zwolle endet remis, dann ziehen die beiden WM-Finalisten beim Stand von 1,5:1,5 nach Arnheim um.

Station 2: Arnheim

Die Holländer freuen sich, nach den Matches zwischen Aljechin und Euwe wieder einen WM-Zweikampf auszurichten. Sie tun es wie 1935 und 1937 an verschiedenen Schauplätzen, um Schach im ganzen Land weiter populär zu machen. Arnheim liegt 60 km südlich von Zwolle. Etwa auf halbem Wege dazwischen in Apeldoorn wohnten bislang beide Delegationen. Karpow und sein Team bleiben auch für die nächsten Tage im dortigen Hotel „Keizerskroon“, Jan Timmans Mannschaft nimmt dagegen einen kleinen Ortswechsel vor. Gespielt wird jetzt im „Elektrum“ von Arnheim, einem Kongresszentrum, das direkt am Rhein liegt. Der Saal ist etwas kleiner als in Zwolle, aber dafür sind das Foyer mit zahlreichen Monitoren sowie das Restaurant größer, in dem Analysen für die Zuschauer angeboten werden.

Die Begeisterung der Kiebitze ist ähnlich wie zu Beginn des Zweikampfs in Zwolle. Dicht umlagert sind die Tische mit Schachliteratur, Spielmaterial und WM-Souvenirs. Die vierte Partie ist nicht besonders aufregend und endet schon nach 20 Zügen remis. Es verwundert nur, dass Karpow für die recht inhaltslosen Züge volle 105 Minuten Bedenkzeit verbrauchte. Im fünften Spiel überrascht Timman seinen Gegner mit 1.c4, und hat in der Englischen Partie die große Chance, mit 32.Sd4 den Gewinnweg einzuschlagen. Er sieht ihn leider nicht. Jans Team hat in der Vorbereitung ganze Arbeit geleistet. Man sieht die Großmeister Andersson, Seirawan und Piket fast täglich vor Ort, von Karpows Sekundanten Ron Henley, Wladimir Jepischin und Michail Podgajez fehlt oftmals jede Spur. Im sechsten Spiel, einem Damengambit, nutzt Karpow seine Möglichkeiten und gewinnt in großem Stil. Nach seiner bisher besten Leistung geht der Moskauer mit 3,5:2,5 in Führung. Schade für Jan Timman, der seine Chance, nicht ergriffen hat. Ein Kommentator sagt: „ Auch im Schach gilt: Wer keine Tore schießt, kassiert welche!“

Station 3: Amsterdam

Karpow und Timman verlassen die holländische Provinz und begeben sich in die City. Amsterdam ist eine Weltstadt mit Flair, die für jeden etwas zu bieten hat. Der Kulturfreund findet Kunstschätze, der umtriebige Geschäftsmann sein Business und der erlebnishungrige Tourist sein Nachtabenteuer. In der Hauptstadt sind sechs WM-Spiele angesetzt. Die Partien 7 und 8 geraten sehr kurz und enden mit Remis. Auch das neunte Spiel bringt eine Punkteteilung, aber erst nach großem Kampf. In der 10. Partie wählt Timman als Schwarzer zum ersten Mal Grünfeld-Indisch. Er bringt ein neues Läufermanöver, aber am Ende des fast siebenstündigen, verbissenen Kampfes spielt Karpow seine ganze Routine aus. Der dritte Sieg lässt ihn auf 6:4 davonziehen. Ist das schon eine gewisse Vorentscheidung?

Die zehnte Partie

Am nächsten Tag stehen die beiden Großmeister schon nach elf Zügen vom Tisch auf. Sie brauchten wohl eine Ruhepause. Oder hat das Kurzremis andere Gründe? Timman dementiert das später. Niemals würde er ein Partieergebnis vorher mit dem Gegner absprechen. Was die Zuschauer zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen, sickert an diesem Tag, es ist der 23. September 1993, im Amsterdamer Rathaus durch: das Sultanat Oman hat sich überraschend als Veranstalter der zweiten Matchhälfte zurückgezogen. Es fehlt angeblich das Geld. Die Nachricht schockiert die Schachwelt. Ich höre sie vor Ort zum ersten Mal von Horst Metzing. Nur wenige Eingeweihte wussten vorher Bescheid: FIDE-Präsident Campomanes, Organisationschef Hendrik van Buren und Hollands Schachpräsident Dick Tommel.

Organisator van Buren sagt mir am nächsten Tag: „Wir sind stutzig geworden, weil die Omanis nichts mehr von sich hören ließen und auch nicht, wie üblich, Flugtickets für den bevorstehenden Umzug der beiden Teams in ihr Land bereitgestellt haben. Auf unsere Nachfragen gab es lange keine offizielle Antwort.“

Ich spreche auch Campomanes an, der mich auf den darauffolgenden Tag verweist. Dann wolle er ein Statement abgeben. Es folgt tatsächlich 24 Stunden später. Als Hauptgründe für den Rückzug des arabischen Sultanats als Veranstalter werden die allgemeine wirtschaftliche Rezession und die zu kurze Vorbereitungszeit genannt. Keiner der Journalisten gibt sich mit dieser dürftigen Auskunft zufrieden. Während Karpow und Timman über ihrer 12. Partie sitzen, die mehr als sechs Stunden dauert und remis endet, stellt sich Campo schließlich auf Drängen der holländischen Veranstalter unseren Fragen. Die Pressekonferenz aber gerät zur Posse.

Florencio Campomanes in Amsterdam

Campomanes kann keine konkreten Auskünfte über die wahren Hintergründe der eingetretenen Pleite nennen. Im August hatte er noch mit einem Preisfonds von vier Millionen Schweizer Franken geprahlt, womit das Londoner Match Kasparow-Short übertroffen würde. Jetzt kann er die angeblich gegebene Garantieerklärung der Veranstalter nicht vorweisen. Als Optimist habe er den Versprechen der Omanis geglaubt, zwei Millionen auf den Tisch zu legen, sagt er gequält lächelnd. Er sei immer noch der Hoffnung, dass die zweite Matchhälfte gerettet werden könne. Am 2. Oktober werde die FIDE bekanntgeben, wie es mit ihrer Schach-WM 1993 weitergeht. Karpows Sekundant Ron Henley fragt den FIDE-Boss noch, ob sein Schützling bei einem Abbruch des Matchs auf Grund des jetzigen Gesamtstandes von 7:5 für ihn als neuer Weltmeister gekürt werde. Campomanes erwidert, dass könne er nicht allein entscheiden, sondern nur der FIDE-Kongress im November. Er möchte unbedingt eine Weiterführung des Wettkampfes. Einen zweiten WM-Abbruch wie im Februar 1985 in Moskau zwischen Karpow und Kasparow will er sich wohl nicht wieder vorwerfen lassen. Nach dem unerquicklichen Frage- und Antwortspiel spielt der FIDE-Chef im Pressraum erstmal ungerührt Blitzpartien, während sich jeder um ihn herum ernsthaft Gedanken macht, wie es nun wohl mit dem Match weitergeht.

Ich fliege erstmal nach Hause, weil sich kurzfristig kein neuer Ausrichter für die zweite Matchhälfte findet. Erst am 6. Oktober erfährt die Öffentlichkeit, dass Karpow und Timman Mitte Oktober im Hilton Hotel der indonesischen Hautstadt Djakarta ihr Duell fortsetzen werden. Sie müssen also fast um die ganze Welt fliegen, um ihren vierten Spielort zu erreichen. Ihr WM-Match zieht sich bis zum 1. November 1993 hin und sieht Karpow am Ende als 12,5:8,5-Sieger. Aber das ist schon wieder eine neue Geschichte. Ich bin inzwischen längst in London, um auch das WM-Spektakel zwischen Kasparow und Short live mitzuerleben.


Dagobert Kohlmeyer gehört zu den bekanntesten deutschen Schachreportern. Über 35 Jahre berichtet der Berliner bereits in Wort und Bild von Schacholympiaden, Weltmeisterschaften und hochkarätigen Turnieren.