Turin tanzt, wählt, spielt
Von Dagobert Kohlmeyer
Vor dem zweiten Ruhetag in Turin gab es eine lange Nacht. Es war keine
gewöhnliche, sondern die traditionelle Bermudanacht, bei der die Schachjugend
der Welt nach Herzenslust abtanzen konnte. Vier DJs, drei Bars, zwei
Tanzflächen, eine Nacht – junges Herz was willst du mehr! Spielerinnen hatten
freien Eintritt und waren deshalb in der Überzahl.
Die Figuren werden am heutigen Donnerstag im Oval Lingotto nicht
bewegt, aber das heißt nicht, dass keine Kämpfe stattfinden. Zwei Fights sind in
diesen letzten Tagen der Schacholympiade von besonderem Interesse: der Kampf um
den Sessel des FIDE-Präsidenten und das Rennen um die Austragung der Olympiade
2010.
Beginnen wir bei der Präsidentenwahl und reden mit dem
Amtsinhaber, der seit November 1995 die Geschicke des Weltschachbundes leitet.
"Nicht zum Teufel gehen, auf
Schach aufmerksam machen!“
Interview mit FIDE-Präsident Kirsan Iljumschinow
Kirsan
Nikolajewitsch, Sie sind schon zehneinhalb Jahre lang FIDE-Präsident. Wie fällt
vor den Wahlen in Turin das Resümee Ihrer eigenen Arbeit aus?
Ich denke, dass wir in diesem Zeitraum die Stabilität der FIDE
wieder hergestellt haben. Als ich das Amt Ende 1995 übernahm, war der
Weltschachbund handlungsunfähig sowie bankrott. Trotz der schwierigen Situation
haben wir in den vergangenen zehn Jahren alle wichtigen Turniere durchgeführt.
Nicht alle,
Herr Präsident!
Ich meine die Schacholympiaden und die
Knockout-Weltmeisterschaften. Auch die Frauenweltmeisterschaften fanden statt.
Ich habe, wie Sie wissen, dafür gesorgt, dass viele Millionen Dollar ins Schach
geflossen sind, um alle diese Wettbewerbe zu ermöglichen. Und Schach ist
inzwischen vom IOC längst als Sport anerkannt worden.
Ist die
finanzielle Schieflage der FIDE jetzt überwunden?
Als ich seinerzeit antrat, hatte der Verband ein großes Minus auf
dem Konto. Heute verfügt die FIDE über ein Guthaben von etwa einer Million
Dollar. Auf dieser Grundlage lässt sich weiterarbeiten.
Wofür wird das
eingenommene Geld verwendet?
Vor allem für die Entwicklung und Verbreitung des Schachs in der
dritten Welt. In vielen Ländern werden neue Schachschulen eröffnet, um möglichst
vielen Menschen den Zugang zu unserem Spiel zu ermöglichen.
FIDE-Führung
Welches
Projekt ist derzeit bei Ihnen Chefsache?
Als meine Hauptaufgabe betrachte ich im Moment die Durchführung
des WM-Vereinigungsmatchs zwischen Weselin Topalow und Wladimir Kramnik in
Elista. Es findet von Ende September bis Mitte Oktober statt. Sie sind herzlich
eingeladen. Schauen Sie sich an, wie sich Kalmückien in den letzten Jahren
verändert hat!
Vielen Dank
für die Einladung! - Mit Bessel Kok haben Sie diesmal einen echten
Herausforderer im Kampf um das Präsidentenamt der FIDE. Wie schätzen Sie Ihren
Rivalen ein?
Es ist gut, so einen Konkurrenten zu haben. Ich begrüße das. Auch
wenn er den Kompromissvorschlag nicht angenommen hat, mit uns zu arbeiten, kann
man mit diesem Mann reden. Wir treffen uns hier häufig und diskutieren, auch
unsere Meinungsverschiedenheiten.
Bessel Kok
könnte bei der Wahl an der Tatsache scheitern, dass er kein Programm für die
Entwicklung des Schachs in der dritten Welt hat. Das werfen ihm seine Kritiker
jedenfalls vor.
Berik Balgabaev, Ilyumshinovs
Sekretär auch auf Krücken immer zur Stelle
Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Sein Team ist vor allem auf die
Top-Spieler ausgerichtet. Aber die FIDE arbeitet nicht nur für die ersten 20 der
Weltrangliste, sondern für die vielen Spielerinnen und Spieler aus 160 Ländern
der Erde, die unzähligen Freunde des Schachs. Wir müssen nicht nur für die
Supergroßmeister da sein, sondern auch für diejenigen, die auf Straße, Plätzen
und in Parks spielen.
Sollten Sie
Bessel Kok dennoch bei der Wahl unterliegen, findet dann das Match in Elista
überhaupt statt?
Ich rechne eigentlich mit meinem Sieg. Aber im Leben ist vieles
möglich. Trotzdem: Das Duell Kramnik – Topalow findet in jedem Falle statt.
Schach ist meine Liebe, mein Hobby und mein Leben. Dafür habe ich in der
Vergangenheit alle Kraft gegeben und werde dies auch künftig tun.
Topalow war
zuerst nicht bereit, gegen Kramnik zu spielen. Jetzt tut er es. Haben Sie ihn
mit einem finanziellen Argument überzeugt?
Als Titelträger des Weltverbandes will er die FIDE unterstützen.
Und eine Million Dollar Preisgeld ist, wenn Sie das meinen, doch kein schlechtes
Argument.
Welche
Sponsoren haben Sie für das WM-Duell in Elista?
Da gibt es die Erdölfirma Intera, das sind Amerikaner, einige
russische Banken und noch andere. Das Geld ist sicher, wir haben genug
Unternehmen, die den Wettkampf unterstützen. Ich bin überzeugt davon, das Match
wird interessant.
Sie sind dafür
bekannt, spektakuläre Dinge zu tun. Ich erinnere nur an Ihr unglaubliches
Vorhaben, 1996 das WM-Finale Karpow - Kamsky bei Saddam Hussein in Bagdad
durchzuführen. Damals fragte ich Sie, ob sie dem Teufel Ihre Seele verkaufen
wollen. Sind in nächster Zeit noch ähnliche Aktionen von Ihnen zu erwarten?
Nein. Ich wollte damals nur eines erreichen: Aufsehen erregen.
Damit die Welt noch mehr auf Schach aufmerksam wird. Ansonsten sollte sich das
Schach aus der Politik heraushalten. Es ist ein friedliches Spiel, das die
Menschen einander näher bringt. Wenn man am Brett miteinander wetteifert,
sollten politische Dinge ausgeklammert werden.
Sie sind im
Hauptberuf Staatspräsident von Kalmückien. Wie lange wollen Sie dieses Amt noch
ausführen?
Ich bin erst im vergangenen Jahr für eine weitere Amtszeit von
fünf Jahren bestätigt worden, also bis 2010.
Was folgt
danach?
Dann werde ich nur noch Schach spielen (lacht).
Hier in Turin
entscheidet der FIDE-Kongress auch über die Vergabe der Schacholympiade 2010.
Wer bewirbt sich alles?
Es sind sechs an der Zahl, so viele wie noch nie. Die
Mitgliedsländer haben gemerkt, wie attraktiv es ist, so eine große
Sportveranstaltung auszurichten. Früher war die Anzahl der Bewerber sehr gering.
Diesmal bewerben sich Polen, Estland, Lettland, Montenegro, Argentinien und
Sibirien. Das ist ein echter und spannender Wettbewerb, genau so wie sich viele
um die Austragung der nächsten Weltmeisterschaften bemühen.
Danke für das
Gespräch!
Mit Bessel Kok zu reden, ergab sich für uns keine Gelegenheit.
Aber der Herausforderer Iljumschinows hat seine Meinung vor der Abstimmung schon
bei etlichen Gelegenheiten kundgetan, unter anderem im Gespräch mit Yasser
Seirawan für ChessBaseNews. Nach wie vor rechnet sich der Holländer Chancen aus,
obwohl viel weniger Verbände seiner Kampagne „The Right Move“ ihre Unterstützung
zu geben scheinen als dem amtierenden FIDE-Boss.
Olena Boytzun macht Werbung für Bessel Kok
Auf Iljumschinows Website werden über 80 Mitgliedsländer
aufgelistet, die Kok-Seite kommt nur auf etwa 45. Dennoch ist für den ehemaligen
SWIFT-Manager die Wahl noch nicht gelaufen. Er verweist auf einen Unterschied
zwischen den beiden Listen. Iljumschinow nenne mehr Länder, als er sicher hat,
Right Move nenne weniger. Kok veröffentlicht nach seinen Worten nur die, die ihn
offiziell unterstützen. Es gebe einige Verbände, die nicht öffentlich gemacht
werden wollen, aber gesagt haben, er habe ihre Stimme 100prozentig sicher. Ein
paar dieser Länder stünden auch auf Iljumschinows Liste, zum Beispiel sämtliche
arabischen Staaten. Zwei (Tunesien und Palästina) sollen daraufhin protestiert
haben und von der Liste des kalmückischen Präsidenten genommen worden sein.
Bessel Kok äußerte sich auch zu der von ChessBaseNews
aufgeworfenen Frage, ob das Prinzip „ein Land eine Stimme“ den
Kräfteverhältnissen in der Schachwelt entspreche und demokratisch sei und
erklärte, er finde ein Land, eine Stimme in Ordnung. Zwar verstehe er die Kritik
und die Frustration der großen Länder, „aber nach welchem Kriterium soll man
dann vorgehen?“
Hart in der Polemik, aber locker im Umgang miteinander zeigten
sich beide Kontrahenten bei einer Präsentation Kalmückiens. Kirsan Iljumschinow
fuhr wie bei jedem großen Schachfest seine schärfste Waffe, die Folklore seines
Landes, auf.
Tanzen und singen für den Präsidenten war angesagt. Bessel Kok
sah sich die Sache mit Vergnügen an, auch die Fotos von Iljumschinows
Steppenreich.
Bald werden wir
wissen, wer der neue (bzw. alte) FIDE-Präsident ist.
Interessant verläuft hier in Turin auch der Kampf um die
Ausrichtung der Schacholympiade 2010. Dirk Jordan und sein Dresdner Team können
sich an ihrem Stand in Turin entspannt zurücklehnen. Sie machten vor zwei Jahren
in Calvia das Rennen um 2008 und stachen den Mitbewerber Tallinn in überlegener
Manier aus.
Dresdener Stand in Turin mit Schlya und Metzing)
Nun geht es für Poznan, Budva, Riga, die Region Khanty Mansisk in
Sibirien und die anderen Bewerber um alles. Sämtliche Kandidaten geben sich hier
große Mühe mit ihren Präsentationen, wobei jeder natürlich versucht, seine
Stärken hervorzuheben. Die Stadt Budva in Montenegro macht zum Beispiel auch das
spektakuläre Angebot, einen Preisfonds von 250 000 Dollar für 2010 zu stiften.
Das wäre erstmalig in der Geschichte der Schacholympiaden, weil in den
Regularien der FIDE überhaupt nicht vorgesehen. Einen argentinischen Stand (San
Luis) haben wir hier im Oval Lingotto nicht gesichtet. Wir vermuten stark, dass
die Südamerikaner ihre Offerte zurückgezogen haben.
Gute Werbung für Posen
Werbung für Sibirien
In der Gewalt des russischen Bären
Bilder von der
Bermuda-Party
Von Carsten Straub
Levon Aronian hat den Blues und lässt sich von Lilit Mkrtchian
bewundern
Gata Kamsy und Irina Krush, russische Amerikaner, schauen
sich in die Augen
Frau Kasimdzhanov (re), in der Mitte Igor Cheparinov
Andrea Natoli: "Eh, kommse du meine Arme!"
Alexander Rustemov und Anne Sharevich mit Blickkontakt
I say: "Yeah, yeah!"
"Oh yeah!"
Yeah, yeah, yeah...
Dresdner Präsenz
Goletiani und Lomineishvili
FIDE-Delegierte bewundern die Jugend
Nigel Freeman von den Bemudas in Folklore
Frits Agtenderbos zeigt Bianca Muhren seine Fotos.