11.08.2016 – Vor 70, beziehungsweise 71 Jahren fanden zwei legendäre Mannschafts-Fernschachwettkämpfe statt, in denen die besten Spieler der UdSSR gegen Auswahlmannschaften der USA und Englands antraten. Die Spieler beider Teams befanden sich dabei jedoch in ihren Ländern, trugen die Partien also über eine große Distanz aus. Übermittelt wurden die Züge bei diesen so genannten "Radio-Matches" mit Hilfe von Funk- oder Radiowellen. Ein Stück Schachgeschichte...
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Vor 70 Jahren:
Die Radio-Wettkämpfe UdSSR- USA und UdSSR-England
Wenn man an Fernschach denkt, so hat man meist solche Fernschachpartien vor Augen, bei denen die Züge mit Hilfe von Postkarten übermittelt wurde. Wegen der Postlaufzeit und den üblichen längeren Bedenkzeiten konnten Fernschachpartien recht lange dauern. So gewann die Mannschaft der DDR 1995 noch die Bronzemedaille bei der Fernschacholympiade als ihr Staat sich schon lange aufgelöst hatte. Heute wird das klassische Fernschach per email gespielt. Die Partien dauern nicht mehr so lange, aber die Spieler haben mehr Bedenkzeit zur Verfügung als beim Nahschach. Streng genommen ist auch das Internetschach "Fernschach", denn die Spieler sitzen sich ja nicht am Brett gegenüber. Das im Internet oft gespielte Bulletschach ist aber alles andere als langwierig.
Aber auch in der Vergangenheit gab es Fernschachwettkämpfe, bei denen die Züge auf anderem Wege als per Postkarte übermittelt wurden. So spielten Howard Staunton und Henry Thomas Buckle im April eine Partie, die per Telegraf übermittel wurde. Sie endete nach acht Stunden Dauer remis. Zwischen 1896 und 1911 fanden mehrere Fernschach-Wettkämpfe zwischen Mannschaften der USA und Englands statt, an denen auf beiden Seiten prominente Spieler jener Zeit teilnahmen, wie Blackburne, Burn, Pillsbury oder Marshall. Diese Wettkämpfe gingen als Cable-Matches in die Geschichte ein - die Züge wurden über die seit den 1860er Jahren verlegten Transatlantik-Telegrafenkabel übermittelt.
1886 hatte Heinrich Hertz elektromagnetischen Wellen entdeckt, auch Funk- oder Radiowellen genannt. 1895 wurden diese erstmals von Alexander Popow in St. Petersburg, 1897 auch von Guglielmo Marconi, zur drahtlosen Übermittlung von Nachrichten genutzt. 1920 gab es in den USA den ersten kommerziellen Hörfunksender auf Radiobasis und in Deutschland die erste Radioübertragung eines Konzerts. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieg wurde die Technik weiterentwickelt und zum Beispiel von den Nazis in Deutschland bekanntlich für ihre Zwecke intensiv genutzt.
In Europa endete der Zweite Weltkrieg offiziell am 8. Mai 1945. Der Krieg in Asien wurde noch fortgeführt, bis die USA am 6. August 1945 und am 9. August 1945 Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki warfen und damit auch Japan zur Kapitulation zwangen, unterschrieben am 2. September 1945. Nach sechs Jahren Krieg hatten die Großmächte USA, England, UdSSR, Frankreich und ihre Verbündeten den Sieg errungen.
Der Radiowettkampf UdSSR gegen USA
Vom 1. bis zum 4. September 1945 wurde zwischen den zu dieser Zeit noch befreundeten Nationen USA und UdSSR ein Schachwettkampf ausgetragen. Der Wettkampf erhielt dadurch eine besondere historische Bedeutung, weil es die erste große internationale Sportveranstaltung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg war. Zudem hatte es zuvor noch keinen Wettkampf, in welcher Sportart auch immer, zwischen Mannschaften der USA und der UdSSR gegeben
An zehn Brettern trafen die jeweils besten Spieler der beiden Länder aufeinander und trugen je zwei Partien gegeneinander aus. Die Spieler der beiden Mannschaften saßen sich jedoch nicht unmittelbar gegenüber, sondern befanden sich in den jeweiligen Metropolen ihres Landes, die sowjetische Mannschaft in Moskau, die US-Mannschaft im 7500 km entfernten New York. Die Züge wurden den Gegnern mit Hilfe der Radiotechnik übermittelt. Zur Aufzeichnung verwendete man den noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden "Udemann-Code" (oder Gringmuth Notation), bei dem die Felder eindeutige Buchstabenbezeichnungen haben. Im Verlauf des Wettkampfes zwischen der USA und der UdSSR wurden dann insgesamt 2.163 Nachrichten übermittelt.
Die Übertragungszeit, im Internetschach nennen wir das heute "Lag", für einen Zug betrug fünf Minuten. Im Übrigen wurde aber nach den üblichen Nahschachregeln gespielt.
Nach der Russischen Revolution hatte sich die kommunistische Sowjetunion von der übrigen Welt abgeschottet und isoliert. Dies galt auch für das Schach. 1925, 1935 und 1936 gab es in Moskau große internationale Turniere, bei der die sowjetische Elite sich aber noch nicht so in Szene setzten konnte, dass die kommende sowjetische Dominanz zu ahnen gewesen wäre, auch wenn Flohr und Botwinnik im Turnier von 1935 vor Lasker und Capablanca siegten. Botwinniks Verhandlungen über einen WM-Kampf mit Alexander Aljechin wurden durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen.
Erst 1948 konnte der sowjetische Spitzenspieler den Weltmeistertitel in die Sowjetunion entführen, wo er dann mit einer Unterbrechung (1972-1975) bis 2007 in sowjetischen beziehungsweise später russischen Händen blieb. Die US-Mannschaft hingegen hatte bei den Schacholympiaden 1931, 1933, 1935 und 1937 jeweils die Goldmedaille gewonnen - 1939 nahm sie aus finanziellen Gründen nicht teil. Sowjetische Mannschaften waren bei den Schacholympiaden vor dem zweiten Weltkrieg nicht vertreten, da die Sowjetunion noch nicht Mitglied der FIDE war. Es gab keinerlei Vergleiche.
Für die US-Öffentlichkeit war das eigene Team also klarer Favorit. Von der Spielstärke der im Westen zumeist unbekannten sowjetischen Spieler wusste man überhaupt nichts.
Als Ersatzspieler waren benannt: Kevitz, Willman, Levin, Shainswit, Adams, Ed. Lasker, Reinfeld, Jackson, Jr., Factor und C. Stark
Der Wettkampf sorgte in beiden Ländern für eine gewaltige öffentliche Aufmerksamkeit. In New York hatte sich die US-Mannschaft in den großen Ballsaal des Henry Hudson Hotels begeben und saß dort an ihren Brettern. Etwa 1000 Zuschauer waren gekommen, um dem Spektakel beizuwohnen. New Yorks Bürgermeister Fiorello LaGuardia eröffnete den Wettkampf mit dem symbolischen ersten Zug. Der langjährige Geschäftsführer des US-Schachverbandes Kenneth Harkness, vielfacher Organisator und zudem Herausgeber von Chess Revue (später Chess Life), übernahm die Aufgabe des Turnierdirektors. Die Meister Fred Reinfeld und Edward Lasker übermittelten die Züge an die Zuschauer.
Zuschauer in New York
In Moskau spielte die sowjetische Mannschaft im "Zentralklub der Masters of Arts". Die USA wurden dort durch ihren Botschafter Averill Harriman vertreten. Die Anzahl der Zuschauer vor Ort war ähnlich hoch wie in New York. Später zeigte man in allen Kinos in der Sowjetunion einen Filmbericht von dem Wettkampf.
Das Ergebnis des Wettkampfes war für die US-Spieler und die US-Öffentlichkeit ausgesprochen ernüchternd und dokumentierte auf drastische Weise den Wechsel der Kräfteverhältnisse im Weltschach.
Die Sowjetmannschaft gewann den ersten Umgang mit 8:2. Am zweiten Wettkampftag, dem 2. September, erklärte US-Präsident Truman offiziell den Sieg über Japan ("V-J day", Victory over Japan day) . Der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Die Sowjetmannschaft gewann den zweiten Umgang mit 7,5:2,5. Gesamtergebnis: 15,5:4,5 für das Sowjetteam. Herman Steiner war der einzige Spieler, der ein positives Ergebnis erzielen konnte, gegen Igor Bondarevsky. Er und Israel Albert Horowitz, gegen Salo Flohr, waren die einzigen US-Spieler, die überhaupt eine Partie gewinnen konnten.
S= Sieg für den Sowjetspieler
A= Sieg für den US-Spieler
D= Remis
Quelle: Wikipedia
Garry Kasparov hat für die Mega Database die 1. Partie zwischen Denker und Botvinnik kommentiert:
Alle Partien des Matches:
Der Radio-Wettkampf UdSSR gegen England
Im nächsten Jahr kam es zu einer Neuauflage eines solchen Fern-Wettkampfe per Radioübertragung, diesmal zwischen der UdSSR und England. Die Initiative dazu war von den englischen Schachfreunden ausgegangen. Im Unterschied zu den US-Spielern waren die Engländer nach dem Desaster für das US-Team im Vorjahr gewarnt und sich der Spielstärke der Sowjet-Großmeister bewusst. Umgekehrt war es für die Sowjet-Großmeister schwieriger sich vorzubereiten, weil einige der englischen Meister einige Jahre keine Turnierpartien mehr gespielt hatten, wie Viatcheslav Ragozin in einem Bericht über den Wettkampf schrieb, der 1946 in "Le Monde des Echecs” erschien und vor einigen Jahren in englischer Übersetzung beim ICCF (s.u.) veröffentlicht wurde.
Bilder: Chessgraphics
Zusätzlich zu den zehn Brettern mit den besten Männern der beiden Länder gab es diesmal auch zwei Frauenbretter. Eileen Tranmer und Rowena Bruce vertraten die englischen Farben und trafen auf die Sowjetspielerinnen Ludmilla Rudenko, später die zweite Schachweltmeisterin der Geschichte, und Valentina Borisenko-Belova, die 1945 die Sowjetische Frauen-Meisterschaft gewonnen hatte und diesen Erfolg später noch viermal wiederholen konnte.
Neben dem Schach hatten die beiden Engländerinnen Eileen Tranmer und Rowena Bruce auch auch gemeinsame musikalische Interessen. Bruce hatte Cello gelernt und Tranmeer spielte als erste Klarinettistin in einem Orchester.
Das Match fand am 19. und 10. Juni 1946 statt und hatte auf englischer Seite mit den Firmen Greyhound Racing Association und Cable &Wireless sogar zwei finanzstarke Sponsoren. Die englische Mannschaft spielte den Wettkampf aus den Londoner Gambit Chess Rooms heraus, einem ehrwürdigen Schachclub, 1898 eröffnet und 1958 geschlossen.
Am Vortage des Wettkampfes hatten G. Wood und J. Stone auf englischer Seite in Übungspartien gegen A. Konstantinopolsky and V. Alatortsev auf sowjetischer Seite die Übertragungstechnik getestet. Der Wettkampf wurde auf englischer Seite von Sir George Thomas geleitet. Zur Eröffnung war unter anderem der damalige Lord Mayor of London Sir Charles Davis erschienen und führte den symbolischen ersten Zug des Wettkampfes aus.
Foto: Chessgraphics
Den Raum hatte man mit englischen und sowjetischen Fahnen geschmückt. Für die Zuschauer wurden 12 große Demonstrationsbretter aufgebaut, auf die man die Partien übertrug. Die Technik scheint bei diesem Wettkampf noch etwas weniger flüssig funktioniert zu haben als beim Wettkampf zwischen der UdSSR und der USA im Vorjahr, denn Ragozin berichtete, dass eine Partie zwischen Flohr und Firehurst wegen der langen Übertragungswege alles in allem 22 Stunden gedauert hätte, also über zwei Tage ging, wobei allerdings auch die Eingabe und Entgegennahme der Züge schon so viel Zeit in Anspruch nahm, dass eine Vierstunden-Partie bereits acht Stunden dauerte.
Eingabe der Züge im Udeman-Code (Foto: Chessgraphics)
Das Ergebnis des Wettkampfes fiel fiel am Ende ähnlich hoch zugunsten der UdSSR aus wie der Wettkampf im Vorjahr zwischen der UdSSR und den USA.
Gesamtergebnis: 18:6 für das UdSSR-Team
Mikhail Botvinnik hat hinterher seine Gewinnpartie gegen CHO'D Alexander kommentiert (Quelle: Mega Database):
Botwinnik-Alexander
Die zweite Partie gegen Alexander hat Botwinnik allerdings zur allgemeinen Überraschung verloren. Diese Partie hat der kommende Weltmeister nicht kommentiert. Dies hat dann später Lubomir Ftachnik erledigt (Quelle: Mega Database):
Alexander-Botvinnik
Ragozin erklärte Botvinniks Fehler und Niederlage mit fehlender Spielpraxis. Seit der UdSSR-Landesmeisterschaft 1945 hatte Botvinnik keine Partie gespielt.
Alle Partien des Wettkampfes:
Später veröffentlichten William Winter und Ernst Ludwig Klein, die beide auf englischer Seite mitgespielt haben, ein Buch über diesen Wettkampf. Klein stammte aus Österreich und war 1930 nach England emigriert. Im WM-Kampf zwischen Euwe und Aljechin, 1935, war er einer der Sekundanten von Aljechin., Winter, ein Neffe des Peter Pan-Autors Sir James Matthew Barrie, war Bohemien und überzeugter Kommunist und verbrachte wegen seiner politischen Aktivitäten einmal sechs Monate im Gefängnis.
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